RE:Ius Flavianum
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Älteste Sammlung von legisactiones | |||
Band X,1 (1918) S. 1215–1218 | |||
ius civile Flavianum in Wikidata | |||
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Ius Flavianum, die älteste Sammlung von legisactiones; sie wird dem Cn. Flavius (s. o. Bd. VI S. 2526), dem Schreiber des Appius Claudius (s. o. Bd. III S. 2681) zugeschrieben.
Die Bezeichnung ius civile Flavianum findet sich nur bei Pomponius (Dig. I 2, 2, 7). Der Inhalt des Werkes war nach Livius (IX 46; daraus Val. Max. II 5, 2) das ius civile; spezieller drücken sich aus Pomponius (a. a. O.) und Cicero (ad Att. VI 1, 8; de or. I 186): danach waren hier die actiones publiziert, d. h. die Klagformeln (legisactiones). Sehr fraglich ist bei dem Zustande unserer Überlieferung, ob der Kalender, die fasti, ein Bestandteil des flavischen Klagspiegels und mit diesem in Buchform verbreitet war (Mommsen Röm. Forsch. I 304). Schon der Gegensatz im Sprachgebrauche der Quellen (Cic. ad Att. VI 1, 8; pr. Mur. 25. Liv. a. a. O. Val. Max. a. a. O. proferre, proponere u. ä. für die Publikation der Fasti; dagegen componere, evulgare u. ä. für die Herausgabe der Actiones) spricht dagegen; auffallend ist auch die in der Überlieferung hervortretende ungleichartige Beteiligung des Appius Claudius an der Veröffentlichung der Actionen und des Kalenders (Pomp. a. a. O. subreptum [Appio] librum für die Actionen; Plin. n. h. XXXIII 1, 17 hortatu [Appii] exceperat dies fastos; Jörs a. a. O. 73, 2). Auch ist geltend gemacht worden, daß wohl der Privatmann Flavius die Formeln veröffentlichen, nur der Ädil Flavius [1216] aber fastos circa forum proponieren konnte (Zocco-Rosa a. a. O. 25). Die Publikation der Actionen muß auch älter sein, da sie erst (nach Pomp. a. a. O.) dem Flavius zur curulischen Ädilität verhalf (Girard Hist. de l’org. indic. I 223, 3). Über den Zusammenhang der Tat des Flavius mit den in den XII Tafeln veröffentlichten Fasten vgl. Mommsen Chron. 31. Soltau Chron. 32, o. Art. Flavius Nr. 15 Bd. VI S. 2528 (neuere Lit.).
Als Autor der Actionensammlung ist Cn. Flavius Anni f., ein Libertinensohn, Schreiber von Beruf, überliefert (Seeck a. a. O. 3ff. hält die Nachrichten über Flavius und sein Werk zu Unrecht für eine freie Erfindung des Annalisten Licinius Macer). Er stand in Diensten des Appius Claudius Caecus, des revolutionären Censors von 442 = 312. Nach allem, was wir von Appius Claudius wissen (Mommsen Röm. Forsch. I 301ff.), hat er wohl diese Publikation veranlaßt, wenn nicht selbst verfaßt, und Flavius ist nur sein Werkzeug zur Veröffentlichung gewesen (Liv. a. a. O. humili fortuna ortus, ceterum callidus vir et facundus). Die lediglich von Pomponius überlieferte Notiz, wonach Flavius das Buch dem Appius gestohlen hätte, verdient (wenn wir derartigem Detail in unserer Überlieferung überhaupt Wert beilegen dürften) keinen Glauben; denn einem Appius wäre es nicht schwer gefallen, die Folgen einer fraudulosen Veröffentlichung ungeschehen zu machen und den Delinquenten der verdienten Strafe zuzuführen. Aber davon hören wir nichts; im Gegenteil adeo gratum fuit id munus populo, ut (sc. Cn. Flavius) tribunus plebis fieret et senator et aedilis curulis (Pomp. a. a. O.), letzteres sicher nicht ohne kräftige Unterstützung des Appius und cum ingenti nobilitatis indignatione (Val. Max. a. O.). Wir können also annehmen, daß Appius die Publikation durch seinen Schreiber vornehmen ließ, da er selbst nicht als der Autor hervortreten wollte.
Das Material zur Veröffentlichung stammt aus dem Archiv der Pontifices; unerklärt bleibt nur, wie sich Appius oder Flavius den Zugang dazu verschafft haben, da keiner dem Kollegium angehörte. Vielleicht kann man annehmen, daß sie sich durch eifriges Beobachten der Praxis und Zusammenstellen der einzelnen Fälle das Material sammelten (wofür Cic. p. Mur. 25 und Plin. a. a. O. sprächen). Maschke a. a. O. will ein Einvernehmen mit dem Pontificalkollegium, das etwa gar durch die Lex Ogulnia zu diesem Zwecke demokratisiert worden wäre, glaubhaft machen.
Die Zeit der Entstehung des Werkes ist dadurch gegeben, daß wir in der Publikation den Grund zur Wahl des Flavius zum Aedilis curulis erblicken dürfen; die Veröffentlichung der Actionen fällt also wahrscheinlich in die Zeit von 442 = 312 (Censur des Appius) bis 450 = 304 (Ädilität des Flavius). Aus Liv. a. a. O. kann nicht auf das J. 304 selbst geschlossen werden. Maschke a. a. O. findet einen Anhaltspunkt für eine etwas spätere Datierung darin, daß das verfallene Sacramentum bis zur Lex Papilla an die Kasse des Pontificalkollegiums fiel, seit diesem Gesetze aber von [1217] den damals neu eingeführten IIIviri capitales für die Staatskasse eingezogen wurde; das sei die unmittelbare Wirkung der Veröffentlichung des Flavius gewesen. Auch Lenel (in Holtzendorffs Enzykl. I⁷ 330) ist geneigt, die Publikation, wenn sie überhaupt authentisch sei, als eine Folge der Lex Ogulnia zu betrachten, sie also nach 300 v. Chr. anzusetzen. Die Form der Publikation war die des Buches (Pomp. a. a. O. librum populo dedit); nichts spricht für die öffentliche Ausstellung der Actiones (Huschke a. a. O. 179).
Reste des Ius civile Flavianum haben sich nicht erhalten, da es durch spätere juristische Werke gleicher Tendenz ersetzt wurde. Über eine von Mommsen vermutete Entlehnung durch Probus vgl. dessen Phil. Schriften 211ff.
Die Bedeutung der Publikation liegt darin, daß sie zum erstenmale die legis actiones, die auch nach der Veröffentlichung der XII Tafeln noch eine Geheimkunde der Pontifices blieben, dem ganzen Volke zugänglich machte. Es liegt uns in ihm das erste Werk vor, das sich literarisch mit dem römischen Rechte beschäftigt.
Wie allen Quellen der älteren Zeit der Republik, stehen wir heute auch der Überlieferung zum I. Flavianum, auf welche sich obige Darstellung gründet, mit einiger Skepsis gegenüber, vgl. Lenel (Holtzendorffs Enzykl. I⁷ 329f.). Zu Unrecht wurde ihr aber jede Authentizität abgesprochen und das I. Flavianum mit der Zwölftafelgesetzgebung identifiziert. Pais (Storia di Roma I¹ 580ff. I² 632ff.) findet zwischen den Berichten über die Zwölftafelgesetzgebung und die Publikation des Cn. Flavius eine so zwingende Übereinstimmung (Appius, Ius civile, Ädilität), daß er eine Gemination der Überlieferung über dieselbe historische Tatsache annimmt. Eine gesetzgeberische Action um die Zeit des Appius Claudius Caecus, deren hauptsächlicher Inhalt dem entspräche, was wir bisher die Zwölftafelgesetze nannten, hätte für ihre wahre Entstehungszeit ca. 300 v. Chr. nur die geringen Spuren hinterlassen, die uns als ein I. Flavianum erscheinen; die Annalistik aber hätte diese historische Tatsache in die graue, vorhistorische Zeit zurückverlegt und zu dem Märchen von den Decemviru der J. 450/449 v. Chr. ausgeschmückt. Ähnlich Lambert (Nouv. rev. hist. XXVI 149ff. und L’histoire tradit. des XII tables in Mélanges Appleton 1903548), der in den XII Tafeln überhaupt nur eine Privatarbeit sieht (vgl. Art. Ius Aelianum). Dagegen hat Pais selbst wieder schärfer die Authentizität der XII Tafeln vertreten (Studi storici per 1’antichità classica II 3). Gegen Pais und insbesondere gegen Lambert vgl. Girard Nouv. rev. hist. XXVI 381ff. Lenel Sav.-Ztschr. XXVI 498ff. Binder Plebs 488ff.
Literatur: Krüger Gesch. d. Quellen d. r. R.² 32f. Jörs Röm. Rechtswissenschaft 70ff. Karlowa Röm. Rechtegesch. I 475. Zocco-Rosa Ius Flavianum e ius Aelianum (Catania 1912) und Sav.-Ztschr. XXXIII 491. Lenel (in Holtzendorffs Enzykl.⁷) 329f. Huschke Ztschr. f. geschichtl. Rechtswissenschaft XV 178ff. Mommsen Röm. Forsch. I 301ff. Maschke [1218] Profan- und Sakralrecht (Festschrift für Friedländer 322). Seeck Die Kalendertafel d. Pontifices 3ff. Pais Storia di Roma I¹ 580; I² 632ff. und Studi storici II 3. Lambert Nouv. rev. hist. XXVI 149ff. und L’histoire traditionelle des XII tables et les critères d’inauthenticité des traditions en usage dans l’école de Mommsen (Mélanges Appleton 548); zu Pais und Lambert vgl. Girard Nouv. rev. hist. XXVI 381ff. Lenel Sav.-Ztschr. XXVI 498ff. Binder Plebs 488ff. und die Literaturübersicht bei Kalb Jahresbericht klass. Altertumswiss. CXXXIV 17f.