4) Boëthos von Sidon, stoischer Philosoph, Schüler des Diogenes von Babylon (nach Ind. Stoic. Herc. col. 51 vgl. Zeller Phil. d. Gr. IV³ 46, 1; in den Worten bei Diog. Laërt. VII 54 διαφερόμενος πρὸς αὐτόν, aus welchen man schloss, B. sei Chrysippos Zeitgenosse gewesen, ist αὑτόν zu schreiben). Bei Ps.-Philo περὶ ἀφθαρσίας p. 25, 2 ed. Cumont wird B. zu den ἄνδρες ἐν τοῖς Στωϊκοῖς δόγμασιν ἰσχυκότες gerechnet. Das wenige, was uns von seiner Lehre berichtet wird, zeigt starke Abweichung von der stoischen Orthodoxie. Aus der Erkenntnistheorie wird uns seine Stellungnahme zu der Frage nach dem κριτήριον Diog. VII 54 mitgeteilt: κριτήρια πλείονα ἀπολείπει, νοῦν καὶ αἴσθησιν καὶ ὄρεξιν καὶ ἐπιστήμην. Obgleich die Reihenfolge der Aufzählung dem zu widersprechen scheint, soll wohl νοῦς zur ὄρεξις sich verhalten, wie ἐπιστήμη zur αἴσθησις, d. h. unter νοῦς ist hier das vernünftige Wollen im Gegensatz zum Naturtrieb (sonst ὁρμή bei den Stoikern) zu verstehen, während ἐπιστήμη-αἴσθησις dem gemeinstoischen κατάληψις (καταληπτικὴ)-φαντασία entspricht. Es handelt sich offenbar nicht um eine blos terminologische Verschiedenheit, sondern um einen tiefgreifenden Unterschied der Lehre. Der psychologische Monismus des Chrysippos ist zu Gunsten einer dualistischen Auffassung aufgegeben, welche das Vernünftige und das Vernunftlose als selbständige Factoren des Seelenlebens anerkennt. Wie B. diesen Dualismus begründete, wissen wir nicht. Doch liegt es nahe, in der Nachricht bei Macr. in somn. Scip. I 14, 19, dass nach B. die Seele ex aëre et igne bestand, die physikalische Ausdrucksweise dieses Dualismus zu finden, wobei das Feuer als Träger [602] der Vernunft und des Wissens gedacht wäre. Über die Ethik des B. haben wir keine Nachrichten. In der Kosmologie verwirft er die Auffassung des Kosmos als Lebewesen (Diog. VII 143), betrachtet aber die Gottheit als ätherische Substanz (Stob. ecl. I 1, 25 = Doxogr. p. 303 b 15), die in der Fixsternsphäre ihren Sitz habe (Diog. VII 148). Er verwirft auch die stoische ἐκπύρωσις und entscheidet sich für die Annahme der Ewigkeit und Unzerstörbarkeit des Weltalls, Ps.-Philo περὶ ἀφθαρσίας p. 24ff. ed. Cumont. Diese Lehren stehen in deutlichem Zusammenhang mit den psychologischen und erkenntnistheoretischen. Wer den Mikrokosmos nicht ganz von der höchsten Seelenkraft (πῦρ = αἰθήρ) durchwohnt sein liess, konnte auch den Makrokosmos nicht ganz von der Gottheit durchwohnt denken. Dass der Gottheit die Fixsternsphäre als οὐσία zugewiesen wird, bekundet das Bestreben, ihre Ewigkeit und Unveränderlichkeit zu wahren. Die Lehre von der ἐκπύρωσις, nach welcher die Welt periodisch in das göttliche Urfeuer aufgelöst wird, aus dem sie immer wieder neu entsteht, und der Pantheismus, welcher die Gottheit als Weltseele, folglich die Welt als ζῶον ἔμψυχον καὶ νοερόν auffasst, waren mit dieser theologischen Ansicht unvereinbar. Es ist wohl zu beachten, dass B. trotz seines Dualismus Materialist bleibt, wie seine Aussagen über Gott und Seele beweisen. Die Gründe gegen die ἐκπύρωσις, die ihm bei Ps.-Philo zugeschrieben werden, sind wohl nicht ganz ohne Missverständnisse, jedenfalls nicht im originalen Wortlaut mitgeteilt. Zwar die Worte p. 27, 10 Cum. ψυχὴ δὲ τοῦ κόσμου κατὰ τοὺς ἀντιδοξοῦντας ὁ θεός stimmen zu dem sonst Bezeugten, aber vergeblich fragt man sich, wie der an die Fixsternsphäre gebannte Gott zugleich als Lenker und Steuermann der Sonne, dem Mond, den Planeten, der Luft und den übrigen Teilen des Kosmos παριστάμενος καὶ συνδρῶν gegenwärtig sein kann (p. 26, 15f.). Wurde hier im Original nur zum Zweck der Widerlegung mit den gegnerischen Annahmen operiert? In allen bisher besprochenen Abweichungen des B. von der stoischen Orthodoxie hat Ζeller (Philos. d. Gr. IV³ 554f.) mit Recht eine Annäherung an die aristotelische Lehre erblickt. B. folgt in seiner Lehrbildung dem eklektischen Zuge der Zeit, der ja auch bei seinem Mitschüler Panaitios und weiterhin bei Antiochos sich geltend macht. Dagegen ist chrysippisch-orthodox seine Lehre, dass alles nach dem Fatum geschehe (πάντα καθ’ εἱμαρμένην γίνεσθαι Diog. VII 149). Die bei Diog. a. a. O. hinzugefügten Definitionen der εἱμαρμένη speciell dem B. zuzuschreiben (wie Maass Aratea 153, 62 vorschlägt), halte ich für unrichtig. Wie später Poseidonios, scheint B. dem Himmel und seinen Phaenomenen ein besonderes Interesse zugewandt zu haben. Aëtius berichtet Doxogr. p. 367, 5 von seiner Erklärung des Kometen als ἀέρος ἀνημμένου φαντασία und ebd. p. 363b 12, dass er gegen Empedokles polemisierend die grössere Ausdehnung des Himmelsgewölbes in horizontaler als in verticaler Richtung für blosse Sinnentäuschung erklärte. Es ist möglich, aber keineswegs sicher, dass diese Sätze in dem Aratcommentar des B. vorkamen der nach der Anführung bei Geminus Introd. in Phaen. [603] p. 61 Α (vgl. Maass Aratea 152) wenigstens vier Bücher umfasste. Die Stelle des vierten Buches, auf welche sich Geminus bezieht, hat es mit den Wettervorzeichen zu thun, den προγνώσεις, welche den Schlussteil der Φαινόμενα bilden. B. suchte die φυσικαὶ αἰτίαι der Vorzeichen zu ergründen. Ebendaher scheint genommen, was Cicero de div. I 13f. aus B. anführt (vgl. auch die Antwort de div. II 47). Aus dem ersten Buch wird in der Vita Arati II p. 57 West. ein ästhetisches Urteil über den Stil der Phainomena angeführt: B. tritt der bekannten Auffassung Arats als Nachahmer des Hesiodos entgegen; er sei οὐχ Ἡσιόδου, ἀλλ’ Ὁμήρου ζηλωτής· τὸ γὰρ πλάσμα τῆς ποιήσεως μείζον ἢ καθ’ Ἡσίοδον. Ausser dem Aratcommentar werden zwei Schriften des Β., περὶ φύσεως und περὶ εἱμαρμένης, namentlich von Diogenes citiert.
Litteratur: Zeller Philos. d. Gr. IV³ 45. 554ff. Hirzel Unters. zu Ciceros philos. Schriften II. Maass Aratea 152ff.