Christophoros (ὁ Μιτυληναῖος), byzantinischer Staatsmann und Dichter in der ersten Hälfte des 11. Jhdts. Von ihm sind erhalten zwei Heiligenkalender und Epigramme. Von den Kalendern (συναξάρια) in Iamben ist der größere gedruckt im Μέγας Συναξαριστής des Konstantinos Dukakes als συναξ. δίστιχον ἰαμβικόν; auf
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jeden Tag kommen 2 Senare + 1 Hexameter. Der kleinere, στιχηρὰ τῶν ιβ’ μηνῶν oder Προσόμοια κατ’ ἐπιτομήν, ist zu finden im Ἔκκλησιαστικὸν Ἡμερολόγιον, Konstantinopel 1887, und zählt in Form eines rhythmischen Kirchenliedes (für je einen Monat eins) die Namen der berühmten Heiligen für die Tage des Jahres auf. Auf die Kalender soll hier nicht eingegangen werden. Einen Platz in der byzantinischen Literatur beansprucht C. nur durch seine meist in iambischen Senaren, zum Teil auch in den Hexametern und andern Maßen verfaßten Epigramme, d. h. Gelegenheitsgedichte. Sie liegen vor in einer Sammlung von 145 Stücken in einer Handschrift des 15. Jhdts. von Grotta Ferrata. Einzelne Gruppen der Sammlung stehen verstreut in Miszellanhandschriften, dort mehrfach unter fremden Dichternamen, z. B. im Vatic. gr. 1357 (saec. XIII) u. a. Da von den 2855 Versen in der Haupthandschrift etwa 1600 durch Abbröckelung verstümmelt sind, dienen die Exzerpte zur Ergänzung, wodurch 559 Verse wiederhergestellt werden. Sichere Gedichte des C., die in der Cryptensis-Sammlung fehlen, sind bisher noch nicht nachgewiesen. Verzeichnis der Handschriften in der Ausgabe von Kurtz Die Gedichte des C. M., Leipzig 1903, Aug. Neumanns Verlag, mit brauchbarem Apparat, Einleitung und Indices. Erster Abdruck der Haupthandschrift durch Rocchi Versi di Cristoforo Patrizio editi da un codice della monumentale Badia di Grottaferrata, Roma 1887, als Editio princeps wichtig, da inzwischen der Verfall der Handschrift Fortschritte gemacht hat. Zwischen der italienischen Ausgabe und der von Kurtz liegen die Arbeiten von Lundström Ramenta Byzantina I, Eranos III, 148f„ der für die Ergänzung von Gedicht 114 dessen vollständigeren Text im Parisin. 3044 heranzog, ders. Ram. Byz. III, Eranos IV 136, sowie mehrere Aufsätze von Sternbach Eos V 7ff. VI 53ff. VIII 65, die sich sämtlich mit der Verwertung der Sammelhandschriften und Zuweisung dort anonym überlieferter Gedichte von C. beschäftigen. Die Autorität der Cryptensis-Sammlung in dieser letzten Frage wird jedoch mit Glück von Kurtz verteidigt. Dagegen ist Dilthey Symbolae criticae ad anthol. graec., Ind. schol. Gotting. 1881, 14 geneigt, für die Rätselgedichte der großen Sammlung, die einzeln auch in den Exzerpten anderer Dichter erscheinen, dem Cryptensis die Autorität abzusprechen. Doch scheinen überhaupt Kurtz’ Argumente für die durchgehende Zuverlässigkeit der auf die Ausgabe des Autors selbst zurückgehenden Cryptensis-Sammlung ausreichend. Eine eingehende im ganzen anerkennende Besprechung der Kurtz’schen Ausgabe gibt P. Maas Byz. Ztschr. XV (1906) 639. Eine Ausgabe des C. ist beabsichtigt von Sternbach. Zusammenfassend handelt über C. den Dichter Krumbacher Byz. Lit-Gesch. 737 und vermutlich auch Deles Ἡ Βυζαντιακὴ Λεσβος, Mityl. 1903.
Da C. im Kalender Konstantinopel als seinen Geburtsort angibt, ist mit Kurtz Einl. S. I Μιτυληναῖος als Familienname anzusehen. Im Gedicht 114 nennt er sich ὑπογραφεὺς τοῦ βασιλέως (mit genauer Angabe der Wohnung), in Überschriften andrer wird er als πατρίκιος, ἀνθύπατος, κριτὴς τῆς Παφλαγονίας καὶ τῶν Ἀρμενιακῶν
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bezeichnet. Seine hohe Stellung erlaubt ihm in einer Reihe von Gedichten unverblümte Äußerungen über Zeitereignisse. Doch hält er es offenbar mit der Partei der Zoe, so in nr. 52, das in 28 epischen Hexametern den Sturz des Kalaphates im April 1042 besingt. Auch der Epitaphios auf den Kaiser Romanos (8), ebenfalls in Hexametern, der, wie es scheint, eine offiziöse Darstellung der Todesart des plötzlich gestorbenen alten Kaisers liefert, bemüht sich kaum, seine verächtliche Gesinnung gegen den Toten zu verbergen. Nr. 18 feiert dementsprechend Michael IV. und seine drei Brüder in überschwenglicher Weise; derselbe Kaiser ist es, dessen Erscheinung in der Öffentlichkeit in nr. 24 gepriesen wird; dagegen sticht die kühle und abwartende Begrüßung des neugekrönten Monomachos in den Gedichten 54 und 55 merklich ab. Die erwähnten Gedichte legen die Chronologie der Sammlung und des Dichters, zugleich aber auch das Anordnungsprinzip der Gedichte fest.
Was den C. als Dichter von den übrigen byzantinischen Epigrammatikern unterscheidet, ist neben einer ungewöhnlichen Erfindungsgabe die Ungebundenheit seiner Satire, der zwar der pointierte Witz der alten Epigrammatik, aber nicht der Humor fehlt. Dieser herrscht nicht nur in den eigentlich satirischen Gedichten, wie in der frischen völlig unkirchlichen Verspottung des Reliquiensammlers Andreas (nr. 114, 135 Senare), oder der Verhöhnung der als Geldschmiede gebrandmarkten Schule von Chalkoprateia (nr. 11), der schonungslosen Kritik des Presbyter- und Diakonenunwesens (63), oder den kleinen im herkömmlichen Epigrammstil gehaltenen Gedichten auf bestimmte Berufe, auf das Podagra des Metropoliten von Kyzikos, auf eitle Frauen und literarische Gegner; vielmehr besonders auch in solchen Gedichten, die über selbsterlebte Tagesereignisse berichten, wie (nr. 1) das wüste Gedränge beim Thomasfest, oder in nr. 6, wie der Wagenlenker Jephtha die Orgel im Zirkus entzweigefahren hat, oder in der verstümmelten kulturhistorisch wichtigen Schilderung des Maskenzuges der Notare mit ihren Schülern am Fest des hl. Markianos und Martyrios (231 Verse). Dieser Gruppe reihen sich die Gedichte an, in denen er persönliche Erlebnisse oder Stimmungen ausspricht. Seinem Ärger macht er in derbhumoristischen Versen Luft, wenn er auf die sein Haus bevölkernden Mäuse schimpft oder auf die Eule, deren Schrei seine Nachtruhe stört. Einfacher sind die wenigen Gedichte, die den Geschenkverkehr zwischen ihm und seinen Freunden begleiten. Nirgends taucht in diesem Verkehr eine Stimmung, eine Reflexion auf. Dagegen finden sich einige monologische Reflexionen, wie in nr. 13 eine bewegliche Klage über die Ungleichheit der Menschennatur, in nr. 127 ein Seufzer über die Ungunst des Schicksals, die sich ihm offenbart, als er eines Tages auf der Propontis drei Fischzüge ohne Erfolg tun läßt; nr. 109 ist ein Gemeinplatz gegen die Furcht vor dem Meere; in religiöse Naturstimmung klingt das im Grunde epideiktische Gedicht nr. 92 auf den gestirnten Himmel aus, an dem die Engel ihre schweigenden Versammlungen abhalten. Kaum ein Viertel der Gedichte ist rein epideiktischer
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Art, die Stoffe aber äußerst mannigfaltig, auch mehrere Rätsel. Den oben vorweg genommenen reiht sich an nr. 53: ,Die Wohltat des Bades‘. Originell ist in dieser Beziehung auch eine Epideixis auf die Spinne nr. 122, vielleicht an ein antikes Prosavorbild angelehnt. Viele sind von traditioneller Banalität wie die auf Heilige, angesehene Zeitgenossen, aber bisweilen bricht auch da der Humor durch wie bei nr. 100 auf den Philosophen Niketas. Von den Epitaphien zeigt am meisten Empfindung das auf seinen Bruder Johannes nr. 44, während die übrigen über kalt gezwungene Rhetorik nicht hinauskommen; nr. 75 auf seine Schwester ist in Anakreonteen gedichtet. Von den religiösen Gedichten hält keines den Vergleich mit der halbmystischen Poesie seines jüngeren Zeitgenossen Johannes Mauropus aus (s. o. Bd. IX S. 1760); nie wird die Sphäre des inneren religiösen Erlebens berührt, die Gottesverehrung kommt über konventionelle Formen einer aufrichtigen bescheidenen Frömmigkeit nicht hinaus, die religiösen und kirchlichen Gedichte sind durchweg auf den Umfang weniger Zeilen beschränkt. In der metrischen Form steht C. dem Ioannes Mauropus sehr nahe und folgt den für den Zwölfsilbler seinerzeit geltenden Regeln, s. Kuhn Bresl. Philol. Abh. XXIII 63f. und Kurtz in der Einleitung S. VIII, dazu die Richtigstellung von Maas a. a. O. 640: ǎ, ǒ, ǔ werden als Längen nur im Notfalle, d. h. bei solchen Wörtern, die sonst nicht in den Vers gehen, lang gemessen. Die Sprache des C. ist den Stoffen entsprechend reich an seltenen Worten und spiegelt im übrigen den Bestand der gelehrten poetischen Kunstsprache, je nach der Verschiedenheit des Metrums tragisch oder episch getönt, wieder. Von Mauropus trennt ihn die größere Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, doch fehlt in seiner Sprache das jenem eigene Pathos und der Schmuck der gelehrten Zitate. Dagegen hat Kurtz im Index 22 Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten gesammelt. Maas a. a. O. bewertet mit Recht die Poesie des C. sehr hoch, aber seine Behauptung, daß trotzdem alle diese Verse schablonenhafte Rhetorik seien, trifft, wie oben gezeigt wurde, nur für einen kleinen Teil der Epigramme zu. C. sprengt die Fesseln der formalen Tradition in durchaus origineller Weise. Höchstens darf man zugeben, daß auch er die Grenze zur Poesie durch Weitschweifigkeit in den größeren Gedichten verwischt, wozu die Anwendung des Senars statt des traditionellen Distichons im Epigramm von selbst führte.