RE:Tullius 28

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Cicero, M. Vater des Redners
Band VII A,1 (1939) S. 824827
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28) M. Tullius Cicero ist der Vater des Redners und nur durch diesen bekannt geworden. Der Vorname M. ist bezeugt durch Cic. de or. II 265, wo Caesar Strabo die Gleichnamigkeit von Vater und Sohn in der älteren Generation mit den Worten: M. Cicero senex (Nr. 27) huius ... pater, als ebenso selbstverständlich voraussetzt, wie es sonst hinsichtlich des Redners geschieht, und durch die ausdrückliche Benennung des letzteren als M. f. bei Dio XXXVII ind., im Senatsconsult für Oropos Syll.³ 747, 11, auf der Ehreninschrift aus Samos Athen. Mitt. XLIV 34 = SEG I 381. Als Sohn eines römischen Ritters bezeichnet sich Cicero selbst Mur. 17 (vgl. 16); Cael. 4 (zitiert von Quintil. inst. or. XI 1, 28); Planc. 59 (vgl. 17), und daraufhin heißt der Vater römischer Ritter bei Plut. Cic. 11, 3. Auct. de vir. ill. 81, 1. Hieron. zu Euseb. chron. II 131 v Schöne; häufiger sind andere Wendungen über Herkunft aus dem Ritterstande oder Zugehörigkeit zu dem [825] Ritterstande bei dem Redner (Verr. II 174; imp. Pomp. 4; leg. agr. I 27; Rab. Post. 15; rep. I 10), bei seinem Bruder (Q. Cic. pet. cons. 13. 33) und bei guten Kennern (Ascon. tog. cand. 78 K.-S. = 64 Stangl. Plin. n. h. XXXIII 34 mit dem Stolze des Standesgenossen). Der Vater hatte eine schwache Gesundheit (Cic. leg. II 3), die auch der Sohn von ihm erbte (Cic. Brut. 313f. Ploit, Cic. 3, 6f. 4, 4. 8, 4f.), und führte deshalb ein ruhiges Leben, hauptsächlich auf dem von seinem Vater übernommenen Gute bei Arpinum, in dessen von ihm selbst ausgebauten Herrenhause (Cic leg. II 3). Er heiratete eine Helvia (o. Bd. VIII S. 229f.) und hatte von ihr zwei Söhne, den am 3. Jan. 648 = 106 geborenen M. und den spätestens 652 = 102 geborenen Q. (Nr. 31). Andere Kinder sind nicht bekannt, denn Ciceros Andeutungen über seine Verwandtschaft mit den Aelii Tuberones, dem Vater L. und dem Sohne Q. (Lig. 1. 21), sind zwar von Schol. Gronov. (415. 417 Or. = 292. 294 Stangl) damit erklärt worden, daß der Vater sororem Ciceronis zur Frau hatte, aber soror ist hier = soror patruelis (wie frater häufig bei Nr. 26 und sonst = frater patruelis; s. Drumann-Groebe GR² V 227, 1. VI 640, 7). Wie die Herkunft von Männern mit unbekannten Vätern oder Müttern oft und besonders von politischen Gegnern geschmäht und verdächtigt wird, wofür Ciceros eigene Invektiven gegen Piso, Clodius, Antonius oder der Klatsch über Octavians Vorfahren bekannte gleichzeitige Beispiele bieten (s. auch u. a. Gelzer Nobilität 11 f.), so wurde auch von Cicero behauptet, er sei in einer Walkerwerkstatt geboren und aufgewachsen (Plut. Cic. 1, 1f.), und die Schmährede des Q. Fufius Calenus bei Dio (XLVI 4, 2f. 5, 1–3. 7, 4) malt besonders die unsaubern Arbeiten aus, die ,der Vater Walker‘ und der Sohn zu verrichten gehabt hätten; daß die Grundlage des Gerüchtes nicht nur der Besitz (Drumann 225f.), sondern auch der Betrieb eines solchen Gewerbes auf einem Landgut (s. Gummerus o. Bd. IX S. 1456, 33f.) bildete, ist durchaus möglich (s. als Gegenstück das Bankgeschäft des Großvaters Octavians o. Bd. XVII S. 1443f 1805f.). Jedenfalls stellte sich Cicero Anfang 691 = 63 selbst dem Volke vor (leg. agr. II 1): Mihi. Quirites, apud vos de meis maioribus dicendi facultas non datur, ... quod laude populari atque honoris vestri luce caruerunt (vgl. etwa Hor. sat I 6, 10: viros nullis maioribus ortos) und mußte sich von einem hochadligen Widersacher fragen lassen: τίς σου πατήρ ἐστιν ὦ Κικέρων (Plut Cic. 26,9; apophth. Cic. 6); es ist eine liebevolle Ühertreibung, wenn er die geringen Beziehungen des Vaters zu dem berühmten L. Crassus (de or. II 1f.) und zu Caesar Strabo (ebd. 265) als einen häufigeren und näheren Verkehr hinstellt, die Einwirkung des Crassus auf die Erziehung, die der Vater ihm selbst gab, als eine unmittelbare und persönliche erscheinen läßt (ebd. 1f. s. Herm. XLIX 212 Anm.) und von der eigenen Charakteristik patris nostri optimi ac prudentissimi viri (ebd. 1) den ersten Teil auch als Urteil des Caesar Strabo gibt (ebd. 265: huius viri optimi). Bestimmter lautet seine Angabe, daß der Vater es war, der ihn nach Anlegung der Männertoga, also 664 = 90, dem Augur Q. Scaevola zuführte (Lael. 1; s. o. Bd. XVI S. 431. [826] 434). Demnach scheint der Vater, der sich selbst eine geistige Bildung erwarb (leg. II 3: aetatem egit in litteris) und sie den Söhnen zu verschaffen strebte (vgl. etwa noch leg. agr. II 1: nos illorum ... disciplinis ... institutos; de or. II 1f.), besonders auf Rechtskunde Wert gelegt zu haben, und die einzigen Dinge, die Cicero nach Erinnerungen seines Vaters noch berichtet, sind Episoden aus zwei Prozessen, Proben von besonderer, allgemein anerkannter Ehrenhaftigkeit: Balb. 11 führt mit audivi hoc de parente meo puer eine Szene aus einem Repetundenprozeß des Metellus Numidicus vor, der wahrscheinlich nicht lange vor dessen Consulat von 645 = 109 stattgefunden hatte; doch die Vergleichung mit ad Att. I 16, 4 (vgl. dazu wieder Val. Max. II 10, 1. ext. 2) legt die Vermutung nahe, daß die Erzählung des Vaters eine Fiktion und die wirkliche Quelle eine Beispielsammhmg für Rhetorenschulen war. Ebenso wird off. III 77 mit audiebam de patre nostro puer die andere Anekdote eingeleitet, die von einem Sponsionsprozeß handelt, in dem C. Fimbria nach seinem Consulat von 650 = 104 den Vorsitz führte; diese Anekdote ist sonst nur bei Val. Max. VII 2, 4, und zwar offenbar aus Cicero überliefert, kann also eher aus solcher persönlicher Erinnerung stammen, zumal da Fimbria als Homo novus und Mitconsul des Marius die Aufmerksamkeit von aufstrebenden Familien erregte. Glaubwürdig dürfte ferner sein, daß Cicero nach seiner Rückkehr von der griechischen Reise 677 = 77 u. a. durch den Vater zu weiterem Fortschreiten auf dem schon vorher erfolgreich eingeschlagenen Wege angespornt wurde (Plut. Cic 5, 3). Diese Nachrichten setzen wiederholten und längeren Aufenthalt des Vaters in Rom voraus und lassen bereits auf den Besitz eines eigenen Hauses in Rom schließen; in der Tat berichtet Plut. Cic 8, 6 zwischen Ciceros Aedilität 685 = 69 und Praetur 688 = 66, der Redner habe das väterliche Haus seinem Bruder abgetreten, während er selbst auf dem Palatin wohnte, und dieses Haus ist gewiß das ad Q. fr. II 3, 7 erwähnte in den Carinae gewesen (s. Nr. 31). Die kurz vorher von Plut. 8, 3 erwähnte dem Cicero zugefallene Erbschaft von 90 000 Denaren für die väterliche zu halten, ist wegen des unbestimmten Ausdrucks κληρονομία τις kaum möglich, wenn auch die Einreihung dieser Plutarchischen Notizen zu der Vorstellung passen würde, daß der Redner seinen Vater im J. 686 = 68 verlor und beerbte. Die Vorstellung ruht auf Cic. ad Att. I 6, 2 vom Ende des J. 686 = 68: Pater nobis decessit a. d. IV Kal. Dec. Gegen ihre Richtigkeit sind zwei Einwände erhoben worden: Erstens die befremdliche Kürze und Kühle einer solchen Trauernachricht, zweitens der Widerspruch zu Ascon. tog. cand. 73 K.-S. = 64 St.: Solus Cicero ex competitoribus – für das Consulat, im J. 690 = 64 – equestri erat loco natus; atque in petitione patrem amisit. Daß die knappe Form der Todesanzeige seines Vaters bei Cicero ein Gegenstück in der der Geburtsanzeige seines Sohnes (ad Att. I 2, 1) hätte, bleibe unberücksichtigt, weil auch die letztere vielumstritten ist. Drei Textänderungen haben auf verschiedene Weise die Schwierigkeit zu heben gesucht. Madvig unter Zustimmung von Drumann [827] (226f., 13) und Ciaceri (Cicerone e i suoi tempi I [1926] 180, 4) schreibt bei Cic: Pater a nobis discessit; demnach zog sich der Vater im November 686 = 68 endgültig aufs Land zurück und lebte dort noch bis 690 = 64. Harrison bei Tyrrell-Purser ändert bei Ascon.: in petitione patrem omisit; das ist von Groebe (bei Drumann) beifällig aufgenommen worden, um den 27. Nov. 686 = 68 als Todesdatum des Vaters festzuhalten, ist aber mit Recht sowohl von Sternkopf (Wochenschr. f. klass. Philol. XXXVI [1919] 114—120) wie von Ciaceri, der diesen nicht kennt, als sachlich unzutreffend abgelehnt worden. Sternkopf verbindet die Todesnachricht ad Att. I 6, 2 mit der auf L. Cicero Nr. 26 bezüglichen ebd. 5, 1, sieht sie als einen nur um wenige Tage späteren Nachtrag dazu an und schreibt statt pater vielmehr frater nobis decessit; da im vorhergehenden Satz von dem lebenden leiblichen Bruder als Quintus frater die Rede war, so war in diesem frater = frater patruelis für den Empfänger Atticus ohne weiteres verständlich, während es einem Abschreiber unverständlich erschien und deshalb in pater geändert wurde. Jedenfalls ist diese Konjektur beachtenswert, und der Tod des Vaters im J. 690 = 64 wahrscheinlicher als 686 = 68; aus dem Alter des Sohnes wird man schließen dürfen, daß der Vater damals ein hoher Sechziger war.