RE:Furor 1

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Geisteskrankheit, der rechtlich erhebliche Grad von Unvernunft
Band VII,1 (1910) S. 380382
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Furor. 1) Die Geisteskrankheit, d. i. der rechtlich erhebliche Grad von Unvernunft (Cic. Tusc. III 11). Seine verschiedenen Arten wurden der richtigen Meinung nach vom römischen Rechte in gleicher Weise behandelt (Windscheid-Kipp Pandekten I8 208 § 54, 11. 12; vgl. aber auch Pernice Labeo I 235 und hierzu Girard Manuel élémentaire3 221, 2, s. Amentia). Die rechtliche Bedeutung des f. zeigt sich einerseits in der vollen Handlungsunfähigkeit des furiosus (Dig. L 17, 40 furiosi nulla voluntas est), andrerseits in einer Unterstellung unter eine dauernde vormundschaftliche Gewalt. Die Handlungsunfähigkeit des furiosus zeigt sich in der Nichtigkeit seiner Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen, Dig. XXIX 7, 2, 3 per omnia et in omnibus absentis vel quiescentis loco habetur; vgl. Dig. XLVI 8, 24, 1. XLII 1, 9 (Unfähigkeit zur Prozeßführung in eigener Person). XLIV 4, 4, 26.

Ebenso raubt der F. die Zurechnungsfähigkeit, schließt also die Verpflichtung des furiosus, wegen seiner Handlungen Schadensersatz oder Strafe zu leisten, aus. Dig. XXVI 7, 61 impune ... admittendum, quod per furorem alicuius accidit. XLVIII 8, 12 fati infelicitas excusat. XLVIII 9, 9, 2 sufficere furore ipso eum puniri, diligentiusque custodiendum esse aut etiam vinculis coercendum; ebenso Dig. I 18, 14, vgl. auch XLVIII 4, 7, 3.

Für den Fall der lichten Zwischenräume des Kranken (sog. dilucida intervalla, intervalla, quae perfectissima sint) war es zweifelhaft, ob man geistige Gesundheit voraussetzen und daher die cura furiosi in Wegfall kommen sollte, weil man vielfach annahm, daß dem äußern Anscheine der geistigen Gesundheit auch die innere Beschaffenheit entsprechen müsse. Iustinian bestimmte, daß die cura furiosi in diesen Zeiten fortdauern, aber eine volle Handlungsfähigkeit des vorübergehend Geheilten ohne weiteres eintreten solle, Cod. V 70, 6.

Eine Erbschaftsantretung war dem furiosus nur in diesen Zwischenräumen gestattet. Eigentümlich [381] aber war, daß sonst auch nicht einmal der curator furiosi diesen Rechtsakt vornehmen konnte, sondern, falls der Geisteskranke zu einer Erbschaft berufen wurde, darauf beschränkt war, eine bonorum possessio furiosi nomine zu erbitten, die einen bloß vorübergehenden Erfolg hatte, Dig. XXXVII 3. Starb nämlich der furiosus im Zustande der Geisteskrankheit, so fiel die auf solche Weise erworbene Masse nicht an seine Erben, sondern an die Erben des Erblassers, dessen Nachlaß von ihm vorübergehend für ihn erworben worden war. Es wurde hierbei dem Umstande Rechnung getragen, daß der furiosus außerstande war, seine Nachfolge selbst zu regeln und ungeeignete gesetzliche Erben von ihr auszuschließen.

Die vormundschaftliche Fürsorge für den furiosus war keine tutela, sondern eine cura (s. d.), weil sie nicht den Zweck hatte, den ihrer Fürsorge Unterstellten bei dessen eigener Geschäftsführung durch die Erteilung der auctoritas (s. d.) zu beschützen, wie das gegenüber dem impubes und der mulier geschah, sondern für ihn in seiner Abwesenheit und ohne seine Mitwirkung zu sorgen. Die cura furiosi entwickelte sich in Anlehnung an eine schon in den zwölf Tafeln anerkannte potestas; vgl. tab. V 7 (Cic. de inv. I 23; Tusc. III 11. Dig. L 16, 53 pr. XXVII 10, 13. XXVI 1, 3 pr. Gai. II 64) si furiosus escit, adgnatum gentiliumque in eo pecuniaque eius potestas esto; vgl. auch Fest. 162: ast ei custos nec escit, Worte, über deren Zugehörigkeit zu dem erwähnten Satze Streit herrscht (vgl. Mommsen in Bruns Fontes iuris Romani6 Anm. 7 b z. d. St. S. 23). Es liegt aber nahe, anzunehmen, daß in erster Linie den Agnaten und Gentilen die Bewachung oblag. Sollte jedoch eine solche Bewachung fehlen (ast ei custos nec escit), so wurde wahrscheinlich die Obrigkeit beauftragt, einen curator zu ernennen (nach Pernice Labeo I 235 betraf dies Recht nur den demens, nicht den furiosus). So erklärt es sich, daß die Verwandten späterhin die undankbare Aufgabe der Fürsorge nicht mehr übernahmen und der von der Obrigkeit ernannte curator für Person und Vermögen des Kranken sorgte, Inst. I 23, 3. Dig. XXVII 10.

In welcher Weise ursprünglich die Agnaten bei der potestas tätig wurden, ist dunkel, namentlich ob vielleicht die gens eine Art Oberaufsicht über die Beschlüsse der agnati hatte, vielleicht sogar eine höhere Instanz bildete, und ob statt der dem römischen Rechte unbekannten Entmündigung ein Familienschluß die potestas agnatorum gentiliumque begründete. Dafür spricht, daß man allem Anscheine nach die der Geisteskrankheit Verdächtigen den agnati und gentiles vorführte; vgl. Colum. de re rust. I 3: mente captum et ad agnatos et gentiles ducendum.

Zweifelhaft ist auch, ob unter der pecunia, die im späteren Rechte das gesamte Vermögen des furiosus umfaßte, in älterer Zeit auch die familia (s. d.) mit inbegriffen war.

Literatur s. unter Amentia; vgl. ferner Audibert La Folie et la prodigalité en droit Romain, 1892. Krüger Ztschr. d. Savigny-Stift. XIV 260ff. Pernice Labeo I 234ff. Weitere Angaben bei Windscheid-Kipp Pandekten I8 207 § 54 A. [382] 10 a. § 71 S. 277, 3. III 169 § 446 A. 3. III 417 § 596 A. 17. 18 und über Quasipupillar-substitutionen für geisteskranke Abkömmlinge III 276 § 560. Puchta-Krüger Institut. II10 34 § 202 b. II 420 § 299 b. v. Czyhlarz Inst.5. 6 77. Sohm Institut.11 215. 484. 538 A. 10 (Unfähigkeit des Furiosus zum Testamentszeugnisse). R. Leonhard Institut. 237. 334. 347. 350, 5. 382. 439. Girard Manuel élémentaire du droit Romain3, Paris 1901, 221ff. 270.