RE:Boëthius 3
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Anicius Manlius Severinus, Sohn v. Nr. 2, Schriftsteller | |||
Band III,1 (1897) S. 596 (IA)–600 (IA) | |||
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3) Anicius Manlius Severinus Boëthius (junior: über den Namen vgl. de Rossi Inscr. Christ. I p. 443 und Usener Anecd. Hold. 43; dazu auch O. Jahn Ber. d. Sächs. Ges. 1851, 327ff. 354f.), Sohn des Consuls vom J. 487 (Nr. 2), nach dessen Tode er, wie es scheint, von Symmachus aufgenommen und erzogen wurde (phil. consol. II 3), dessen Tochter Rusticiana (s. d.) er dann heiratete. Seine Geburt fällt wahrscheinlich in das J. 480 oder eines der nächstfolgenden Jahre (Usener a. a. O. 40). Schon im J. 507 war er durch seine gelehrten Studien bekannt, war schon Patricius und wurde zu verschiedenen Specialmissionen, die im Bereiche seiner Studien lagen, von Theoderich verwendet (Cassiod. Var. I 10. 45. II 40). Welches höhere Amt ihm vor Bekleidung des Consulates im J. 510 übertragen worden, lässt sich nicht ausmachen; das Consulat hat er, wenn man in Betracht zieht, einer wie vornehmen Familie er angehörte, keineswegs besonders frühe übernommen (vgl. Mommsen im Index der Cassiodorausgahe s. v.). Er gehörte eben, wohl mehr infolge seiner Lebensstellung und Familientradition als infolge irgend welcher politischer Thaten jener Gruppe von specifisch römischen Granden an, welche widerwillig die Barbarenherrschaft ertrug und auf Rettung von Constantinopel hoffte. Indes wurde dieser gegen die Ostgothen bestehende Gegensatz erst seit dem Regierungsantritte Kaiser Iustins auch von Constantinopel her eifriger geschürt, natürlich doch ohne dass man vollständig Farbe bekannt hätte. In dieser Zeit (522) war es, dass seine beiden Söhne, die noch Knaben waren, offenbar zur Auszeichnung für den Vater, gemeinsam zu Consuln erhoben wurden und B. dafür dem Theoderich im Senate eine feierliche Lobrede hielt (phil. cons. II 3. Anecd. Hold.). Es gehörte zum Charakter dieser Opposition, dass sie [597] sich nicht gerne stark exponierte, und wenn wir dem Ennodius glauben können an der einzigen Stelle, an der er, freilich in der Erbitterung über eine abgeschlagene Bitte, nicht schmeichelt, muss dies auch dem Charakter des B. entsprochen haben (Ennod. 339 = carm. 2, 132 vgl. mit Maximian. eleg. 3, 47ff. bei Βaehrens Poet. Lat. min. V 334ff.; dazu 370, 3 = ep. 8, 1. 271 = ep. 6, 6. 413. 415. 418 = ep. 8, 36. 37. 40. 452, 21 = op. 6). Immerhin mag sich B. mit Recht gerühmt haben, dass er oft hohen Beamten, wie dem Conigast und dem Triwila, entgegengetreten und Private oder ganze Provinzen durch seine persönlichen Bemühungen vor Schädigung und Bedrückung, namentlich in finanzieller Beziehung, geschützt hat; waren doch solche Bemühungen durchaus in Theoderichs eigenem Sinne (phil. cons. I 4). So setzte er sich auch für den Consular Paulinus und als Magister officiorum für den vom Referendar Cyprianus beim Könige wegen hochverräterischer Beziehungen zu Byzanz angeklagten Consular Albinus ein, indem er in Verona vor dem Könige die Beschuldigung als falsch bezeichnete und zu sagen wagte, so gut wie Albinus sei auch er selbst und der ganze Senat schuldig. Nun dehnte Cyprianus in Verbindung mit Basilius, Gaudentius und Opilio, die auf diese Weise das Vertrauen des Königs wiedergewinnen wollten, die Anklage auch auf B. aus. Er wurde angeklagt, dass er libertatem Romanam, d. h. die Befreiung von der Gothenherrschaft, angestrebt habe, und zugleich des sacrilegium, was man aus seiner Beschäftigung mit Astrologie hat erklären wollen. Er wurde in Haft genommen und nach Pavia gebracht. Ungehört wurde er von dem gegen die Senatoren erbitterten Könige verurteilt. Möglich sogar, dass der Senat bei der Verurteilung mitgewirkt hat. Er scheint längere Zeit in der Haft zugebracht zu haben, bis es Theoderich beliebte, ihn in agro Calventiano wohl noch im J. 524 in grausamer Weise hinrichten zu lassen. Seine Güter wurden confisciert (phil. cons. I 4. Anon. Vales. 14, 85ff. und Ital. Chron. z. J. 523. Mar. Avent. z. J. 524. L. pontif. v. Iohann. I 5. Prokop. Goth. I 1 p. 11f. B.). Vgl. ausser der unten angeführten Litteratur namentlich Μanso Gesch. des ostgoth. Reiches (1824) 158ff. Dahn Könige der Germanen, II 172f. Usener Anecdoton Holderi 37ff. Hodgkin Italy and her invaders III (1885), 522ff.
Als der wichtigste Teil der wissenschaftlichen Werke des B. scheinen seinen Zeitgenossen neben den philosophischen die mathematischen Abhandlungen gegolten zu haben, durch welche er, wie sie meinten, die klassischen Autoren erreichte oder übertraf (Cassiodor im Anecdoton Holderi). Unzweifelhaft von ihm rühren die zwei Bücher de institutione arithmetica her, die uns vollständig erhalten und dem Symmachus zugeeignet sind. B. gesteht selbst zu, dass er in diesen seinen primitiae nichts Originelles geschaffen, sondern sich vollständig an Nikomachos angeschlossen hat; gelegentlich erlaubte er sich Abkürzungen oder Erklärungen seiner Vorlage, aber auch diese Redactionsthätigkeit ist ihm nach dem Ausspruche moderner Mathematiker nicht vollständig geglückt. Unbezweifelt sind auch die nach der Arithmetik (aber wohl noch vor 510, vgl. Usener a. a. O. 40. 47) geschriebenen fünf [598] Bücher de institutione musica; auch in diesem Werke erscheint B. ‚nicht in productiver Kraft, sondern als ein Sammler und sorgfältiger Beurteiler des vorhandenen Materials, welches er aus den griechischen Quellen mit emsiger Sichtung des Stoffes zog‘. Er kennt die Theorien der Pythagoraeer und Aristoxeneer, namentlich des Claudius Ptolemaeus[1], und sein Werk ist für die Kenntnisse des Mittelalters von der antiken Musiktheorie von der grössten Bedeutung gewesen (vgl. Osc. Paul Boetius und die griechische Harmonik. Des B. fünf Bücher über die Musik. Übertragen und sachlich erklärt, Leipzig 1872). Zum quadruvium der mathematischen Wissenschaften gehören nach B. und anderen antiken Theoretikern ausser Arithmetik und Musik noch Geometrie und Astronomie. Es ist nun (ausser der sog. demonstratio artis geometricae, die in alten Ausgaben unter den Werken des B. abgedruckt ist), eine Geometria Euclidis a Boetio in latinum lucidius translata in den Hss. des 11. und 12. Jhdts. in verschiedenen Fassungen, in zwei oder in mehr Bücher eingeteilt, erhalten, deren Autor sich als B. ausgiebt; die Schrift lehnt sich hauptsächlich an Euclid an und schiebt eine Besprechung des abacus nach Architas ein, die jedoch in einer wichtigen Hs. fehlt. Obwohl (nach Cassiod. Var. I 45, 4) als sicher angenommen werden kann, dass B. auch eine Geometrie geschrieben hat, und obwohl diese Schrift schon frühe dem B. zugeschrieben worden ist, ist es doch zweifelhaft, ob uns die Hss. die echte Schrift des B. oder, wie aus sachlichen und sprachlichen Gründen behauptet worden ist, eine interpolierte Version oder gar nur das Machwerk eines praktischen Feldmessers aus dem 9. oder 10. Jhdt., der sich einer alten Feldmesserübersetzung des Euklid bediente, erhalten haben. Die Frage ist für die Geschichte der Mathematik überhaupt und insbesondere für die Geschichte der sog. arabischen Ziffern von Wichtigkeit. Nach Cassiod. a. a. O. hat B. auch eine Astronomie nach Ptolemaeus geschrieben, die uns aber nicht erhalten zu sein scheint. Ausser diesem quadruvium ist an derselben Stelle auch von einer Mechanik nach Archimedes die Rede. Neue Ausgabe der mathematischen Schriften von G. Friedlein Leipzig 1867. Hauptsächliche Litteratur: M. Cantor Mathem. Beiträge zum Kulturleben der Völker (1863) 184ff. und Vorlesungen über Gesch. der Mathematik I 485ff.; ferner Friedlein Jahrb. f. Philol. LXXXVII 1863, 425ff. Weissenborn Ztschr. f. Mathem. u. Physik, Suppl.-Heft (hist.-lit. Abt.) XXIV 190ff,; Leipziger Studien 1879 und die von diesen citierten Aufsätze.
In philosophischer Beziehung hatte sich B. die Aufgabe gestellt, Plato und Aristoteles zu übersetzen, ihre Lehren zu commentieren und in Concordanz zu bringen (περὶ ἑρμην. II 2, 3 p. 79 Μ.). Auch mit der philosophischen Schriftstellerei hat [599] er in verhältnismässig jungen Jahren begonnen (Cassiod. Var. I 45, 4), und zum mindesten ein grosser Teil seiner philosophischen Schriften ist uns noch erhalten. Es sind dies: Übersetzung und Commentare zu Aristoteles περὶ ἑρμηνείας, bestehend aus einer prima (elementaren) editio in zwei, einer secunda (wissenschaftlichen) editio in sechs Büchern; Usener hat bemerkt (a. a. O. 40. 46 und DLZ 1880, 370), dass die Entstehungszeit der letzteren in die J. 507–509 fallen muss (nach p. 184. 189 M. und l. VI praef.), B. ist hier, wie Usener bemerkt, von Porphyrius und Syrianus abhängig (selbständige Ausgabe dieses Werkes von Meiser Leipzig 1877. 1880). Commentar zu den κατηγορίαι des Aristoteles in vier Büchern, geschrieben im Consulatsjahre des B. (510, vgl. 1. II praef.). Dieser Schrift gehen zeitlich und methodisch voran die zwei dialogi in Porphyrium a Victorino translatum und die fünf Bücher commentaria in Porphyrium a se translatum. Erklärungen zu den Ἀναλυτικά, sowohl πρότερα als ὕστερα, des Aristoteles in je zwei Büchern; zu des Aristoteles περὶ σοφιστικῶν ἐλέγχων zwei Bücher; ferner acht Bücher Τοπικά ebenfalls nach Aristoteles und sechs Bücher Commentare zu Ciceros Topica (abgedruckt in der Ciceroausgabe von Orelli V). Als selbständige Schriften geben sich: De categoricis syllogismis libri II und introductio ad syllogismos categoricos; ferner de syllogismo hypothetico l. II (nur aus griechischen Quellen); liber de divisione; de differentiis topicis l. IV. Auch diese umfassende Betriebsamkeit des B. auf philosophischem Gebiete kann nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, so sehr sie auch den Zeitgenossen imponierte und so wichtig sie auch für die folgenden Jahrhunderte geworden ist. K. Prantl Gesch. der Logik im Abendlande I (1855) 681 fällt über sie ein vernichtendes Urteil, indem er B. ‚neben Marcianus Capella und Cassiodorus als die hauptsächliche Brücke zu dem Unverstande der mittelalterlichen Logik‘ bezeichnet, da er ‚eben doch nur auf dem unphilosophischen und formalen Schulstandpunkte seiner Zeit steht‘; das ‚Motiv der Dressur ist überhaupt bei B. bei weitem das überwiegende‘; wie in den mathematischen Schriften ist auch hier sein Bestreben die angeblich ‚verworrene‘ Darstellung seiner grösseren Vorgänger ‚in das Gewöhnliche und Verständliche‘ umzusetzen. Die Gattung ist ihm etwas Reales und geht dem Einzelnen voraus, und so steigt er auch in der Anordnung von dem Einfachen, d. h. den Kategorien, zu dem Zusammengesetzten auf. Seine Schriften haben Bedeutung für die Bildung der lateinischen philosophischen Terminologie. Namentlich in der Lehre vom Schlusse verliert er sich vollends in formale scholastische Spielereien (vgl. Prantl a. a. O. 679–722). Die in den Ausgaben mit den philosophischen Schriften des B. abgedruckte Schrift de definitione rührt nicht von B., sondern von Marius Victorinus her (Usener Anecd. Hold. 59ff.).
Die theologischen Schriften des B. sind lange Zeit hindurch angezweifelt worden, weil man diese christlich-dogmatischen Abhandlungen für unvereinbar mit den Ansichten des Jüngers Platos und Aristoteles hielt. Doch ist gerade der christliche Glauben im Vereine mit klassischer Tradition und klassischen Velleitäten, dabei der Mangel sowohl [600] an wirklicher Frömmigkeit als an tieferem Verständnisse der Werke des klassischen Altertumes das eigentliche Kennzeichen des vornehmen römischen Kreises, dem B. durch seine Familie und durch seine Stellung angehörte. Nun sind durch Cassiodor im Anecdot. Holderi einige christliche Schriften des B. ausdrücklich bezeugt. Als echt können danach gelten die Schriften de trinitate (dem Symmachus gewidmet); utrum pater et filius et spiritus s. de divinitate substantialiter praedicentur; quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint, cum non sint substantialia bona (beide einem Iohannes diaconus gewidmet); liber contra Eutychen et Nestorium (demselben gewidmet?). Dagegen scheint die Schrift de fide catholica nicht von B. herzurühren. Die theologischen Schriften scheint B. in seiner Jugend abgefasst zu haben. Usener urteilt über sie mit Recht: ‚Es ist ein rein dialektisches Interesse, das den jungen Schulphilosophen dazu reizt, jene dogmatischen Schwierigkeiten in seiner Weise zu bearbeiten‘. Neue Ausgabe der theolog. Schriften nach der Ausgabe der philosophiae consolat. von Peiper; vgl. dessen Einleitung p. XVIIIff. Von Litteratur vgl. namentlich Schenkl Verhandl. Philol. Versamml. Wien 1859. Nitzsch Das System des B. (1860) und Jenaer Litt.-Ztg. 1877, 714 und insbesondere Usener Anecdoton Holderi 48ff.
Ausserdem hat B. ein carmen bucolicum geschrieben, das nur von Cassiodor (im Anecdot. Hold.) erwähnt wird, aber nicht erhalten ist, und im Gefängnisse: philosophiae consolationis libri V, seine berühmteste Schrift. Die Form dieser Schrift ist die der Satura Menippea, in der Art des Martianus Capella: Prosastücke und poetische oder wenigstens in allen denkbaren Massen versificierte Kapitel wechseln ab. Den Inhalt bildet ein Dialog der Philosophia mit dem gefangenen B., in welcher sie ihn zu trösten sucht dadurch, dass sie ihm die Nichtigkeit der Güter dieser Welt mit den gebräuchlichen Argumenten vordemonstriert. Sprachlich sind die Tragoedien des Seneca stark benutzt (Peipers Ausgabe S. 228ff.). Sachlich liegt nach Usener (a. a. O. 51f.) vom zweiten Buche an zuerst des Aristoteles Protreptikos, dann ein Neuplatoniker zu Grunde, die möglicher Weise dem B. schon bloss in einem Auszuge vorlagen. Kein Wunder, dass man nur wenige Spuren eigentlich christlicher Lehre in der Schrift finden kann. Man wird auch nicht viele Spuren von Originalität in ihr entdecken können, sondern nur die Pose, in welcher der Epigone des 6. Jhdts. das Römertum agierte. Neuere Ausgaben von Obbarius Jena 1843 und von Peiper Leipzig 1871; ebd. p. XXXXIff. über die Übersetzer, Nachahmer und Commentatoren.
Gesamtausgabe des B.: editio princeps, Venedig 1491f.; von Glareanus Basel 1546. 1570. Ferner bei Migne Patrol. Lat. LXIII. LXIV. Vitae des Β. bei Peiper a. a. O. p. XXIXff.
Litteratur im allgemeinen über B. ausser Usener Anecdoton Holderi (Leipzig 1877) 37ff.: Teuffel Gesch. d. R. Litteratur § 478, woselbst auch ältere Litteratur. Ebert Allg. Gesch d. Litt. d. Mittelalters I 462–473. Zeller Philos. der Griechen III 2 S. 776ff. Ritter Gesch der Philosophie VI 580ff.
Anmerkungen des Originals
- ↑ Teile des 1. Buches sowie das ganze 2. und 3. Buch sind aus verlorenen Schriften des Nikomachos von Gerasa gezogen. Das 4. Buch berührt sich mit Euclid. Das 5. schöpft aus Ptolemaios; von den 30 Capiteln, auf welche es berechnet war, sind aber nur 18 und ein Teil des 19. erhalten.