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Reichsgräfin Gisela/I

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Textdaten
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Autor: Eugenie John Marlitt
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Titel: Reichsgräfin Gisela
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–15, 16–32
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Hinweis: Der Text wird aus technischen Gründen aufgeteilt in I und II.
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[1]
Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.

1.

Es war noch früh am Abend … Die kleine Neuenfelder Thurmglocke erhob pflichtschuldigst ihre Stimme und schlug sechsmal an – das klang wie ein halbersticktes Wimmern; denn der Sturm sauste durch die Schalllöcher und zerblies die dünnen Schläge nach allen vier Winden. Dabei lagerte bereits die undurchdringliche Finsterniß einer lichtlosen Decembernacht über der Erde. … Daß da droben die funkelnden Sternbilder in wandellosem Glanze allmählich aus dem tiefdunklen Grunde hervortraten, daß es unbeirrt leuchtete und glühte wie über der wolkenlosesten, blüthenduftenden Maiennacht – wer dachte daran angesichts der vorüberbrausenden Wetterwand, die Erde und Himmel schied? … Und wer dachte an lieblichen Mondenglanz, an das matte Silberlicht der nachtgeborenen himmlischen Wanderer inmitten der gewaltigen vier Wände, die wie ein riesiger Würfel in das Dunkel hineinragten und an deren Ecken der Sturm machtlos seine Flügel zerstieß? … Da drin funkelte und leuchtete es auch, aber in jener unheimlichen Gluth, die ein Feuerstrom, durch Menschenhand gelenkt und gebändigt, um sich verbreitet. Der Neuenfelder Hochofen war in voller Thätigkeit.

Ein greller, blutigrother Schein entströmte dem Feuerkern des Vorheerdes und floß über die nackten Quadern der Mauern und die geschwärzten Gesichter der schweißtriefenden Arbeiter.

Was dort hervorquoll in fluthender Bewegung und als glühende Thränen geschmeidig vom Gießlöffel herabtropfte, es waren die Erze, die, Jahrtausende starr und kalt im Panzer der Erde zusammengeschichtet, nun während eines einzigen furchtbaren Lebensmomentes in einander rannen, um dann nach menschlicher Willkür und Laune in irgend einer Form zu erstarren!

Die Fenster des mächtigen Baues schimmerten nur matt nach außen, aber droben aus der Esse lohte die weithin sichtbare Gluth, dann und wann eine Funkengarbe ausstoßend, als ob eine vermessene Faust eine Handvoll Sterne gegen den Himmel schleudern wollte – sie zerstoben wirkungslos im Dunkel, wie der Menschengedanke an den sieben Siegeln des großen Geheimnisses über uns.

In dem Augenblick, als es sechs schlug, wurde die Hausthüre der unweit der Gießerei gelegenen Hüttenmeisterwohnung leise aufgemacht; das sonst so vorlaute, unermüdlich nachklingende Thürglöckchen schwieg dabei – es wurde offenbar mit vorsichtiger Hand gehalten, während eine Frau auf die Schwelle trat.

„Ei du liebe Zeit, ‘s ist unterdeß Winter geworden! Da haben wir ja mit einemmal den allerschönsten Weihnachtsschnee!“ rief sie. In diesem Ausruf lag eine heitere Ueberraschung, ein Ton, den man anschlägt beim plötzlichen Wiedersehen eines alten, lieben Bekannten. … Die Stimme klang fast zu sonor und markig für eine Frauenstimme, allein das verschlug den Pfarrkindern von Neuenfeld sehr wenig – sie schwuren auf das, was die Stimme ihrer Pfarrerin sagte, wie auf das Evangelium.

Die Frau schritt vorsichtig die schlüpfrige Freitreppe hinab. In dem langhingestreckten, schwachröthlichen Lichtstreifen, den ihr Laternchen über den Weg warf, flirrte und flimmerte es einen Augenblick ungestört im lautlosen Niedersinken. Aber nun fegte ein jäher Windstoß um die Ecke; er warf der Pfarrerin den großen Kragen ihres Mantels über den Kopf und zerstiebte den lockeren, federweißen Flaum auf Weg und Steg abermals in Atome.

Die Pfarrerin schlug den Kragen zurück, schob mit der Linken den gelockerten Kamm fester in die gewaltigen Haarflechten des Hinterkopfes und zog das um die Ohren gebundene Tuch schützend über die Stirn. Wie ein Reckenweib stand die große, festgegliederte Gestalt inmitten des stäubenden Schneewirbels, und der Laternenschein beleuchtete Züge voll Kraft und Frische, eines jener energischen Gesichter, über welche der strenge Athem des Winters, wie der Wechsel des Lebens gleich erfolglos hinstürmen.

„Nun will ich Ihnen etwas sagen, mein lieber Hüttenmeister!“ wandte sie sich an den Mann zurück, der sie begleitet hatte und auf der Thürschwelle stand. „Da drin durfte ich‘s nicht. … Meine Tropfen sind gut, und auf den Fliederthee lasse ich auch nichts kommen, aber es kann nicht schaden, wenn die alte Röse heute Nacht aufbleibt – vielleicht behalten Sie auch einen von den Hüttenleuten in der Nähe, wenn etwa doch der Doctor herüber müßte.“

Der Mann machte eine Bewegung des Schreckens.

„Tapfer, tapfer, lieber Freund, es kann nicht immer so glatt abgehen im Leben!„“ ermuthigte die Pfarrerin. „Uebrigens ist ja solch ein Doctor beileibe kein Währwolf, und man braucht nicht gleich an das Schlimmste zu denken, wenn man einmal mit ihm zu thun hat. … Ich bliebe gern noch da – denn wie ich merke, sind Sie durchaus kein Held am Krankenbett – aber meine kleinen Panduren daheim wollen essen; ich habe den Kellerschlüssel bei mir und Rosamunde kann nicht über die Kartoffeln. … Und nun Gott befohlen! Geben Sie die Tropfen hübsch pünktlich – morgen in aller Frühe bin ich wieder da!“

Sie ging. Ihre Kleider blähten sich und flatterten wild auf, und der falbe, zitternde Lichtfleck der beunruhigten Laternenflamme hing bald droben an knarrenden Baumästen, bald kroch er scheu [2] am Boden hin; aber mochte der Sturm auch wüthend hinter ihr her sausen, die Frau ließ sich nicht treiben, ihre Schritte blieben fest und gleichmäßig, bis sie verhallten.

Der Hüttenmeister lehnte noch einen Moment in der Thür und seine Augen verfolgten den tröstlichen Lichtschein, bis er in der Ferne erlosch.

Mittlerweile war es in den Lüften stiller geworden – der Sturm hielt den Athem an; von fern tosten die niederstürzenden Wasser eines Wehres und aus der Gießerei scholl das dumpfe Geräusch der Arbeit. Aber auch eilig sich nähernde Fußtritte wurden laut und bald darauf bog eine männliche Gestalt um die Hausecke. Ein Soldatenmantel flog um die hageren Glieder des Mannes; er hatte sich die Schildmütze mit dem Taschentuch auf dem Kopfe festgebunden und vor ihm her fiel es hell aus der großen Stalllaterne, die er in der Linken trug.

„Was, zwischen Thür und Angel bei dem Lüftchen, Hüttenmeister?“ rief er, als das Laternenlicht auf den einsam dort lehnenden Mann fiel. „Aha, da ist also der Student nicht angekommen und Sie schauen noch nach ihm aus – wie?“

„Ach nein, Berthold ist schon seit heute Nachmittag da, aber er ist krank und macht mir viel Sorge,“ entgegnete der Hüttenmeister. „Kommen Sie doch herein, Sievert!“

Sie traten in das Haus.

Es war eine große, ziemlich niedrige Stube, die der Hüttenmeister öffnete. Draußen tobte eben der Sturm mit erneuter Wuth gegen die alten Wände, die, nach innen so traut und friedlich, liebe Familienbilder auf ihrer helltapezirten Fläche trugen.

Ein feiner Luftzug drang freilich durch die Fensterritzen und bewegte dann und wann leise die großgeblumten Kattunvorhänge, aber sie verhüllten fest zusammengezogen die Scheiben und das wilde Schneetreiben jenseits derselben. Ist etwas geeignet, eine Familienstube auf dem Thüringer Wald heimisch und gemüthlich zu machen, so ist es der gewaltige Kachelofen, der oft selbst im Hochsommer seine Thätigkeit nicht einstellt. Auch hier ragte er riesig und dunkel weit in das Zimmer herein, und die erhitzten Kacheln verbreiteten eine gleichmäßige köstliche Wärme.

So hätte die altväterisch eingerichtete Eckstube leicht das Gefühl der Behaglichkeit erwecken können, wäre nicht der ominöse Duft des Fliederthees gewesen, der die Luft erfüllte; ein eilig aus grünem Papier hergestellter Schirm dämpfte das Lampenlicht, und der Perpendikel hing bewegungslos in der hölzernen Wanduhr – lauter Anstalten, die eine vorsorgliche Frauenhand verriethen.

Der Gegenstand aller dieser Umsicht und Fürsorge schien sich jedoch vorläufig noch energisch gegen die Krankenrolle zu sträuben.

Es war ein blutjunges Menschenkind, das den Kopf unaufhörlich zwischen den weißen Kissen des auf dem Sopha improvisirten Lagers hin und her warf; die wärmende Decke war zum Theil auf den Fußboden herabgeglitten und der ungeduldige Patient schob eben die gefüllte Theetasse grollend weit von sich, als die beiden Männer eintraten.

Wir sehen jetzt den Hüttenmeister in einem vollen Strahl der Beleuchtung, den der unbedeckte Theil der Lampe auf ihn wirft. Er ist ein auffallend schöner junger Mann von imposanter Gestalt. Wir begreifen nicht, wie er sich unter der niedrigen Zimmerdecke so zwanglos bewegen kann – man meint, sie müsse seinen lockigen Scheitel streifen. Seltsam contrastirt das aschblonde Haupt- und Barthaar mit den schöngeschwungenen, sehr dunklen Brauen; sie sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen und geben dem Gesicht etwas unbeschreiblich Melancholisches – der Volksglaube sieht in dieser eigenthümlichen Bildung einen Stempel des Unglücks, die untrügliche Prophezeiung eines traurigen Schicksals.

Dem unbetheiligten Beobachter würde es sicher nicht einfallen, den Kranken und diesen hochgewachsenen Mann für Blutsverwandte zu halten. Dort das knabenhafte magere Gesicht mit dem bleichen, alabasterartigen Teint und der römischen Profillinie unter einer köstlichen Fülle bläulich schwarzer Locken, und hier der echt deutsche Typus, eine blühend kräftige, blondbärtige Männergestalt, das untadelhafte Bild der Thüringer Edeltanne – und doch sind die Beiden Brüder, zwei Menschen, die nur noch ein Familienband besitzen, das unter sich.

Der Hüttenmeister trat rasch an das Bett, hob die Decke empor und umhüllte den Kranken bis über die Schultern; dann nahm er die verächtlich weggeschobene Tasse und hielt sie an dessen Lippen. Das geschah schweigend, aber mit einem unabweisbaren Ernst, gegen den sich schlechterdings nichts einwenden ließ. Der rebellische Patient wurde plötzlich sanftmüthig und leerte die Tasse pflichtschuldigst bis auf die Neige; darauf ergriff er mit einer leidenschaftlich zärtlichen Geberde die Hand des Bruders und seine Wange daran schmiegend, zog er sie mit sich auf das Kissen nieder.

Währenddem war der Mann im Reitermantel auch näher getreten.

„Na, junger Herr, ist das auch eine Art, in’s Quartier einzurücken? Pfui, schämen Sie sich!“ sagte er, indem er die Laterne aus den Tisch stellte. Diese Anrede sollte jedenfalls humoristisch klingen, durch die eigenthümlich rauhe und ungefügige Stimme des Mannes erhielt sie jedoch weit mehr den Charakter einer derb polternden Zurechtweisung – ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch das unwandelbar finstere Gepräge der Gesichtszüge, – sie sahen fast zigeunerhaft dunkel aus der Umhüllung des grellrothen, baumwollenen Taschentuchs.

Der Angeredete fuhr empor; eine jähe Röthe flammte über das blasse Gesicht, und seine aufgeregten Augen hefteten sich finster forschend auf den Eingetretenen, den er bis dahin nicht bemerkt hatte. Dabei zuckte seine Rechte unwillkürlich nach dem auf dem Tisch liegenden Cereviskäppchen, dem Abzeichen seiner Würde als Student und Burschenschafter.

„Laß gut sein, Berthold!“ sagte, lächelnd über diese Bewegung, der Hüttenmeister. „Es ist ja unser alter Sievert –“

„Ei, was wird denn dies junge Blut da vom alten Sievert wissen?“ fiel ihm der Mann im Soldatenmantel trocken in das Wort. „Als flotter Bursche weiß Einer nicht mehr, wie gut ihm der Kinderbrei geschmeckt hat – gelt, Herr Student? … Da, just auf der Stelle, wo Sie jetzt liegen, stand dazumal die Wiege, und da lag der kleine Kerl drin und strampelte und schrie nach der todten Mutter und schlug dem Vater und der Röse den Breilöffel aus der Hand – weiß der Henker, was Ihnen an meinem Gesicht so besonders gefallen hat, aber da wurden Boten über Boten in das Schloß geschickt, und der Sievert mußte her und den Kleinen füttern. … Hei, wie er da lachte! Die Thränen kollerten noch über die Backen, aber der Brei rutschte glücklich hinunter!“

Der Student reichte dem Sprechenden beide Hände über den Tisch hinüber. Der knabenhafte Trotz in seinen Zügen war einem fast mädchenhaft kindlichen Ausdruck gewichen. „Das hat mir mein Vater oft genug erzählt,“ entgegnete er mit weicher Stimme, „und seit Theobald Hüttenmeister in Neuenfeld geworden ist, hat er mir auch viel von Ihnen geschrieben.“

„So, so – kann sein,“ brummte Sievert. Damit schien er jede weitere Erörterung abschneiden zu wollen. Er schlug seinen Mantel zurück, und der Anblick, den er jetzt darbot, machte den Studenten hell auflachen. Am rechten Arm hing ihm ein Henkeltopf aus weißem Blech, daneben ein Weidenkorb, in welchem ein Brod lag; an einem seiner Rockknöpfe baumelte ein Bündel Unschlittkerzen, und aus der Brusttasche guckte der Glasstöpsel eines Rumfläschchens im Verein mit einer gefüllten Papierdüte.

„Ja, ja, da lachen Sie nun!“ sagte der Alte – diesmal konnte man leicht eine starke Dosis Groll, aber auch einen Anstrich von Resignation aus der harten Stimme heraushören – „Dazumal war ich Kindermagd und jetzt bin ich Küchenjunge – hat mir mein Vater auch nicht an der Wiege gesungen. … Was soll man nun da sagen! … Die alte Frau trinkt keine Ziegenmilch, das weiß Fräulein Jutta besser als ich; aber wenn ich nicht daran denke, daß Kuhmilch im Dorfe geholt wird, da geschieht es auch ganz gewiß nicht. … Ich komme heute mit todtmüden Beinen aus dem Walde, habe ein hübsches Bündel Holz zusammengeschlagen und freue mich auf die warme Stube – ja post festum, da ist die Milch vergessen, keine Krume Brod im Schranke, und auf dem Leuchter steckt das letzte Stümpfchen Licht. Fräulein Jutta aber ist aufgedonnert, als ging’s zu einer Hoftafel beim Kaiser von Marocco, und spricht von Thee-Gesellschaft; na, die hätte uns noch gefehlt im Waldhause! Möchte nur wissen, mit was sie den Herrn Studenten hat tractiren wollen! O über –“

Während Sievert’s Schilderung war der Hüttenmeister flammendroth geworden; bei dem letzten Ausruf aber hob er drohend den Zeigefinger, und ein so zornsprühender Blick traf den [3] Alten, daß er scheu die Augen wegwandte und den Satz unvollendet ließ. Der Student dagegen war das Bild der gespanntesten Aufmerksamkeit – er hatte beide Arme auf den Tisch gelegt, und seine Augen hingen unverwandt an den Lippen des Sprechenden.

„Na, und Bauernbrod kann ich der alten Frau auch nicht auf den Tisch bringen,“ fuhr Sievert nach einer Pause ablenkend fort; „da bin ich noch nach Arnsberg gelaufen, und der Schloßverwalter hat mir nolens volens dies Brod da herausrücken müssen. … Der weiß übrigens auch nicht, wo ihm der Kopf steht. In der Küche hantirt der Koch aus A.; ein halb Dutzend Bedienten rennt hin und her; es wird gesäubert, geheizt und beleuchtet aus Leibeskräften – Seine Excellenz, der Minister, kömmt trotz Sturm und Schneewetter heute Abend noch nach Arnsberg. In A., und ganz besonders in seinem Hause, ist der Typhus ausgebrochen, und da will er die kleine Gräfin in Person auf das einsame Arnsberg retten.“

Ein Zug tiefen Mißbehagens ging durch das schöne Gesicht des Hüttenmeisters. Er schritt rasch einigemal im Zimmer auf und ab.

„Und wissen Sie nicht, wie lange der Minister hier bleiben will?“ fragte er stehenbleibend.

Sievert zuckte die Achseln.

„He, was weiß ich!“ sagte er. „Ich denke mir übrigens, es ist ihm weniger um das Kind, als um seinen eigenen heiligen Leichnam zu thun, und da wird er ja wohl abwarten, bis Freund Hein aus A. wieder abgezogen ist.“

Das waren offenbar keine erfreulichen Nachrichten für den jungen Mann; er blieb einen Moment nachdenklich mitten im Zimmer stehen, enthielt sich jedoch jeder weiteren Bemerkung.

„Sievert,“ sagte er nach einer Pause, „erinnern Sie sich des Herrn von Eschelbach?“

„Ei ja – er war Leibarzt beim Prinzen Heinrich und hat mir einen Armbruch glücklich curirt. … Vor circa sechszehn Jahren ist er über's Meer gegangen und hat nie wieder ein Sterbenswort von sich verlauten lassen – so viel ich mir denke, haben ihn die Seefische gefressen.“

„Bis jetzt noch nicht, Sievert!“ entgegnete lächelnd der Hüttenmeister. „Heute Nachmittag kam ein weitgereister, an meinen verstorbenen Vater adressirter Brief in meine Hände. Der Todtgeglaubte schreibt eigenhändig, daß er mit wehmüthiger Freude der Zeit gedenke, wo er von Schloß Arnsberg aus nach dem Hüttenmeisterhaus in Neuenfeld gewandert sei, um saure Milch unter den Linden zu essen. … Er lebt unverheirathet und kinderlos in Brasilien, ist unumschränkter Besitzer großer Bergwerke, Eisengießereien etc., führt aber ein völlig einsiedlerisches Leben und bittet schließlich meinen Vater, ihm einen seiner Söhne zu schicken, da er oft leidend sei und einer Stütze bedürfe.“

„Hei, da giebt's eine fette Erbschaft!“

„Sie wissen, Sievert, daß ich um keinen Preis von Neuenfeld fortgehen werde,“ sagte der Hüttenmeister kurz.

„Und mir fällt es nicht ein, mich auf diese Weise von Theobald zu trennen – Herr von Eschebach mag seine Gold- und Silberminen behalten!“ rief lebhaft der Student, auf dessen Wangen allmählich zwei rothe Flecken zu glühen begannen.

„Nu, nu, da behält er sie eben!“ brummte Sievert, indem er sich, wie in Gedanken verloren, mechanisch auf einen Stuhl niederließ. „So, so, der ist also reich geworden!“ sagte er nach einer Weile und rieb sich nachdenklich das stachlige, graubartige Kinn. „Von Haus aus war er eigentlich ein armer Schlucker –“

„Und weshalb ist er nach Brasilien gegangen?“ unterbrach ihn der Student.

„Ja, weshalb – da fragen Sie nach zu viel. Uebrigens – gedacht hab' ich mir manchmal, daß den eine einzige schlimme Nacht fortgetrieben hat.“

In diesem Augenblick schnob der Sturm mit einem schrillen, anhaltenden Pfeifen draußen um die Ecke. Die Fenster klirrten, und ein Dachziegel krachte zerberstend auf das Steinpflaster.

„Hören Sie?“ fragte Sievert, mit dem Daumen über die Schulter nach dem Fenster zeigend. „Just so eine Winternacht war's – eine Nacht, in der die ganze Höllenjagd über den Thüringer Wald hintobte. Das heulte, pfiff und gellte, es rüttelte an dem alten Arnsberger Gemäuer, daß die Bilder an den Wänden zitterten, und aus den Kaminen schossen die Flammen weit in die Zimmer herein – es war, als sollte das Schloß von der Erde weggefegt werden … Am anderen Morgen lagen alle Steinbilder umgerissen im Schloßgarten, dickstämmige Bäume waren geknickt und zersplittert wie Rohr, und im Schloßhof lagen Glassplitter, Ziegelscherben und zerbrochene Fensterladen handhoch durcheinander – auf dem verwüsteten Dach aber steckte die Trauerfahne, und drin in Arnsberg wurde mit allen Glocken geläutet, weil in der Nacht Prinz Heinrich gestorben war.“

Er schwieg einen Moment; dann lachte er rauh auf.

„Was half ihnen alles Läuten!“ fuhr er fort. „Was half der Fürstin die kohlschwarze Schleppe und Schneppe und dem Lande das schwarzgeränderte Wochenblatt – sie mußten sich doch Alle den Mund wischen, denn es war Todtfeindschaft gewesen bis an's Ende … Das müssen Sie ja noch wissen, Hüttenmeister!“

„Ja – ich war damals noch ein Kind, aber ich erinnere mich recht gut, daß Gehässigkeiten zwischen A. und Arnsberg hin- und herflogen, und daß der Prinz seinen Leuten nicht einmal den Umgang mit den fürstlichen Beamten gestatten wollte – mein Vater hatte als herrschaftlicher Hüttenmeister auch darunter zu leiden.“

„Richtig – und wer von den Cavalieren hielt damals zu dem Prinzen Heinrich und hauste mit ihm auf Arnsberg?“

„Nun, das war Ihr Herr, Sievert, der Major von Zweiflingen, Herr von Eschebach und der jetzige Minister Baron Fleury.“

„Ja der!“ lachte Sievert abermals bitter auf. „Der war ein Pfifficus sein Lebenlang! Die beiden Anderen kamen nie in die Stadt, geschweige denn an den Hof – es wär' ihnen auch schlecht genug bekommen – Seine Excellenz aber scherwenzelte hüben und drüben. Weiß der Henker, wie er's angefangen hat, aber jede Partei drückte die Augen zu, wenn er mit der andern verkehrte – das kann eben nur so ein französischer Windbeutel, und dem glückt's auch bei den – pfiffigen Deutschen … Ja, die am Hofe zu A. haben wohl gemeint, er könne Frieden stiften und ihnen schließlich zu ihrem Erbe verhelfen – ha, ha, sie Alle waren dem Weiberkopfe nicht gewachsen, der im Wege stand!“ -

„Die Gräfin Völdern“ – warf der Hüttenmeister ein – ein tiefer Schatten breitete sich über sein Gesicht.

„Ja, ja, die Gräfin Völdern drüben auf Greinsfeld … Der Prinz nannte sie seine Freundin, – die Leute aber waren unhöflicher und nannten sie noch ganz anders, und sie hatten Recht. Die wickelte Seine Durchlaucht um die Finger, sie machte ihn recht und link, und wenn er sagte ,weiß', da sagte sie ‚schwarz‘, und dabei blieb's auch allemal. … So viel Nichtsnützigkeit, solch' ein gerütteltes Maß voll Sünden und – keine Strafe! Das elende Weib ist gestorben, leicht und selig wie eine Gerechte. Sie hat nur einmal Furcht und Angst ausgestanden, und das war in selbiger Nacht!“

Was für Erinnerungen mußten in dem alten Mann aufsteigen daß er so ganz und gar seine gewöhnliche Gangart verließ! Der Zug der Verschlossenheit, des verbissenen, wortlosen Grimmes konnte nicht treffender charakterisirt werden, als durch diese nach innen gekrümmten Lippen mit den herabgezogenen Mundwinkeln – und jetzt war dieser schweigsame Mund beredt; die monoton rauhe Stimme lebte unheimlich auf in den Tönen des Hasses und der Verachtung und hatte etwas so Zwingendes, daß der Kranke das fieberhafte Hämmern hinter seiner Stirn vergaß, während sein Bruder gespannt und hingerissen Dingen lauschte, die er in ihrer Entwickelung zum Theil bereits kannte.

„Die Schloßleute munkelten schon längst, daß es nahe am Ende sei mit dem Regiment der Gräfin,“ fuhr Sievert fort. „Da wollte ein Jeder beim Prinzen verschiedene Anzeichen observirt haben – nur sie nicht; sie war nie toller und boshafter gewesen, und weil sich der Prinz eines schönen Tages einfallen läßt, seine verstorbene Frau zu loben, so beschließt sie in selbem Augenblick, einen großen Maskenball auf ihrem Gute zu halten und zwar – just am Todestag der armen, braven Prinzessin … Das schlug dem Faß den Boden aus! Der Prinz ist ganz blaß geworden vor Aerger und hat ihr streng befohlen, die Mummerei aufzuschieben – da hat sie hell aufgelacht, hat sich auf dem Absatz ’rumgedreht und gemeint, der Tag passe ihr gerade, und sie wolle auch recht schön beleuchten zu Ehren der Prinzessin. …

Also der Abend kam, und was sich Niemand, am allerwenigsten aber die Frau Gräfin, erwartetet hätte: der Prinz blieb richtig zu Hause, und die drei Herren, mein Major, der Baron [4] Fleury und Herr von Eschebach, die auch eingeladen waren, mußten bei ihm bleiben. … Der Prinz hatte mich gern, und wenn er Abends mit den Herren spielte, da schickte er seine Lakaien fort, und ich mußte auf seinen Befehl allein im Vorzimmer bleiben. …

Da saß ich denn auch mutterseelenallein im Fenster und horchte auf den gräulichen Tumult draußen. – Herr, um solch’ ein altes Schloß heult der Sturm in einer ganz besonderen Tonart! Da singt und klingt Alles mit, was das alte Gemäuer gesehen hat – Turniren und Banketiren, und was alles für todte Herrlichkeiten – aber auch Verbrechen und Unthaten die schwere Menge! … Es hatte Elf geschlagen, aber überall im Schlosse brannten noch die Lichter, kein Mensch traute sich in’s Bette … auf einmal wurden d’rin im Zimmer die Stühle fortgeschleudert, es riß an der Klingel wie Sturmläuten, und wie ich die Thüre aufmache, da liegt Prinz Heinrich todtenblaß, mit weit aufgerissenen Augen in seinem Lehnstuhl, und das Blut stürzt ihm stromweise aus Mund und Nase. … Die Schloßleute liefen zusammen und klagten und jammerten; aber hinein durfte Niemand mehr – ich auch nicht. …

Herr von Eschebach verstand seine Sache, er war der beste Doctor weit und breit, es heißt aber: ‚für den Tod kein Kraut gewachsen ist’ – dem Prinzen seine Stunde hatte geschlagen – und da kam mit einemmal Baron Fleury heraus und verlangte ein Pferd. ‚Es geht zu Ende mit dem Herrn,’ sagte er zu dem Stallmeister so laut, daß es die Leute noch auf der untersten Treppenstufe hören konnten; ‚ein Ritt nach A. in dieser Nacht ist so gut wie Selbstmord; aber der Prinz will sich mit dem Fürsten versöhnen – ein Schuft, der nicht sein Leben dran setzt’ … Fünf Minuten später hörte ich ihn auf der Chaussee nach A. hinjagen. … Von dem Augenblick an verhielten sich Alle im Schlosse mäuschenstill – die Gräfin sollte ja tanzen, tanzen, bis – der Fürst sein rechtmäßiges Erbe in der Hand hatte. … Da stand ich nun wieder im Fenster und zählte in Todesangst die Minuten – ein scharfer Reiter brauchte eine gute Stunde nach der Stadt.

Mein Major und Herr von Eschebach waren allein beim Prinzen; er hatte noch seine volle Besinnung, – wenn ich der Thüre nahe kam, hörte ich deutlich, wie er mit pfeifendem Athem, ruckweise, den Herren dictirte. … Dort lag Schloß Greinsfeld – wär’ eine klare Nacht gewesen, da hätte ich von meinem Fenster aus ‚die Beleuchtung zu Ehren der Prinzessin Heinrich’ als hellen Punkt sehen können. ‚Hei, tanze Du nur und jubilire da drüben!’ dachte ich, wie die Schloßuhr draußen Zwölfe herabrasselte. ‚Nur noch eine einzige Stunde, und Dein Tanz hat eine halbe Million gekostet!’ … Im selben Augenblick kam die Windsbraut wieder daher gejohlt – ein Schlot stürzte ein, und das Mauerwerk prasselte nieder auf das Pflaster im Schloßhof, aber es klang auch dazwischen wie Pferdestampfen und Räderrollen – da sprang die Thüre auf, und da stand sie – Herr, da stand das Weib! Der Satan mußte sie hergeführt haben! Es weiß bis heute Keiner, was da geschehen ist, und wer den Verräther gemacht hat! … Sie riß den Pelzmantel ab, schleuderte ihn auf den Boden und lief nach dem Sterbezimmer; aber da stand ich schon und hielt das Thürschloß in der Hand. ‚Da hinein darf Niemand, Frau Gräfin!’ sagte ich. Sie stand einen Augenblick wie versteinert; ihre funkelnden Augen bohrten sich wie Mordspitzen in mein Gesicht. ‚Unverschämter, das soll Dir theuer zu stehen kommen!’ zischte sie. ‚Fort, mir aus dem Wege!’ … Ich wich und wankte nicht. Drin im Zimmer mußten sie aber doch was gehört haben – mein Major kam heraus. Er schlug gleich die Thüre hinter sich zu und nahm meinen Vertheidigungsposten ein, während ich auf die Seite trat. … Es war merkwürdig – er hatte auf einmal etwas im Gesicht, was mir nicht gefiel. … Sie haben die Gräfin gekannt, Hüttenmeister.“

„Ja, sie galt für eine der schönsten Frauen ihrer Zeit. … Drüben im Schloß Arnsberg hängt ja noch ihr Bild – eine geschmeidige, schlanke Gestalt, große kohlschwarze Augen in einem schneeweißen Gesicht, und darüber förmlich strahlendes, goldblondes Haar“ –

„Das war’s eben!“ unterbrach Sievert grimmig lächelnd die Schilderung. „Weiß der Henker, wie sie’s angefangen hat! Sie war dazumal hoch in den Dreißigen und hatte schon eine Tochter von siebzehn Jahren; aber sie sah aus wie Milch und Blut – die Jüngste konnte nicht aufkommen neben ihr, und kein Mensch wußte das besser, als sie selbst. … Das elende Komödiantenweib! Wie zerbrochen fiel sie auf einmal vor meinem Herrn hin, und schlang ihre weißen Arme um seine Kniee. Sie steckte noch in den Maskenkleidern – das funkelte und glitzerte, und das gelbe Haar, das ihr der Sturm auseinandergerissen hatte, schleifte lang nach auf dem Boden; an der Seite des Gesichts aber floß es schmal und roth nieder und ringelte sich über den weißen Hals hin, wie eine kleine Schlange – hm, eine Schlange mußte freilich dabei sein, wo eine Mannesehre zerbrach, der bis dahin kein Fleckchen nachzusagen war! … Herr, mir zuckte es in den Fäusten, die Erbschleicherin von der Schwelle wegzujagen, wo sie nichts mehr zu suchen hatte, – und er stand da, kreideweiß, und entsetzte sich über einen Hautriß an der Stirn des elenden Weibes – ein Stein aus dem niederprasselnden Mauerwerk hatte ihre Stirn gestreift – wenn er nur besser getroffen hätte! … ‚Ich bin verwundet,’ sagte sie so schwach, als ging’s zu Ende mit ihr; ‚wollen Sie mich hier umkommen lassen, Zweiflingen?’ Und sie haschte nach seiner Hand und zog sie an ihren lügnerischen, falschen Mund. … Hei, da schlug es wie eine Feuerflamme über sein Gesicht! Er riß die Frau in die Höhe und – ich weiß bis heute nicht, wie es zuging – sie mußte ein Teufel sein an Schlauheit und Behendigkeit, im Umsehen war sie drin im Zimmer und warf sich vor dem Sterbebett nieder. … ‚Fort, fort’ schrie der Prinz und stieß mit den Händen nach ihr; aber da schoß ihm auch schon wieder ein Blutstrom aus dem Mund, und zehn Minuten nachher war’s aus und vorbei mit ihm.“

[17] „Die Nacht ist keines Menschen Freund, heißt’s,“ unterbrach sich der alte Soldat, herb auflachend; „die Spitzbuben haben keinen besseren Freund! Möchte wissen, ob die Frau Gräfin auch alleinige Erbin geworden wär’, wenn die helle Sonne in‘s Sterbezimmer geschienen – glaub‘s nicht! … Wie der Prinz den letzten Seufzer ausgestoßen hatte, da stand sie auf – sie sah aus wie ein Geist, aber nicht eine Spur von Mitleid, oder gar eine Thräne war auf dem hochmütigen, weißen Gesicht zu sehen – also, sie stand auf und schlug mir die Thüre vor der Nase zu. Ueber eine halbe Stunde lang hat sie drin in einem fort gesprochen, was, das weiß ich nicht – ich hörte nur die Todesangst in ihrer Stimme. Nachher kamen die beiden Herren heraus und zeigten den Schloßleuten den Tod des Prinzen an. Mein Major ging an mir vorbei, als sei ich auf einmal ein Mauerstein oder so was geworden – er sah mich nicht an … Herr, ich sagte vorhin, daß in der Nacht die ganze wilde Jagd über den Thüringer Wald hingetobt sei – nu ja, die Gräfin kam als Frau Venus mitgeritten, und wer der Tannhäuser war, das weiß ich – mein Herr war seitdem ein verlorener Mann, die Gräfin aber die reichste Frau weit und breit. Das Testament, das sich vorfand, fiel in die Zeit, wo die Feindschaft mit dem Hofe zu A. am schlimmsten und die Macht der Gräfin am höchsten gewesen war – es soll förmlich niet- und nagelfest gewesen sein, und kein Gerichtshof hat dran rütteln können. Was da war, gehörte der Erbschleichern, nicht einmal die Armen im Lande kriegten einen Groschen“

„Verwünscht, daß der Fürst zu spät kam!“ stieß der Student hervor und schlug mit der Hand auf den Tisch.

„Zu spät?“ wiederholte Sievert. „Er kam gar nicht. Gegen Morgen fingen Bauern in der Nähe von A. ein herrenloses Pferd ein, und der Baron Fleury wurde im Chausseegraben gefunden. Er war im Hinreiten nach der Stadt mit dem Pferde gestürzt und hatte sich die Gliedmaßen dergestalt verstaucht, daß er nicht von der Stelle konnte. … Hei, der sah aus, wie er auf der Trage eingebracht wurde! Die Kleider zerrissen und voll Chausseeschlamm, und die Haare, die der Pomadenheld alle Tage so schön kräuseln und ringeln ließ, hingen wie bei einem Zigeuner über das Gesicht! … Nu, er hat sein Schmerzensgeld vollauf gekriegt. Es ist ihm nicht vergessen worden, daß er sein Leben in die Schanze geschlagen hat, um dem Fürstenhause die Erbschaft zuzuwenden, und drum ist er auch schließlich – Minister geworden.“

„Und Herr von Eschebach?“ frug der Student.

„Ja so, Herr von Eschebach!“ wiederholte Sievert, indem er sich die Stirn rieb. „Um seinetwegen hab' ich ja eigentlich die Schandgeschichte erzählt. Je nun, der verging so zu sagen seit der Nacht. Zuerst war er noch ziemlich lustig und guter Dinge – er ritt viel nach Greinsfeld; das hörte aber schon nach ein paar Tagen ganz auf. Er zog nach A., und just an dem Tage, wo in Greinsfeld große Hochzeit war – die junge Gräfin heiratete den Grafen Sturm – da ging er auf und davon. … Nu, der konnte freilich so mir nichts, dir nichts in die weite Welt gehen, er hatte ja nicht Weib und Kind, wie mein Major –“

Der Hüttenmeister war während der letzten Mittheilung des Alten an eines der Fenster getreten und hatte die Vorhänge auseinander geschlagen – ein berauschender Blumenduft strömte sofort in das Zimmer. Auf dem Fenstersims blühten in Töpfen Veilchen, Maiblumen und Tazetten. Der junge Mann schnitt erbarmungslos die schönsten Blüthen ab und schob sie vorsichtig in eine weiße Papierdüte. Bei Sievert’s letzten Worten bog er den Kopf in’s Zimmer zurück, ein rascher Seitenblick streifte die gespannten Gesichtszüge seines Bruders, wobei ihm eine helle Röthe über Stirn und Wangen flog.

„Aber nun lassen Sie die alten Geschichten ruhen, Sievert!“ rief er, die Rede des alten Soldaten rasch abschneidend, hinüber. „Sie selbst machen ja Vieles gut, was Andere verschuldet haben. Sie sind der getreue Eckardt –“

„Wider Willen, ganz wider meinen Willen, Hüttenmeister!“ fuhr Sievert grimmig auf, indem er sich erhob und hastig seine Sachen zusammenpackte. „Hat Einer seinen Herrn lieb gehabt, so bin ich's gewesen; ich wär’ für ihn durch’s Feuer gelaufen in der Zeit, wo er noch gut und strenge und ein rechter Cavalier war. Aber nachher wurde er der Gräfin ihr Narr, er spielte und trank mit dem Baron Fleury und dergleichen Gelichter die Nächte durch und machte alle ihre ,noblen Nichtsnutzigkeiten‘ mit; er mißhandelte seine Frau – die Frau, die ihr Herzblut tropfenweise für ihn hingegeben hätte – und da kam mir der Grimm, ich hab’ ihn gehaßt und verachtet, und es war sein und mein Glück, daß er mich fortschickte. … Ja, ja, da heißt’s: ,er ist auf dem Felde der Ehre gestorben!‘ Das klingt gar gewaltig und löscht alle Sünden aus; wenn aber Einer Bankerott macht und geht in der Verzweiflung sich selbst an's Leben, da ist er verurteilt für alle Zeiten. Herr, es war Alles fort und verjubelt bis auf die elende Barake, das Waldhaus, die Frau Gräfin wollte mit dem Bettler auch nichts mehr zu schaffen haben, und da ging der letzte [18] Zweiflingen nach Schleswig-Holstein, stürzte sich in den dichtesten Kugelregen und ließ sich niederschießen. Aber das ist beileibe kein Selbstmord - sollte 'mal Einer sich untersteh’n, das Ding so zu nennen! Die Cavalier-Ehre ist gerettet, und nun sieh du, Wittwe, wie du zurecht kömmst! Seine adligen Hände konnten wohl Geld ausgeben, aber rechtschaffen arbeiten und das gut machen, was sie gesündigt hatten, das durften sie nicht - dazu waren sie zu vornehm!“

Er warf den Mantelzipfel über die Schulter und griff nach der Laterne. „So, nun hab’ ich einmal meinem Herzen Luft gemacht!“ sagte er nach einem tiefen Athemzug. „Hätten Sie den Namen ,Eschebach‘ nicht genannt, wär’s nicht geschehen. … Und nun gehe ich heim und schleppe mein Joch weiter! … Aber noch Eines, Hüttenmeister. Nennen Sie mich nie wieder den getreuen Eckardt! Zu dem Posten gehört ein Herz voll Liebe und Geduld, und das hab’ ich nicht, absolut nicht. … Der Major hätte nur zehn solcher Briefe hinterlassen können, wie sie nach der Schlacht bei Idstedt einen bei ihm gefunden haben, ich wär’ deshalb noch lange nicht zu seiner Frau und Tochter gegangen, denn die Liebe war ausgelöscht, aber es war einmal eine Zeit, wo mein Vater sein Bauergütchen durch einen nichtsnutzigen Proceß verlieren sollte; da nahm der Major den besten Advocaten im Lande an und bezahlte ihn, und mein Alter blieb auf seinem rechtmäßig ererbten Eigenthum. An die Zeit dachte ich, packte meine sieben Sachen zusammen und wurde wohlbestallter Haushofmeister, resp. Küchenmagd, Holzlieferant, Scheuerfrau etc. etc. bei Frau von Zweiflingen.“

Der Ausdruck beißenden Hohnes in der Stimme des alten Soldaten wurde noch verstärkt durch die ironische Würde in Haltung und Geberden, die er bei Aufzählung seiner Functionen annahm. Auf den Hüttenmeister aber wirkte diese Art und Weise sichtbar peinlich und verletzend. Er kniff die Lippen unter dem Vollbart fest aufeinander, seine Brauen falteten sich noch düsterer als zuvor, und stillschweigend legte er die Papierdüte, die er bis dahin in der Hand gehalten, auf einen Seitentisch. Sievert trat jedoch mit zwei raschen Schritten zu ihm.

„Geben Sie nur her!“ sagte er, indem er die Düte ergriff und auf das Brod in seinem Korbe legte. „Den Gefallen thu' ich Ihnen schon. … Aendern kann ich doch nichts mehr, und die armen Dinger da sollen nicht umsonst abgeschnitten sein. … Will’s schon ausrichten, weshalb Sie heute nicht zur ‚Theegesellschaft‘ kommen können. Und nun gute Nacht und gute Besserung für den Herrn Studenten!“

Damit verließ er das Zimmer und trat wieder hinaus in den stürmischen Abend.




2.

Er schlug denselben Weg ein, wie die Pfarrerin – nach dem Dorfe Neuenfeld, das ohngefähr einen Büchsenschuß weit vom Hüttenwerk lag. Aber der Weg war unterdessen ein sehr mühseliger geworden, der Sturm hatte fußhohe Schneewälle zusammengefegt und quer über die Chaussee geworfen, und der Flockenwirbel erfüllte die Luft so compact und undurchdringlich, daß auch nicht eine Spur der Ebereschenbäume zu beiden Seiten der Chaussee sichtbar war.

Der alte Soldat stampfte mit Todesverachtung im förmlichen Sturmschritt vorwärts; ihm wurde wohl inmitten des Tumultes. Er schob die wohlbefestigte Mütze nach dem Hinterkopf zurück und ließ sich von dem kalten Schnee die Stirne bestäuben, hinter der die plötzlich wachgerüttelten alten, bösen Erinnerungen brannten. Das Knirschen und Krachen unter seinen Füßen erfüllte ihn mit einer fast kindischen Befriedigung; er trat noch einmal so fest auf und dachte an seinen Lebensweg, den er mit Mißbehagen und tiefem Widerwillen ging, da durfte er ja nie auftreten, wie er wollte, und wurde unter der Einlösung alter Verpflichtungen grau, verbittert und menschenfeindlich.

Neuenfeld, eines jener armseligen Gebirgsdörfer, wie der Thüringer Wald deren genug auf seinem Rücken trägt, lag in lautloser Stille vor ihm es sah aus, als habe es sich geduldig und willenlos ergeben in die kleine Thalsenkung hingestreckt, um sich nun bis an seine Schindeldächer einschneien und einsargen zu lassen. Am Tage erschienen die elenden, unregelmäßig durcheinander gestreuten Häuser mit den verwahrlosten Gärtchen an ihrer Seite nichts weniger als einladend; in diesem Augenblick jedoch, wo Schnee und Nacht die Lehmwände und grauen Schindeln deckten, fiel der matte Lichtschein der kleinen Fenster gastlich und anmuthend in das Schneewetter draußen. Die Glasscheiben bedurften keiner Laden oder verhüllenden Vorhänge - das besorgte der wohlgeheizte Ofen, der ja tröstlicher Weise selbst im ärmsten Hause nicht fehlt, er behauchte sie mit einer dicken Dunstschicht, und so konnte kein Nachbar bei dem anderen sehen, ob er seine Abendkartoffeln einfach in das Salzfaß tunke, oder sich den Luxus einiger Loth Butter auf seinem ungedeckten Tisch erlaube.

Sievert durchmaß das Dorf mit verdoppeltem Eilschritt. Die erleuchteten Fenster erinnerten ihn, daß daheim das letzte Stümpfchen Licht auf dem Leuchter steckte, es hatte bereits sieben geschlagen, eine ziemliche Strecke Weges lag noch vor ihm, und die Bewohner des Waldhauses waren auf das Abendbrod angewiesen, das er im Korbe heimbrachte. Am Ende des Dorfes verließ er die Chaussee, die auf der Thalsohle noch ein Stück fast schurgerade in die weite Welt hineinlief, und betrat, links abbiegend, einen jener vernachlässigten Holz-Fahrwege, die nach einem aufweichenden Regen bodenlos, bei frosthartem trockenem Wetter aber durch die fußtiefen Geleise geradezu halsbrechend werden.

Das Waldhaus führte seinen Namen mit Recht. Vor Jahrhunderten von einem Herrn von Zweiflingen lediglich zu Jagdzwecken erbaut, lag es wie verloren im Walde. Bewohnt hatten es seine Besitzer niemals; das eigentliche Haus bildete eine einzige ungeheure Halle, und nur die zwei ziemlich umfangreichen Thürme, die zu beiden Seiten der Vorderfronte emporstiegen, enthielten einige Gemächer, in denen ehemals die Theilnehmer an den großen Jagden übernachtet hatten. Nach dem Tode des Majors von Zweiflingen war dessen Wittwe in eine kleine Stadt Thüringens übergesiedelt. Ihr ganzes Einkommen bestand in einer sehr schmalen Pfründe, die ihr infolge einer uralten Zweiflingen’schen Stiftung zufiel - eine kleine Pension, die ihr der Minister, Baron Fleury, beim Fürsten von A. ausgewirkt, hatte sie zurückgewiesen. Den Luxus, irgendwelche Dienerschaft zu halten, schloß der kleine Etat selbstverständlich aus; Sievert mußte demnach selbst für seinen Unterhalt sorgen, und er konnte es, er hatte das von seinem Vater ererbte Bauerngütchen verkauft, und die Zinsen des Capitals reichten vollkommen aus für seine geringen Bedürfnisse. Vor zwei Jahren nun war ein Rückenmarkleiden bei Frau von Zweiflingen zum Ausbruch gekommen, sie hatte sich damals bereits dem Tode nahe gewähnt und mit fieberhafter Heftigkeit verlangt, auf Zweiflingen’schem Grund und Boden zu sterben. Unter unsäglichen Mühen war sie nach dem Waldhaus, dem letzten Rest ehemaligen glänzenden Besitzthums, geschafft worden und erwartete hier in völliger Abgeschiedenheit die erlösende Stunde.

Allmählich stieg der Boden unter Sievert’s Füßen aufwärts. Der alte Soldat watete bis über die Knöchel in dem zwischen den Furchen liegen gebliebenen Schnee und hatte schwer zu kämpfen mit dem Sturm, der hier widerstandlos über den baumlosen Wiesenabhang hinpfiff. Aber schon brauste es schutzverheißend von droben herab – wohl heult der Sturm um ein altes Schloß in einer ganz besonderen Tonart, allein nicht weniger ergreifend klingen seine Stimmen, wenn er die Waldwipfel schüttelt, wenn er jedes dürre, zusammengekrümmte Eichenblatt zu seinem Sprachrohr macht und die leblose Blätterleiche zwingt, klagend mitzusingen von todter Waldesherrlichkeit, von Lenzesliebe und Sommertraum, aber auch von alten, alten Zeiten, da das Trara aus dem Hifthorn des Knappen scholl und das goldige Haar der pürschenden Edeldame über dem Dickicht wehte.

Für Sievert klang auch noch Anderes mit in dem Tosen, das jetzt über seinem Haupte hinzog. Die zürnenden Stimmen der alten gestrengen Herren von Zweiflingen – sie hatten hier geherrscht mit dem ganzen Gewicht feudaler Macht und Rechte, sie hatten oft unerbittlich grausam und blutig gerichtet über den Walddieb und Wilderer in ihrem Revier – und jetzt mußte der alte Soldat auf dem nun fremden Grund und Boden die dürren Reiser auflesen, um den letzten Nachkommen des glänzenden Geschlechts eine warme Stube zu verschaffen, er war noch vor Kurzem in dem Untergehölz, inmitten der scheelsehenden Bettelkinder des Dorfes, umhergekrochen und hatte von dem scharlachnen Teppich der Preißelsbeeren ein paar Körbe voll eingeheimst, zur Erquickung der letzten Frau von Zweiflingen.

Der Alte pfiff leise zwischen den Zähnen, wie Einer, der ein [19] bitteres Auflachen verbeißen will. Plötzlich blieb er stehen – ein zornig knurrender Ton entschlüpfte seinen Lippen – von fern flimmerte ein matter Lichtpunkt durch die Flocken, die in diesem Augenblick minder dicht niederfielen.

„Aha, da hängt wieder einmal die Decke nicht vor dem Fenster! Bei dem Wind!“ murmelte er grimmig. „Das wird ja hübsch durch die Stube pfeifen! … Nun fehlt nur noch, daß sie auch den Ofen vergessen hat.“

Er lief vorwärts und lachte plötzlich auf – der Wind trug ihm einzelne volle Clavieraccorde entgegen.

„Nu ja, da haben wir’s – sie rast wieder einmal – konnte mir’s schon denken!“ grollte er weiterlaufend. Alle Reflexionen waren im Nu verflogen vor dem Aerger, der sich des alten Soldaten bemächtigte. Was kümmerten ihn jetzt noch die wehklagenden und zürnenden Schatten der längstvermoderten Herren von Zweiflingen – er hörte nur die allmählich zur rauschenden Melodie werdenden Töne und sah den Lichtschein, der, unruhig hin und her flackernd, in der That aus einem unverhüllten Thurmfenster fiel und dessen Eisenvergitterung in schwankenden, mattgezeichneten Umrissen auf die Schneedecke draußen warf.

Die Façade des Waldhauses trat um einige Schritte hinter die Thürme zurück; vor ihr hinlaufend und um eine Anzahl Stufen erhöht, verband eine Galerie die beiden Thürme. Der unmittelbar vom Waldboden hinaufführenden Treppe gegenüber, die das Steingeländer der Galerie in seiner Mitte durchbrach, erhob sich eine ungeheure Doppelthür, welche direct in die große Halle führte. Bei Sievert’s Hinaufsteigen floß der Laternenschein über zwei lebensgroße Steinfiguren, die auf der Brüstung zu beiden Seiten der Treppe standen, geschmeidige Jünglingsgestalten in Edelknabentracht. Das umlockte Haupt zurückgeworfen und mit hochgehobenem Arm das steinerne Horn an den Mund setzend, bliesen sie seit Jahrhunderten das Hallali hinaus in den Wald. … Was für eine Versammlung wäre das geworden, wenn der Ruf all die todten Schläfer geweckt hätte, die hier, trunken von Wein und Jagdlust, als Gebieter auf der Terrasse gestanden und in stolzer Unantastbarkeit ihr weites Waldrevier überschaut hatten, all die Vertreter so vieler Generationen, grundverschieden in Tracht, Sitten und Anschauungen, aber heute wie immer zweifellos einig in dem einen Gedanken: Um jeden Preis das Heft in der Hand behalten, herrschen und abermals herrschen, nicht um Haarbreite abgeben von den verbrieften Vorrechten, wohl aber sie ausdehnen und erweitern, wo irgend die Gelegenheit sich bietet!

Das unerhebliche Geräusch des Aufschließen dröhnte verzehnfacht drin im Hause wider, und als Sievert den Thürflügel öffnete, da that sich die Halle in ihren kolossalen Dimensionen auf wie ein unergründlicher Schlund. Sievert’s erste Schritte galten dem Ofen; er schlug die eine Thür zurück – die Kaminöffnung gähnte ihn in schwarzer Finsterniß an.

„Richtig – kein Funken Feuer! ’S ist eine Sünde und Schande!“ zürnte er. Im Nu hatte er sich der mitgebrachten Sachen entledigt und gleich darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen.

Der Sturm fährt durch den Schornstein und jagt die Flammenzungen weit in die Halle herein. Dann stiegen jedesmal gelbrothe Lichter über die gegenüberliegende Wand und aus verwitterten Rahmen treten, dicht neben einander gereiht, lebensgroße Männergestalten. Sie alle sind im Jägerkleide und meist in Situationen gemalt, welche den Muth und das aristokratische Blut der Zweiflingen kennzeichnen sollen – der Kampf mit riesigen Ebern und Bären ist als Sujet am meisten vertreten. Ueber der Bilderreihe aber tauchen Hirschköpfe auf, die stolze Last seltener Geweihe tragend, weiße Tafeln mit schwarzer Inschrift besagen, wann und von wem jedes der edlen Thiere erlegt worden ist, und greifen dabei in eine so graue Vergangenheit zurück, daß ein altadeliges Herz einen wahren Wonneschauer darüber empfinden könnte. Auch ein Orchester wird sichtbar; hier hatten einst die Trompeten geschmettert und mit lustigen Weisen die edlen Herren „ergötzet“ beim üppigen Jagdschmause – jetzt klang ein leises Meckern von dorther, der Bretterverschlag unter der Tribüne war zum Ziegenstall degradirt worden.

Sievert stellte einen Dreifuß in das Fester und einen Topf voll frisches Wasser darauf – es war die primitivste Kücheneinrichtung, die sich denken läßt – dann steckte er eine der mitgebrachten Talgkerzen auf einen Messingleuchter. Während dieser Verrichtungen wich ein stereotypes grimmiges Lächeln nicht einen Augenblick von seinem Gesicht. Durch die Wand klang nämlich das Clavierspiel immer voller und rauschender. Der alte Soldat war offenbar kein Musikschwärmer, sonst hätte er doch wenigstens die unglaubliche Fingerfertigkeit und Sicherheit an dem Spiel bewundern müssen – diese perlenreinen Triller und Läufer konnten sich vor dem ausgesuchtesten Concertpublicum hören lassen. Gleichwohl hatte der alte feindselige Kritiker nicht ganz Unrecht mit der naiven Bezeichnung „Rasen“. Die brillante Tarantella wurde in schwindelnd schnellem Tempo genommen – die Töne sprühten, aber wie sogenannte kalte Funken, sie zündeten nicht und ließen den Zuhörer im Zweifel, ob in den flinken, aber automatenhaft gleichförmig herunter spielenden Fingern auch wirklich lebenswarmes Blut pulsire.

Der alte Soldat nahm die Kerze und öffnete die Thür, die in das Erdgeschoß des südlichen Thurmes führte. Welche Gegensätze trennte diese Thür! Draußen die öde, leere Halle mit dem schauerlich widerhallenden Steinfußboden und dem Mangel an jeglichem Geräth, und hier ein Gemach, angefüllt mit einer wahrhaft kostbaren Möbeleinrichtung. Wir müssen sagen „angefüllt“, denn das Zimmer war ziemlich klein und umfaßte die vollständige Ausstattung eines ehemaligen großen Salons. Das war der letzte Rest alter Herrlichkeit, den die Wittwe zu behaupten gewußt hatte. Im ersten Moment blendete diese unerwartete Pracht, aber bald wich die Ueberraschung einem Gefühl der Wehmuth, des tiefen Mitleids. Diese geschnitzten Palissander-Etageren und Tische, diese Causeusen und Fauteuils mit dem aprikosenfarbenen Seidendamast-Bezug standen an Wänden, die eine uralte brüchige Ledertapete bedeckte; die gepreßten, ehemals vergoldeten Arabesken in derselben hatten längst ein schmutziges Braun angenommen und traten um so widerwärtiger da hervor, wo sie mit der blinkenden Einfassung des deckenhohen Spiegels oder dem Goldrahmen eines Oelbildes in Berührung kamen; vor den Fenstern aber hingen bunte Zitzgardinen, und der riesige dunkle Ofen ragte grob und ungeschlacht in die zierliche Ausstattung und nahm ihr den letzten Anschein von Harmonie.

Sievert zerdrückte den im letzten Stadium aufflackernden und qualmenden Lichtdocht zwischen den Fingern und stellte dafür die frische Kerze auf den Tisch.

Die Frau, die einsam, in sich zusammengesunken, in einem Fauteuil kauerte, bemerkte den wohlthuenden Wechsel nicht – denn sie war blind – „blind geweint hat sich die arme Frau!“ sagten die Leute, und sie hatten wohl nicht Unrecht. Auch sie erhöhte den peinlichen Eindruck, den das Zimmer in seinen Widersprüchen erweckte; sie war mehr als einfach gekleidet, ihr dunkles baumwollenes Kleid breitete sich förmlich hohnvoll über die strahlenden Polster des Lehnstuhles.

„Sind Sie endlich da, Sievert!“ sagte sie verdrießlich mit schwacher, aber scharfklingender Stimme. „Sie brauchen ja immer eine halbe Ewigkeit zu Ihren Ausgängen! Meine Tochter übt und hört mein Rufen nicht – ich habe mich fast heiser geschrien. … Mich friert. Jedenfalls haben Sie den Ofen nicht gehörig versorgt, ehe Sie fortgegangen sind, und Jutta hat vergessen, das Fenster zu verhängen – Sie hätten auch daran denken können. … Und was für schauderhafte Lichte bringen Sie jetzt immer in’s Haus – das ist ja ein Geruch und ein Qualm – nicht in unserer Domestikenstube hätte ich früher dergleichen gelitten!“

Der alte Diener ließ diese Vorwürfe ohne Widerrede über sich ergehen. Wachs- und Stearinlichte konnte die gnädige Frau nicht bezahlen noch weniger aber das Oel, das die prachtvolle, aus dem Ruin gerettete Astrallampe verbrauchte. Er öffnete schweigend einen Schrank, nahm eine verblichene, rothseidene Steppdecke heraus und hängte sie vor das der Kranken am nächsten liegende Fenster.

Frau von Zweiflingen ergriff eines ihrer langen Haubenbänder und rollte es mechanisch zwischen den dünnen, wachsgelben Fingern auf und ab – es lag etwas nervös Aufgeregtes in dieser Bewegung.

„Sie haben einen abscheulichen Rauchgeruch in Ihren Kleidern mit hereingebracht, Sievert,“ hob sie wieder an und richtete ihre erloschenen Augen nach dem Fenster, wo sie Sievert noch hantiren hörte. „Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nasses Holz brennen, [20] wenn ich auch nicht begreife, wie Sie dazu kommen… Sie haben doch ohne Zweifel unser Winterholz im Sommer zur rechten Zeit einfahren lassen – denn Sie sind ja sehr praktisch – liegt es denn nicht an einem trocknen Ort?“

Ein beißendes Lächeln glitt um Sievert’s Lippen, als er das Wort „einfahren“ hörte. Ja, auf diesen seinen Schultern hatte er heute das Winterholz der gnädigen Frau „eingefahren“, und es mochte freilich mancher noch grüne Ast mit untergelaufen sein, der jetzt im Ofen zischte und die Nase der Dame beleidigte. … Sievert hatte die Casse der Frau von Zweiflingen unter seinen Händen, seit er bei ihr eingetreten war. Früher gelang es ihm, auszukommen und, wenn auch mit großer Mühe, den Anschein eines behaglichen Auskommens der Welt gegenüber aufrecht zu erhalten; aber jetzt kostete die Krankheit viel Geld. Daran dachte die Frau nicht im Entferntesten, ebensowenig hatte sie eine Ahnung, daß das Abendbrod, welches sie heute essen sollte, wie auch das verabscheute Talglicht aus Sievert’s Tasche bezahlt seien – denn es war kein Groschen mehr im Hause.

Der alte Diener versicherte indeß seiner Gebieterin, daß das Holz wohlverwahrt im nördlichen Thurm liege, und schob alle Schuld auf den Sturm, der den Rauch in die Halle blase. Dabei nahm er gleichmüthig eine Serviette, zwei Tassen und eine messingne Theekanne aus dem Schranke und arrangirte einen Theetisch vor dem Sopha.

In diesem Augenblick schloß das Clavierspiel im Nebenzimmer mit einem rauschenden Accord. Frau von Zweiflingen seufzte erleichtert auf und preßte ihre Hände einen Moment gegen die Schläfe – für ihr zerrüttetes Nervensystem mußte die geräuschvolle Musik eine wahre Marter gewesen sein.

Die Thür des Nebenzimmers ging auf. Wenn statt der Gardinen plötzlich bestaubte Spinnweben die tiefen Fensternischen des Thurmgemachs überhangen hätten, wenn die elegante Möbeleinrichtung in den Erdboden gesunken und statt des Theetisches eine Kunkel zur Seite der Frauengestalt im Fauteuil auferstanden wäre, dann hätte Prinzessin Dornröschens Erscheinen bei der mörderischen Frau Stubenpoesie nicht lieblicher verkörpert werden können, als in diesem Moment. Dicht neben dem gräulichen schwarzen Ofenungeheuer, im Rahmen der Thüröffnung, erschien ein junges Mädchen. Diese kinderhaften Hände, die jetzt prüfend und ordnend durch die auf die Büste niederfallenden dunklen Locken glitten, waren eben noch mit ungewöhnlicher Energie über die Tasten hingeflogen. Wie leicht mußte das so schwierige Clavierstück der jungen Spielerin geworden sein – auch nicht die leiseste Röthe des Echauffements lag auf dem Gesicht, das zwar blaß, aber frühlingsfrisch wie die Blüthe des Kirschbaumes war. Es hatte nichts gemein mit jenem hippokratischen Frauenprofil, welches so lebensmüde und mumienhaft braun auf dem gelben Seidenpolster lag – wohl aber wiederholten sich seine köstlichen Linien voll griechischer Schönheit immer und immer wieder in der langen Bilderreihe der Halle, und die schwarzen Augen, die da draußen in wilder Jagdlust funkelten oder in ihrem aristokratischen Bewußtsein kalt gleichgültig auf die Welt niedersahen, strahlten auch hier groß und weit geöffnet aus dem weißen Mädchengesicht. Um den Contrast zwischen Mutter und Tochter noch schreiender zu machen und letztere in Allem lediglich als Sproß der Zweiflingen zu kennzeichnen, die fast durchgängig in grünem, mit Goldstickerei bedecktem Sammet prunkten, umrauschte die jugendliche Gestalt ein brochirtes, blaßblaues Seidenkleid, um dessen viereckigen Halsausschnitt sich echte Spitzen in gelblicher Weiße kräuselten.

„Nun, Sievert,“ sagte das junge Mädchen, in das Zimmer tretend, „kann man endlich heißes Wasser bekommen?“ Ihre Augen fielen auf den Theetisch. „Wie, nur zwei Tassen?“ rief sie. „Haben Sie denn vergessen, daß wir Besuch erwarten?“

„Der Besuch kann nicht kommen, weil der Herr Student krank geworden ist,“ rapportirte Sievert kurz, während er die Theekanne noch einmal prüfend neben das Licht hielt, ob sie auch fleckenlos blinke.

Die junge Dame sah plötzlich aus, als seien ihre sämmtlichen Lebenshoffnungen vor ihr in’s Wasser gefallen – ein Zug der bittersten Enttäuschung flog um ihre Lippen.

„O, wie abscheulich!“ klagte sie. „Darf man sich denn auch auf gar nichts mehr freuen? … Krank soll der junge Erhardt sein? Was fehlt ihm denn, wenn man fragen darf?“ Eine Beimischung von Ironie und Unglauben trübte mißtönend die kinderklare Stimme des jungen Mädchens.

[33] „Hm – der Student wird sich auf der Reise erkältet haben,“ erwiderte Sievert trocken, indem er nach der Thür schritt.

„Nun meinetwegen denn – aber ich sehe nicht ein, weshalb da nun auch der Hüttenmeister zu Hause bleibt. … Fürchtet er sich auch vor dem Schnupfen“ fragte die junge Dame.

„Sei nicht so kindisch, Jutta!“ schalt Frau von Zweiflingen ärgerlich. „Wie kannst Du verlangen, daß er den kranken Bruder allein lassen soll, den er seit zwei Jahren nicht gesehen hat, und ihn obendrein zum ersten Mal im eigenen Hause beherbergt!“

„O Mama, das entschuldigst Du auch?“ rief Jutta und schlug in unwilligem Erstaunen die Hände zusammen. „Würde es Dich nicht tief geschmerzt haben, wenn Papa Dich um Anderer willen hätte vernachlässigen wollen, und –“

„Schweig, Kind!“ gebot Frau von Zweiflingen so rauh und heftig, daß die Tochter erschrocken verstummte. Die Kranke lehnte den Kopf kraftlos an die Stuhllehne und legte die Hand über die lichtlosen Augen.

„Sei nicht böse, Mama,“ hob das junge Mädchen nach einer Pause wieder an; „aber in dem Punkte kann ich mich nicht ändern – eine solche Rücksichtslosigkeit von Seiten Theobald’s macht mich sehr unglücklich! Ich habe nun eben einmal meine hohen Ideale und weiß, daß alle Damen aus dem Hause der Zweiflingen zu allen Zeiten hochgefeiert gewesen sind. Lies nur unsere Hauschronik; da wirst Du finden, daß die edlen Herren in den Tod gegangen sind für die Dame ihres Herzens, und was waren ihnen Eltern und Geschwister, wenn es sich um das Wohl und die Freude der Geliebten handelte! Nun ja, das waren eben auch adelige Gesinnungen!“

„Du Thörin!“ zürnte die kranke Frau. „Ist dieser bodenlose Unsinn das ganze Resultat meiner Erziehung?“ Sie hielt inne, denn Sievert trat eben wieder in das Zimmer. In der einen Hand trug er ein Glas frisches Wasser und in der andern die mitgebrachte weiße Papierdüte, die er Jutta hinreichte. Sie schlug das Papier auseinander – auch nicht ein Zug des Gesichts veränderte sich beim Anblick der duftenden Liebesboten, die ihre unschuldigen Köpfchen furchtlos in die Winterzeit gewagt hatten, um die an Licht, Duft und Wärme verarmten Menschen erquickend zu trösten. Es ist reizend, wenn ein junges Mädchen die vom Geliebten gesandten Blumen leise und verstohlen an ihre Lippen drückt – diese Braut aber war wohl augenblicklich zu tief gekränkt; sie bog nicht einmal den Kopf nieder, um den süßen Duft einzuathmen; das Papier auf dem Tisch ausbreitend, warf sie das Bouquet auseinander und zog nur die Tazetten heraus. … Sievert stand noch da und hielt ihr das Glas hin; sie stieß es zurückweisend leicht mit der Hand weg.

„Ach, dazu sind sie nicht abgeschnitten,“ sagte sie verdrießlich.

„Ich kann die trübe Lache in den Gläsern nicht ausstehen!“ Sie trat an den Spiegel und steckte die Tazetten diademartig in ihre Locken, und zwar so anmuthig und ungezwungen, als seien die weißen Blumensterne auf das dunkle Haar geschneit. Die unglückliche Mutter war in diesem Moment doppelt bedauernswürdig, daß sie ihr unvergleichlich schönes Kind nicht sehen konnte, vielleicht hätte sie über der Erscheinung den ‚bodenlosen Unsinn‘ vergessen, den die in innerer Befriedigung jetzt lächelnden Lippen vorhin so herb ausgesprochen – ,sehr unglücklich' sah das Gesicht ganz gewiß nicht mehr aus.

Der alte Diener warf auch nicht einen Blick auf die geschmückte Gestalt vor dem Spiegel, aber ein böses Lächeln zog seine Mundwinkel herab, als er mit dem Glas zur Thür hinausging. Die Dichter besingen in zahllosen Variationen das vermuthliche Wonnegefühl der Blumen bei ihrem Verscheiden im Haar oder an der Brust eines schönen Mädchens – der rauhe Soldat aber fluchte innerlich, daß er ‚die armen Dinger‘ so sorgsam durch Schnee und Wetter getragen, damit sie nun ,elendiglich‘ hier umkommen sollten. Er brachte nach kurzer Zeit das Theewasser, Brod und Butter herein, und schob die kranke Frau im Lehnstuhl näher an den Tisch; dann zog er sich in seine im Erdgeschoß des nördlichen Thurmes gelegene Stube zurück. Da kam, wie allabendlich, seine Erholungszeit. Er heizte den Ofen tüchtig, stopfte sich eine Pfeife und las – astronomische Werke.

Jutta schlug die feinen Spitzenmanschetten am Handgelenk zurück. Sie strich Butterbrode und bereitete den Thee.

„Ich weiß nicht, mein Kind,“ sagte die Blinde, das Ohr aufmerksam nach ihrer Tochter hinneigend, „es rauscht heute bei jeder Deiner Bewegungen wie schwere, starre Seide –“

Die junge Dame erschrak sichtlich; ein glühendes Roth färbte für einen Augenblick Gesicht und Hals, und unwillkürlich rückte sie einen Schritt weiter aus dem Bereich der Mutter.

„Hast Du Deine schwarzseidene Schürze vorgebunden?“ forschte die blinde Frau weiter.

„Ja, Mama!“ Diese Antwort klang halberstickt, aber sie erfolgte sofort.

„Merkwürdig – das Geräusch ist mir nie so aufgefallen. [34] Hättest Du über ein seidenes Kleid in Deiner Garderobe zu verfügen, dann wollte ich drauf schwören, Du machtest Dir das lächerliche Vergnügen, im alten Waldhaus als Salondame zu paradiren. … Was hast Du für ein Kleid an?“

„Mein altes, braunes Wollenkleid, Mama.“

Das Examen war zu Ende. Jutta athmete erleichtert auf; sie klirrte beim Theetrinken mehr als nöthig mit der Tasse, im Uebrigen aber hielt sie sich plötzlich steif und unbeweglich, wie ein Wachsbild.

Die Kranke genoß so viel wie nichts. Ein dünnes Schnittchen des feinen Brodes, das Sievert um ihretwillen aus Schloß Arnsberg geholt hatte, zerbröckelte zwischen ihren Fingern, kaum einige Krumen kamen über ihre Lippen – sie war offenbar dem letzten Stadium ihrer Krankheit sehr nahe.

„Du könntest mir etwas vorlesen, Jutta, wenn Du mit Deinem Abendbrod fertig bist,“ sagte sie. „Der Sturm heult zu unheimlich!“

„Gern, Mama. Ich will die Sappho von Grillparzer holen – Theobald hat sie mir gestern mitgebracht.“

Ein nervöses Aufzucken durchflog die Glieder der blinden Frau. „Nein, nein!“ rief sie mit abwehrender Heftigkeit. „Weißt Du, was diese Sappho ist? Ein unglückliches, verrathenes Weib! … Ein Sturm der qualvollsten Seelenschmerzen geht durch dies Buch, schlimmer als der da draußen, und – ich will ihn ja doch vergessen!“

Die junge Dame erhob sich, um ein anderes Buch zu holen; dabei streifte sie unbewußt mit ihrem Kleid die herabhängende Rechte der Kranken – diese Hand erfaßte plötzlich die vorübergleitenden Rockfalten und hielt sie krampfhaft fest, während die Linke prüfend in fieberhafter Hast über den Stoff hinfuhr.

„Jutta, bist Du wahnsinnig?“ schrie sie auf.

Das junge Mädchen sank sofort neben dem Lehnstuhl nieder. „Ach Mama, verzeihe mir!“ flüsterte sie. Der Schreck hatte ihre Lippen schneeweiß gefärbt.

Leichtsinniges, liebloses Geschöpf Du!“ zürnte die Mutter und stieß die Hände zurück, die ihre Rechte erfaßten. „Hast Du auch nicht einen Funken von Scham und Scheu empfunden, als Du mein Heiligthum an Dich rissest? … Mein Brautkleid, das ich gehütet habe wie meinen Augapfel, als einzigen Zeugen einer himmlisch schönen Zeit – dies Kleid, von welchem Du weißt, daß es mit mir gehen soll, wenn ich endlich erlöst sein werde von meinen Leiden, schleifst Du zur Verhöhnung unserer ganzen armseligen Verhältnisse über die elenden Dielen des Waldhauses und führst damit eine Farce auf, wie sie sich lächerlicher und erbärmlicher nicht denken läßt?“

Jutta erhob sich rasch, mit einer zornigen Geberde. In diesem Moment verflüchtigte sich auch die letzte Spur der Dornröschen-Lieblichkeit bei dem jungen Mädchen. Der zürnenden Mutter den Rücken halb zugewendet, war sie Zoll für Zoll die geharnischte Opposition. Ein impertinenter Zug flog um die leichtvibrirenden Nasenflügel, und höhnisch lächelnd richtete sie ihre sprühenden Augen auf ein Damenportrait, das über dem Sopha hing. Es war eine jugendliche Mädchengestalt mit einem Mulattenköpfchen. Vollkommen unregelmäßig in feinen Linien und von entschieden bronzefarbenem Teint, fesselte dies kleine magere Gesicht unwiderstehlich durch den piquanten, geistreichen Ausdruck der Züge und durch ein tiefes, halbverschleiertes Augenpaar, in welchem die Leidenschaft verstohlen glimmte. Die zarten bräunlichen Schultern umfloß weiße Seidengaze, unter welcher schwerer Atlas schimmerte, und in den dicken, dunklen Haarflechten steckte ein Granatblüthenstrauß, den eine Brillantnadel festhielt.

Jutta's Blicke hingen an der eleganten Toilette des Bildes.

„Du thust, als hätte ich ein Criminalverbrechen begangen, Mama,“ sagte sie kalt. „Ich habe das Kleid nicht an mich gerissen, sondern mir nur erlaubt, es für einige Stunden zu leihen. Die paar Nähte, die ich verändern mußte, sind im Nu wieder aufgetrennt; im Uebrigen ist es unversehrt. … Theobald wollte uns heute Abend seinen Bruder vorstellen; es ist wohl sehr natürlich, daß ich dem netten Verwandten wenigstens einen anständigen Eindruck machen wollte. Mein braunes Wollenkleid ist lächerlich unmodern und hat Flicken, die sich nicht gut mehr verbergen lassen – Du erlaubst ja nie, daß Theobald mir dergleichen schenkt. … Mama, Du hast vergessen, daß Du auch einmal jung gewesen bist; oder vielmehr, Du kannst nicht begreifen, wie ich fühle und leide, denn Deine Jugend war ja so ganz anders! … Wenn ich dort Dein Bild ansehe und den weißen Atlas mit meiner brillantesten Toilette, eben dem kostbaren braunen Wollenkleide, vergleiche, dann frage ich: Warum bin ich ausgestoßen aus dem Paradiese, in dem Du, Mama, leben und glänzen durftest?“

Die Blinde stöhnte und schlug die Hände vor das Gesicht.

„Ich bin auch jung und von edlem Geschlecht!“ fuhr die Tochter unerbittlich fort. „Ich fühle auch den Beruf in mir, oben zu stehen und mit den Großen der Welt zu verkehren, und muß elend in einem dunklen Winkel verkümmern!“

War es Frau von Zweiflingen’s Absicht gewesen, ihr Kind, frei von Eitelkeit und Weltluft, für eine anspruchslose, bescheidene Lebensstellung zu erziehen, dann hatte sie unkluger Weise einen beredten Gegner außer Acht gelassen, der unausgesetzt und energisch ihren Bestrebungen entgegenwirkte – es war der Spiegel. Wenn auch die dürftige Talgkerze kaum ein halbes Dämmerlicht im Zimmer verbreitete, so daß nur das weiße Gesicht des jungen Mädchens, die bleichen Blumensterne in ihrem Haar und hie und da ein Streifen der hellen Seidenrobe aufleuchteten – das deckenhohe Glas warf doch eine Erscheinung zurück, die in ihrem stolzen Gesammtausdruck, in dem verführerischen Reiz ihrer tadellosen Formen durchaus nicht mit der einsam und harmlos verblühenden Waldanemone verglichen werden durfte.

„Von dem ganzen großen Familienvermögen ist nicht ein Groschen für mich verblieben,“ sprach Jutta beharrlich weiter, während die blinde Frau, das Gesicht in den Händen vergraben, bewegungslos schwieg. „Du sagst, Papa habe es durch Unglücksfälle und falsche Freunde verloren – gut, das ist nicht zu ändern; aber dann mußten von Deiner und Papa's Seite Schritte geschehen, mich wenigstens standesgemäß zu versorgen. … Vor einigen Tagen las ich, daß die Töchter verarmter Adelsfamilien meist als Hofdamen untergebracht werden – das hat mich sehr aufgeregt, Mama; ich muß fortwährend darüber nachdenken, weshalb Du mir den einzigen Weg zu einem glänzenden Leben verschlossen hast.“

„So – das wäre also Dein unumwundenes Glaubensbekenntniß, Jutta!“ sagte die Blinde tonlos; ihre Hände sanken langsam in den Schooß. Die leidenschaftlich hervorbrechende Heftigkeit der Frau war plötzlich wie erloschen, wie vernichtet unter einem ungeahnten moralischen Schlag. „Und ich habe gewähnt, das Blut durch die Erziehung bekämpfen zu können! Alle Eigenschaften unserer Kaste, da sind sie ja; die Genußsucht, der Hochmuth, der Trieb, es den Höchsten gleich zu thun – und reichen die eigenen Mittel nicht aus, nun so schraubt man den Stolz um so und so viel Grad nieder und mischt sich wenigstens unter den dienenden Troß, um sich von der Gnadensonne beglänzen zu lassen. … Ich wollte Dich nicht in jener Sphäre wissen, die Du, das Paradies’ nennst, hörst Du?“ fuhr sie heftiger fort, indem sie sich mit den Händen auf die Seitenlehnen des Stuhles stützte und so ihre halbgelähmte Gestalt hoher aufrichtete „eher würde ich Dich eigenhändig hier im alten Waldhause vermauern! … Das mag Dir vorläufig genügen. Später, wenn Du gereift und nicht mehr so kindisch unverständig sein wirft, und wenn ich nicht mehr bin, soll Theobald Dir meine Gründe sagen!“

Sie lehnte sich erschöpft zurück und ließ die Lider über die Augen sinken.


3.

Es war mit einem Mal still geworden im Zimmer. Jutta wagte kein Wort der Erwiderung mehr. In dem Blick, den sie auf die Kranke heftete, lag doch etwas wie Scheu, Furcht und ein plötzlicher Schrecken über die eigene Kühnheit. Sie ging einigemal auf und ab; die kleinen Füße glitten unhörbar über die ausgetretenen Dielen, als versänken sie im weichsten Teppich – nur das verhängnisvolle Seidenkleid knisterte und rauschte beim Hinstreifen über die Möbel. Draußen aber flog der Sturm im jähen Aufbrausen um die alten Thurmmauern. Die letzten Blätterreste der ächzenden Baumwipfel rasselten, im wilden Gemenge mit dem Flockenwirbel, gegen die Fensterscheiben, und droben in luftiger Höhe klatschten und knarrten die verwahrlosten Laden der Dachluken hülflos auf und zu.

In diesen allgemeinen Aufruhr mischte sich plötzlich der Ruf einer menschlichen Stimme.

Zur Sommerzeit lag das Waldhaus nicht so gänzlich vereinsamt, als man hätte denken sollen. Der Fahrweg, den Sievert [35] anfänglich betreten, führte, ungefähr dreißig Schritte entfernt, an der Nordseite des Hauses vorüber. Er lief ziemlich gerade über den hier sehr flachen Bergrücken in der Richtung nach A. und vereinigte sich drunten wieder mit der Chaussee, die in weitem Bogen den Fuß des Berges umschrieb – er verkürzte die Strecke zwischen Neuenfeld und der Stadt um mindestens eine halbe Stunde. Dieser Umstand und die köstliche Waldeskühle machten, daß der Weg nicht allein von den Holzfuhrknechten benutzt wurde. Die Dorfleute gingen hin und wieder und kehrten auch öfter bei Sievert ein, um kleine Bestellungen für ihn in der Stadt zu besorgen. An heißen Tagen aber vermieden auch die Reisenden zu Wagen die staubige Chaussee und vergaßen die holperigen Geleise über dem Frieden und der grünen Dämmerung des Waldes. Diese Lebensader, die das Dickicht durchlief, wurde den Bewohnern des Waldhauses freilich nur bemerkbar durch herüberklingendes Lachen und Plaudern von Menschenstimmen, lustiges Peitschenknallen und bei trockenem Wetter durch das Rasseln der Räder – ebenso wußten die Wenigsten, die da drüben vorüberzogen, um das Dasein des uralten Jagdschlößchens im Herzen des Waldes, denn ein wildverwachsenes Unterholz, überragt von dichtgeschaarten Buchenkronen, trennte das Haus von dem Fahrweg. Mit dem Eintritt des Winters jedoch verstummten die Laute eines lebendigeren Verkehrs vollständig. Nur die Dohlen, die, seit Jahrhunderten auf den Thürmen nistend, ihre Geschlechtstafel getrost neben die verwitterte drunten in der Halle hängen durften, und die ihr angemaßtes Vorrecht im Walde zäher und hartnäckiger zu behaupten wußten, als die besiegelten Pergamentstreifen der Herren von Zweiflingen es vermocht hatten – sie kreisten flügelklatschend über dem einsamen Hause, und ihr mißtönendes Geschrei war oft wochenlang die einzige Lebensäußerung, die von draußen her in das stille Thurmzimmer drang.

Der vereinzelte Ruf einer Menschenstimme war demnach von überraschender Wirkung für die beiden Frauen. Die Blinde fuhr empor aus ihrem apathischen Hinbrüten, und Jutta öffnete rasch den Flügel des einen unverhüllten Fensters. Mit dem Windstoß, der ihr entgegenfuhr, drang auch deutlicher ein wiederholter Ruf herein, das laute Holla einer Männerstimme; es klang von der nördlichen Seite des Hauses herüber und galt offenbar Sievert’s erleuchteten Fenstern. Eine halbverwehte Antwort des alten Soldaten erfolgte, und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Fremden kam er aus seiner Stube und schritt nach der Hausthür.

Jutta nahm das Licht und ging hinaus in die Halle in dem Augenblick, wo Sievert den schweren Thürflügel zurückschlug und, auf die Galerie tretend, eine brennende Laterne in die undurchdringliche Finsterniß hinaushielt.

Rasche, feste Schritte kamen über den schmalen Wiesenfleck, der sich vor dem Hause hinstreckte. Am Fuß der Treppe machten sie Halt, und gleich darauf trippelten ein Paar leichte Füßchen die Stufen hinauf.

„Meine beiden Kutscher sind auf den Tod erkrankt,“ sagte draußen eine tiefe Stimme von sehr angenehmem Klang, wenn sie auch im Unwillen und, wie es schien, infolge körperlicher Anstrengung bebte. „Ich war gezwungen, mit dem Postillon zu fahren, und weil der Mensch während des Sommers meist den Holzfahrweg benutzt hat, so ist er stupid genug, auch in dieser entsetzlichen Nacht in den engen, bodenlosen Schacht einzubiegen. Der Sturm hat uns wiederholt die Laternenflammen ausgeblasen, und mein Wagen steht da drüben wie eingemauert. Ist nicht Jemand da, der bei den Pferden bleiben möchte, bis der Postillon Vorspann geholt hat, und können wir einstweilen hier eintreten?“

Jutta trat rasch in das Bereich der Thür. Sie hielt die Hand schützend vor das flackernde Kerzenlicht; dadurch wurde der Strahl desselben doppelt kräftig auf das Gesicht und die Büste des jungen Mädchens geworfen, und wie sie so dastand, den blumengeschmückten Lockenkopf mit dem Ausdruck lächelnder Spannung vorgeneigt, während der Flammenschein des Kamins hinter ihr aufzuckte und die Bilder und Hirschköpfe als nebelhafte, fremdartige Gestalten von den Wänden herabdämmerten – da mußten wohl die in Sturm und Nacht draußen Stehenden unwillkürlich an eine jener wunderholden Erscheinungen denken, wie sie das Märchen in alten verzauberten Schlössern walten und weben läßt.

Bei Jutta's Hervortreten erschien denn auch sofort ein kleines, ungefähr sechsjähriges Mädchen auf der Schwelle und sah mit neugierigem Erstaunen zu der jungen Dame empor; es war so winterlich vermummt, daß nur ein schmales Näschen und ein Paar groß und weit aufgeschlagene Augen sichtbar wurden; aber diese Umhüllung erschien in allen Einzelnheiten höchst elegant und von kostbarem Stoff. Das Kind trug einen ziemlich umfangreichen Gegenstand auf dem Arme, über den es sorgsam das Mäntelchen hielt. … Und jetzt tauchte auch eine Männergestalt aus dem Dunkel empor – unter der dunkelglänzenden Pelzverbrämung der Mütze leuchtete förmlich die tiefe Blässe eines sehr vornehmen Gesichts. Die Hast, mit welcher der Herr plötzlich die Stufen heraufsprang, mochte möglicherweise auch dem Gefühl augenblicklicher Ueberraschung entspringen – dagegen zeigten die Züge bereits wieder eine vollkommene Gelassenheit, als er Jutta gegenüber stand. Er schob das Kind in die Halle und verbeugte sich leicht, mit der ganzen Ungezwungenheit des vollendeten Cavaliers, vor dem jungen Mädchen.

„Drüben im Wagen wartet eine Dame in leicht verzeihlicher Angst und Furcht auf meine Rückkehr,“ sagte er mit einem kaum bemerkbaren Lächeln, das aber im Verein mit der überaus wohlklingenden Stimme einen eigentümlichen Zauber gewann. „Haben Sie die Güte, dies Kind einstweilen auf Treu und Glauben in Ihren Schutz zu nehmen, bis ich zurückkommen und mich in aller Form vorstellen kann.“

Statt aller Antwort legte Jutta mit einer anmuthigen Bewegung den Arm um die Schultern der Kleinen und führte sie nach dem Wohnzimmer, während der Fremde in Sievert’s Begleitung nach dem Fahrweg zurückkehrte.

„Mama, ich bringe einen Gast, ein allerliebstes kleines Mädchen!“ rief die junge Dame fröhlich in der Thür – der Eindruck des vorigen peinlichen Auftrittes schien völlig verlöscht in ihrer Seele. Sie erzählte in raschen Worten das Ereigniß im Walde.

„Nun, dann besorge heißen Thee!“ sagte Frau von Zweiflingen und richtete sich auf. Ihre abgezehrten Hände streiften ordnend über die Falten des ärmlichen Kleides und betasteten Haar und Haube, ob auch Alles in Ordnung sei. Trotz aller inneren Lostrennung von Welt und Leben lag doch noch etwas in ihr, das unbewußt fortlebte und sich in geeigneten Momenten geltend machte: das Festhalten am Decorum; und wie sie dort saß, den kranken Rücken gewaltsam aufrichtend und die bleichen Hände lässig, aber doch nicht ohne Grazie in dem Schooß gekreuzt, da suchte man freilich nicht das Original jener bestrickenden Mädchenerscheinung über dem Sopha in ihr; allein es ließ sich nicht verkennen, daß diese gebrechliche Gestalt einst in glänzenden Salons ganz an ihrem Platze gewesen sein mußte.

„Komm her und gieb mir eine Hand, mein Kind!“ sagte sie und neigte den Kopf mit dem Ausdruck freundlicher Güte nach der Richtung, wo die kleine Fremde stehen geblieben war.

„Gleich, liebe Frau!“ antwortete die Kleine, die bis dahin die hinfällige alte Dame mit einer gewissen Scheu betrachtet hatte, – „ich will nur erst Puß vom Arme thun.“

Sie schlug das Mäntelchen zurück – der schneeweiße Kopf einer Angorakatze kam zum Vorschein. Das Thier war bis an die Ohren in eine rothseidene wattirte Decke gewickelt und strebte augenscheinlich nach der goldenen Freiheit. Jutta half die weiche Hülle abwickeln, dann wurde Puß vorsichtig auf den Fußboden niedergelassen. Er reckte und streckte die Glieder, die offenbar unter dem Druck allzugroßer Zärtlichkeit und Fürsorge gelitten hatten, machte einen krummen Buckel und stieß ein klägliches Miau aus.

„Pfui, schäme dich, du bettelst, Puß?“ schalt das kleine Mädchen vorwurfsvoll, warf aber trotz dieser beschämenden Zurechtweisung des Lieblings einen verlangenden Blick nach dem Milchtopf auf dem Tisch.

„Aha, Puß hat Milchappetit!“ lachte Jutta. „Nun, er soll nachher bekommen, aber erst wollen wir dem Kind Kapuze und Mantel abnehmen.“

Sie griff nach der Umhüllung; allein die Kleine trat zurück und schob die Hände weg. „Ich will es selbst thun!“ sagte sie mit sehr viel Entschiedenheit im Ton. „Ich leide das auch von Lena nicht – sie thut so immer, als sei ich eine Puppe.“

Damit nahm sie Kapuze und Mantel ab und legte Beides auf Jutta’s Arm. Die Finger der jungen Dame glitten mit [36] sichtbarem Wohlgefallen, aber auch mit einer Art von ehrfurchtsvoller Scheu über die Zobelverbrämung und den köstlichen echten Sammet des Mantels – das Geschöpfchen da vor ihr mußte sehr vornehmer Leute Kind sein. … Es war ein eigentümliches kleines Wesen. Hoch emporgeschossen, aber sehr schmal in den Schultern und von wahrhaft erschreckender Magerkeit, sah das flache, dünne Körperchen aus, als müsse es schon der Winterstoff des Kleides mittels seiner schweren Falten erdrücken. Das dicke, sehr helle, ja völlig farblose Haar war knabenhaft kurz zugestutzt und an den Schläfen weg einfach hinter das Ohr gestrichen. Diese unkleidsame, nüchterne Frisur verlieh dem fleischlosen Gesichtchen scharf hervortretende Ecken – für den ersten flüchtigen Blick also war die kleine Mädchenerscheinung in ihren Umrissen eine sehr häßliche; allein wer vergäße nicht über einem Paar tiefer, unschuldig blickender Kinderaugen die mangelhaften, eckigen Linien jugendlicher Magerkeit! Und es waren in der That sehr schöne rehbraune Augen, die sich jetzt ernst und nachdenklich auf das verfallene Gesicht der alten blinden Frau hefteten, während eine zarte Kinderhand die Finger derselben leise berührte.

„Ah, da bist Du ja, meine Kleine!“ sagte Frau von Zweiflingen und zog das Händchen näher an sich. „Du hast wohl Deinen Puß sehr lieb?“

„O ja, sehr lieb!“ bestätigte das Kind. „Die Großmama hat ihn mir geschenkt, und deshalb ist er mir viel lieber als Alles, was mir Papa giebt – er bringt mir auch immer nur Puppen, die ich nicht leiden kann.“

„Wie, ein so allerliebstes Spielzeug gefällt Dir nicht?“

„Gar nicht – die Puppenaugen sind schrecklich, und das ewige Aus- und Anziehen langweilt mich – ich will nicht sein wie Lena, die mir auch immerfort neue Kleider bringt und mich quält – ich weiß es ganz genau, Lena ist sehr putzsüchtig.“

Frau von Zweiflingen wandte den Kopf. mit einem bitteren Lächeln nach der Richtung, wo eben Jutta’s seidenes Kleid leise knisterte. Sie öffnete die lichtlosen Augen weit, als solle und müsse sie in diesem Moment das Gesicht der Tochter sehen, das denn auch unter dem ausdruckslosen Blick der Mutter leicht erröthete.

„Nun, da mag Dir Puß freilich besser gefallen,“ hob die Blinde nach einer kleinen Pause wieder an, „er wechselt seine Toilette niemals.“

Das Kind lächelte und sah dadurch plötzlich unbeschreiblich anziehend aus – die schmalen Wangen rundeten sich, und ein Zug sanfter Lieblichkeit verschönte den kleinen, blassen Mund.

„O, er gefällt mir auch besser, weil er sehr vernünftig ist!“ sagte sie. „Ich erzähle ihm alle hübschen Geschichten, die ich weiß und mir erdenke, und da liegt er vor mir auf dem Kissen und blinzelt mit den Augen und schnurrt, was er kann – das thut er immer, wenn ihm etwas gefällt. … Papa lacht mich immer aus; aber es ist doch wahr – Puß kennt meinen Namen.“

„Ei, das ist ja ein merkwürdiges Thier! … Und wie heißest Du denn, meine Kleine?“

„Gisela, wie meine todte Großmama.“

Es fuhr wie ein gewaltiger Ruck durch die Glieder der Blinden.

„Deine todte Großmama!“ wiederholte sie und bog sich in atemloser Spannung aufhorchend vornüber. „Wer war Deine Großmutter?“

„Die Frau Reichsgräfin Völdern,“ antwortete das Kind fast feierlich – es hatte offenbar den Namen nie anders als im tiefsten Respect aussprechen hören.

Frau von Zweiflingen schleuderte jählings die kleine Hand des Kindes, die sie bisher zärtlich in der ihrigen gehalten, weit von sich wie ein giftiges Gewürm.

„Die Gräfin Völdern!“ schrie sie auf. „Ha, ha, ha, die Enkelin der Gräfin Völdern unter meinem Dache! … Brennt die Spiritusflamme unter der Theemaschine, Jutta?“

„Ja, Mama,“ antwortete das junge Mädchen tief erschrocken - es lag etwas wie Wahnwitz in der Stimme und den Geberden der alten Frau.

„So lösch' sie aus!“ befahl sie rauh.

„Aber, Mama –“

„Lösch’ sie aus, sag’ ich Dir!“ wiederholte die Blinde mit wilder Heftigkeit.

Jutta gehorchte. „Sie brennt nicht mehr,“ sagte sie leise.

„Nun trage Salz und Brod hinaus.“

Diesmal folgte die junge Dame dem Geheiß ohne Widerrede.

Die kleine Gisela hatte sich anfänglich verschüchtert in eine Ecke geflüchtet, aber sehr bald wich der bestürzte Ausdruck ihres Gesichtchens dem des Trotzes und der Indignation. Sie war nicht unartig gewesen, und man hatte sich unterstanden, sie zu strafen. In ihrer kindlichen Unschuld ahnte sie zwar nicht, daß die Befehle der Blinden eine förmliche Kriegserklärung enthielten, sie fühlte nur, daß sie ungebührlich behandelt werde – eine Erfahrung, die sie augenscheinlich zum ersten Mal in ihrem jungen Leben machte.

„Du mußt warten, Puß, bis wir nach Arnsberg kommen,“ sagte sie und nahm dem Thier die Milch weg, die Jutta auf den Boden gestellt hatte. Dann griff sie nach Mantel und Kapuze und machte sich reisefertig. Eben war sie im Begriff, die Katze in die Decke zu hüllen, als Jutta wieder eintrat.

„Ich will lieber wieder hinausgehen und Papa bitten, daß ich mit Frau von Herbeck im Wagen bleiben darf!“ rief das Kind der Eintretenden entgegen und warf einen trotzigen Blick nach der Blinden; allein diese schien plötzlich gar nicht mehr zu bemerken was im Zimmer vorging. Noch strammer als zuvor in ihrer Haltung und den Kopf horchend nach der Thür gewendet, die in die Halle führt, saß die Gestalt dort, unbeweglich, wie zu Erz erstarrt – desto lebendiger erschien das Gesicht. Vielleicht wäre der Mann, der in diesem Augenblick so fest und sicher durch die Halle schritt und in einem so vornehm gebietenden Ton zu Sievert sprach, doch nicht durch die Thüre getreten, hätte er dies Frauenantlitz sehen können, in dessen harten, gespannten Zügen glühender Haß und eine unerbittliche Rachsucht gleichsam lauerten, um urplötzlich hervorzubrechen.

Die Thür wurde geöffnet. Zuerst erschien eine Dame auf der Schwelle, noch trug das volle hübsche Gesicht die Spuren der Alteration, denn es war völlig blutlos; ebenso zeigte der derangirte Anzug, daß die sehr stattliche Gestalt nicht ungefährdet das Dickicht passirt hatte; allein sie verbeugte sich trotzdem mit einem verbindlichen Lächeln und der ganzen Sicherheit der Weltdame, als hätten ihre Füße nicht einen Moment den ebenen Boden des Salons verlassen.

Jutta begrüßte sie beklommen mit einem angsterfüllten Blick nach der unheimlich schweigenden Gestalt im Lehnstuhl. Draußen tobte der eisige Schneesturm, aber zwischen den vier engen Thurmwänden dünkte es plötzlich dem jungen Mädchen schwül, wie vor der Entladung dräuender Gewitterwolken. Durch die offene Thür sah sie, wie der mitgekommene Herr rasch seinen Mantel abstreifte und ihn Sievert übergab, der mit der Laterne neben ihm stand – nie war ihr das Gesicht des alten Soldaten so feindselig und verbissen erschienen, als eben jetzt. Trotz ihrer inneren Angst überkam sie ein unbeschreiblicher Aerger – wie konnte der alte Diener in seiner untergeordneten Stellung die Frechheit haben, der gebietenden, vornehmen Männergestalt gegenüber ein so impertinent unhöfliches Gesicht zu zeigen!

Der Herr trat auf die Schwelle. Er ergriff die Hand der kleinen Gisela, die ihm entgegenlief, und ohne zu betrachten, daß das Kind einen dringenden Wunsch auf den Lippen hatte, schritt er in das Zimmer, um die verheißene Vorstellung mittels einer nachlässig leichten, aber sehr eleganten Bewegung in Scene zu setzen – allein die Blinde hatte sich plötzlich mit einem gewaltsamen Ruck in ihrem Lehnstuhl halb erhoben und streckte ihm abwehrend die Hand entgegen. Dieser durch die Krankheit so furchtbar entstellte Frauenkörper, dem die entfesselte Leidenschaft für Augenblicke den Anschein von Selbstständigkeit zurückgab, hatte etwas wahrhaft Gespenstiges.

„Nicht einen Schritt weiter, Baron Fleury!“ gebot sie. „Wissen Sie, über wessen Schwelle Sie gegangen sind, und muß ich Ihnen wirklich erst sagen, daß dieses Haus keinen Raum für Sie hat?“

[49] Welcher Modulation war diese heisere Stimme immer noch fähig. Diese unsägliche Verachtung in den letzten Worten klang förmlich vernichtend. Der Angeredete blieb auch, sichtlich frappirt durch die Erscheinung, einen Moment wie angewurzelt stehen, allein dann ließ er die Hand des Kindes los und ging festen Schrittes auf die Kranke zu. Sie war unfähig, länger in der angenommenen Stellung zu verharren, und sank kraftlos zurück; der energische Ausdruck aber blieb sowohl in ihren Zügen, als in der gebieterischen Handbewegung, mit welcher sie nach der Thür zeigte.

„Gehen Sie, gehen Sie!“ rief sie heftig. „Sie brauchen ja nur vor die Thür zu treten, um auf höchsteigenem Grund und Boden zu stehen. … Die Freiherrlich Fleury’sche Forstverwaltung würde es jedenfalls als Waldfrevel strafen, wollte ich auch nur über einen Grashalm neben den alten Mauern dieses Hauses verfügen – aber das Dach über meinem Haupte ist noch mein, unbestritten mein, und hier wenigstens habe ich die herzstärkende Genugthuung, Sie hinausweisen zu können!“

Baron Fleury wandte sich mit einer sehr ruhigen Bewegung nach der mitgekommenen Dame um, die sprachlos vor Erstaunen noch an der Thür stand.

„Führen Sie Gisela hinaus, Frau von Herbeck!“ sagte er mit vollkommen unbewegter Stimme zu ihr. Diese völlige Gelassenheit erschien wahrhaft imponirend gegenüber der Leidenschaftlichkeit der Blinden. Das war aber auch ein Männerkopf, dem schon die Form es leicht machte, das Gepräge vornehmer Ruhe zu bewahren. Die ziemlich tief über die Augäpfel herabsinkenden Lider verschleierten den Blick und machten ihn unergründlich, und die etwas gestreckte, leicht gebogene Nase saß fest, wie gemeißelt in dem Gesicht, das, wenn auch nicht gerade fleischig, doch das Spiel der einzelnen Muskeln nicht scharf hervortreten ließ.

Frau von Herbeck verließ schleunigst das Zimmer. Drüben klaffte Sievert’s Thür, ein heller Lichtschein fiel heraus auf die Steinfließen der Halle, Baron Fleury sah zu seiner Beruhigung, wie die Dame mit dem Kind in die kleine, behagliche Stube trat und die Thür hinter sich schloß.

„Wer hat nach mir gefragt, als ich in Nacht und Elend gestoßen worden bin?“ fuhr die Kranke in wilder Klage fort, nachdem die Schritte der Hinausgegangenen verhallt waren. „Wissen Sie, was es heißt, Baron Fleury, ein halbes Leben lang mit geschlossenem Mund zu dulden, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, während das stolze, heiße Herz tausendfach den Martertod stirbt? … Wissen Sie, was es heißt, wenn eine freche Hand uns ein Kleinod stiehlt, an das sich jede Faser unseres innersten Lebens liebend klammert – wenn das geliebteste Auge sich tödtlich kalt von uns abwendet, um glühend und verlangend auf einem tief verhaßten Gesicht zu ruhen? … Wissen Sie, was es heißt, den ehemals stolzen, festen Geist eines Mannes Schritt für Schritt sinken zu sehen, ihn als Spielball in ehrlosen Händen zu wissen, während er uns für jeden Versuch, ihn zu retten, erbittert mißhandelt wie seinen grimmigsten Feind? … Das Alles frage ich freilich vergebens – was weiß Baron Fleury von wahrer Hingebung und Tugend!“ unterbrach sie sich selbst mit unsäglicher Bitterkeit und wandte das Gesicht weg von ihm, der bewegungslos neben ihr stand. Er hatte die Arme untergeschlagen und sah nieder auf die Blinde mit der Geduld und Nachsicht, oder auch der Ueberlegenheit des Stärkeren. Nicht ein Zug seines Gesichts veränderte sich; die langen Lider lagen tief über den Augen, so daß sich die schwarzen Wimpern wie ein Schatten über die bleichen Wangen breiteten. Eine solche Stirn, wie sie dort unter dem dunkellockigen Haarstreifen leuchtete, so ehern und hoch getragen hat nur das schuldlose Gewissen, oder die vollendetste Schurkerei.

„Für Eines aber wird Euer Excellenz das Verständniß nicht fehlen!“ fuhr Frau von Zweiflingen mit erhöhter Stimme in unbeschreiblicher Ironie fort. „Wissen Sie, wie es thut, wenn man auf der Sonnenhöhe der Gesellschaft, inmitten von Glanz und Fülle, nach jeder Richtung hin bevorrechtet, gelebt hat und plötzlich zu Armuth und Entbehrung verurtheilt wird? … Davon weiß das Geschlecht der Fleury ein Lied zu singen. … Ha, ha, ha! Frankreich hat stets gemeint, Deutschland müsse nach seiner Pfeife tanzen – deshalb war es ohne Zweifel nur Consequenz, wenn der geflüchtete Pair von Frankreich, Ihr Herr Vater, schließlich zur Geige griff, und Deutschlands Jugend tanzen ließ, um – sein Leben zu fristen!“

Das traf – das war eine wunde Stelle in der erzgepanzerten Brust des Gegners. In die marmorglatte Fläche der Stirn gruben sich zwei tiefe finstere Falten, die verschränkten Arme lösten sich jählings, und wie unwillkürlich hob der Gereizte drohend die Rechte über dem Haupt der Blinden; aber in diesem Augenblick legten sich zwei heiße, weiche Hände beschwörend um seine Linke.

Jutta hatte sich bis dahin, starr vor Entsetzen, in eine dunkle Fensternische gedrückt. Der Mann dort mit der königlichen unanfechtbaren Haltung war der gefürchtete, allmächtige Minister des [50] Landes. Sie hatte ihn nie gesehen, allein sie wußten daß ein Federstrich seiner Hand, ein Wort aus seinem Munde genügte, über das Wohl und Wehe Tausender, wie über das des Einzelnen unwiderruflich zu entscheiden; der constitutionellen Staatseinrichtung zum Hohn regierte er mit der ganzen Rücksichtslosigkeit und Energie des Selbstherrschers – und ihn wagte die alte blinde Frau von ihrer Schwelle zu weisen, ihn überschüttete sie mit den bittersten Schmähungen, die er ruhig und hoheitsvoll hinnahm, so lange sie ihm persönlich galten! Alle Gefühle des jungen Mädchens empörten sich gegen die Mutter; es fiel ihr nicht ein, zu erwägen, inwiefern die leidenschaftliche alte Frau in ihrem Rechte sein könne – für gewisse Naturen sind die Mächtigen stets in ihrem Recht, sie bekämpfen jede Auflehnung dagegen meist mit Erbitterung als das Unrecht, und daß diese Naturen in der Mehrzahl sind, beweist uns die Weltgeschichte schlagend in der oft bis zur äußersten Grenze gehenden Duldsamkeit der Völker.

Diesem Zuge folgte denn auch die junge Dame, indem sie aus ihrer Ecke huschte und die Hand des beleidigten Mannes erfaßte. Welch’ ein verführerischer Zauber ergoß sich über die jugendliche Gestalt, als sie, das ideal schöne Haupt in den Nacken zurückgeworfen, angstvoll zu dem Geschmähten aussah und seine Hand flehend gegen ihre Brust zog! … Die gehobene Rechte des Ministers sank bei dieser Berührung sofort nieder, er wandte den Kopf und hob die langen, schläfrigen Lider – welch ein Blick! … Er fiel wie ein Feuerregen in die Seele des jungen Mädchens. Diese gluthvollen, für einen Moment völlig entschleierten Augen mit einem räthselhaften Ausdruck fest auf das erglühende Mädchengesicht geheftet, lächelte Baron Fleury und zog langsam die bebenden kleinen, weißen Hände an seine Lippen.

Und daneben saß die blinde Mutter und erwartete in athemloser Spannung eine erbitterte Antwort, einen endlichen Ausbruch der Gereiztheit und mit ihm die Genugthuung, ihren Todfeind verwundet zu haben – umsonst, nicht ein Wort erfolgte, und er stand doch neben ihr, sie hörte, wie er sich bewegte, ja, sie hatte soeben mit Abscheu seinen über ihr Gesicht hinwehenden Athem gefühlt – dieses beharrliche, verächtliche Schweigen versetzte sie in eine unglaubliche Aufregung.

„Ja, ja, die Fleury haben die Macht des Wechsels in seiner ganzen Höhe und Tiefe durchgekostet!“ hob sie nach einer momentanen Pause bitter auflachend wieder an. „Durch viele Generationen hindurch werden sie zu Denen gezählt, die mittels aristokratischer Fußtritte und Peitschenhiebe das französische Volk allmählich zur Revolution getrieben haben. … Und nach so viel Grausamkeit und unzerstörbarem Uebermuth feige Flucht über den Rhein! Und der letzte gerettete Rest des Vermögens, alle am Hofe zu Versailles gelernte Beredsamkeit wird aufgeboten, um das Nachbarvolk gegen die eigene Nation zu hetzen – fremde Hände sollten das Opfer knebeln und binden, damit es wieder geduldig und widerstandslos zu den Füßen der Herren liege – Schmach über diese edlen Patrioten!“ –

„Bleiben Sie bei der Sache, gnädige Frau!“ unterbrach der Minister die Sprechende mit kalter Ruhe. „Ich habe Ihnen Zeit und Muße gelassen, einen persönlichen Haß, den Sie gegen mich zu hegen scheinen, zu motiviren – statt dessen verirren Sie sich auf das Gebiet kleinlicher Rache, indem Sie meine schuldlose Familie schmähen. … Wollen Sie die Gewogenheit haben, nur zu erklären, was Sie berechtigt, eine solche Sprache gegen mich zu führen!“

„Gerechter Gott, er fragt auch noch!“ schrie die Blinde aus. „Als ob es nicht seine Hand gewesen wäre, die geholfen hat, den Unglücklichen in den Abgrund hinabzustoßen!“ Sie suchte sich zu bezwingen. Tief Athem schöpfend und den siechen Körper noch einmal gewaltsam aufrichtend, hob und senkte sie die ausgestreckte Rechte mit einer fast feierlichen Bewegung und fuhr fort.

„Leugnen Sie denn, daß das Vermögen der Zweiflingen auf dem grünen Tisch zerschmolzen ist, dem Seine Excellenz, der jetzige Minister, einst präsidirte! … Leugnen Sie, daß der Reitknecht des Baron Fleury heimlich jenem Verblendeten die Billetdoux der Gräfin Völdern überbrachte, wenn er, bewegt durch die inständigen Bitten und namenlosen Leiden seiner unglücklichen Frau, Miene machte, den Weg der Treulosigkeit und des Verderbens zu verlassen! … Leugnen Sie, daß er einen frühen Tod finden mußte, weil er die Ehre verloren und zu spät seine Verführer erkannte! … Leugnen Sie dies Alles – Sie haben die Stirn dazu, und eine Anzahl feiger Seelen wird es dem allmächtigen Minister nachbeten; aber ich, ich klage Sie an mit meinem letzten Athemzug, – und es giebt einen Gott im Himmel!“

Wohl waren die weißen Wangen des Ministers um einen Schein fahler geworden, aber das war auch das einzige Anzeichen innerer Bewegung. Die Lider lagen längst wieder über den Augen und machten sie glanzlos und undurchdringlich mit der schlanken, feingegliederten Hand nachlässig über den glänzend schwarzen Kinnbart gleitend, machte er weit eher den Eindruck, als höre er den ermüdenden Bericht eines Bittstellers, nicht aber eine so furchtbare Anklage.

„Sie sind krank, gnädige Frau,“ sagte er so mild, als spräche er zu einem Kinde, während sie erschöpft schwieg; „dieser Umstand entschuldigt Ihre maßlose Bitterkeit in meinen Augen vollständig – ich werde sie zu vergessen suchen. … Es würde mir ein leichtes sein, Ihre Beschuldigungen sofort schlagend zu widerlegen und Vieles, was da geschehen sein mag, auf die eigentliche Quelle, die schrankenloseste weibliche Eifersucht, zurückzuführen“ – bei den letzten, mit großem Nachdruck betonten Worten verschärfte sich seine sonore Stimme und wurde spitz wie ein Dolch – „allein nichts wird mich vermögen, im Beisein dieser jungen Dame hier Dinge zu erörtern, die ihr kindliches Gefühl schwer verletzen dürften.“

Die Blinde stieß ein bitteres Hohngelächter aus.

„O welche Zartheit!“ rief sie. „Ich mache Ihnen mein Compliment für diese brillante diplomatische Wendung!“ fügte sie schneidend hinzu. „Uebrigens sprechen Sie ohne Scheu – was Sie auch vorbringen mögen, es wird immer geeignet sein, häßliche Schlaglichter auf jene Sphäre zu werfen, welche eben diese junge Dame hier in ihren kindischen Träumen ‚das Paradies‘ zu nennen pflegt … ein Paradies – diese trügerische Decke über bodenlosen Abgründen! … Mit dem letzten Rest von Energie und Kraft, der meiner gebrochenen Seele geblieben ist, habe ich dies Kind dem Boden, dem es durch die Geburt angehört, entfremdet, ja, entrissen, in treuer Fürsorge um sein Glück, aber auch – aus Rache für mich! … Die letzte Zweiflingen tritt in bürgerliche Verhältnis, wo ich weiß, daß man sie auf Händen trägt, aber die Welt wird auch sagen: ‚da seht, welch’ elender Schemen der Nimbus des Namens ist, wenn der Besitz fehlt!‘ – ein willkommener Beleg für die moderne Anschauungsweise, welche einen Stein nach dem anderen aus dem Fundament der Aristokratie reißt!“

Sie brach zusammen.

„Und nun entfernen Sie sich!“ gebot sie mit erlöschender Stimme. „Es würde der bitterste Schluß meines zertretenen Lebens sein, wenn ich verurtheilt wäre – in Ihrer Gegenwart zu sterben!“

Einen Moment noch blieb der Minister zögernd stehen, allein es breitete sich ein Etwas über das aschfarbene Gesicht der Kranken, das, wenn auch oft in seinen Anfängen noch unverstanden, doch der Umgebung eine unwillkürliche Scheu einflößt: das Siegel des Todes! … Während Jutta, einen gewöhnlichen Krampfanfall der Leidenden voraussetzend, mit zitternden Händen Medicin in einen Löffel goß, schritt Baron Fleury geräuschlos nach der Thür. Auf der Schwelle blieb er stehen und wandte den Kopf zurück nach dem jungen Mädchen – noch einmal begegneten sich die vier Augen – Jutta ließ erbebend den Löffel sinken und die dunklen Arzneitropfen ergossen sich über das weiße Tischtuch. … Der Mann dort an der Thür lächelte und verschwand. Auch draußen über die hallenden Steinfließen glitt sein erst so fest und gebieterisch auftretender Fuß fast unhörbar. Er schritt nicht nach der Hausthür, über deren Schwelle die Herrin des Waldhauses unerbittlich ihn verwiesen hatte – der Sturm heulte grimmiger als je da draußen und rüttelte an den eichenen Bohlen der Thür, als verlange er ein heraustretendes Opfer, um es zerschmetternd gegen die Stämme der Wäldbäume schleudern zu können. … Der Minister wartete in Sievert’s wohlgeheizter Stube, bis der alte Soldat, der bei den Pferden geblieben war, zurückkehrte. Mit ihm kamen einige Lakaien aus Arnsberg; sie trugen große Laternen, um vorausschreitend die schmale, gefahrvolle Waldstraße zu erhellen, mittels frischer Pferde hatte man den Wagen bereits aus den Geleisen gehoben, – und fünf Minuten später lag das ungastliche Haus wieder einsam und verlassen inmitten der brausenden Waldwipfel. …

[51] Noch vor Mitternacht schritten zwei Boten durch den beschneiten, aber nun todtenstillen Wald nach dem Ort Greinsfeld, um den dortigen Arzt zu holen – ein Arbeiter vom Hüttenwerk und Sievert. In der Hüttenmeisterwohnung tobte der junge Berthold Erhardt in rasenden Fieberphantasieen – er wehrte unter Verwünschungen unausgesetzt die weißen, bittend gefalteten Hände der Gräfin Völdern von sich ab, die er vor sich auf dem Boden liegen sah mit dem langnachschleppenden gelben Haar und dem feinen Blutbächlein, das von der Schläfe herab über den schneeigen Hals und Busen rieselte. Im Waldhause aber lag Eine, für die der Gang durch den Wald umsonst gemacht wurde. Sie kämpfte den letzten, schweren Kampf fast mühelos. Die erkalteten Hände lagen unbeweglich im Schooße; in immer längeren Zwischenräumen säuselte ein fast unhörbarer Athemzug über die Lippen, und die halbzugesunkenen Lider zuckten und zitterten im letzten leisen Krampf – um den Mund aber zog sich bereits jenes fahle Lächeln, welches wir so gern als das Merkmal süßen Ausruhens und innigster Befriedigung bezeichnen. … Wo war die Seele, die vor wenigen Stunden noch mit all ihren Wunden, und noch einmal auf den Gipfel emporbrausender Leidenschaft sich erhebend, aus den nun gebrochenen Augen gefunkelt hatten? …

Jutta lag am Boden und preßte die Stirn auf das Knie der Sterbenden. In den dunklen Locken hingen noch die Tazetten, die welkend ihre weißen Blätter falteten, und die prachtvolle blaue Seidenrobe floß über die groben Dielen – sie mahnte mit jedem leisen Knistern und Rauschen grausam an den letzten Schmerz, den die Tochter dem mütterlichen Herzen zugefügt und der sich nicht mehr abbitten, nicht mehr sühnen ließ.


4.

Auf dem kleinen, von einer halbzerfallenen Lehmmauer eingefriedigten Kirchhof zu Neuenfeld waren Frau von Zweiflingen’s sterbliche Ueberreste vor wenigen Tagen eingesenkt worden. Hier sah man freilich nicht ein einziges jener graubemoosten Embleme, wie sie, in aristokratischen Familiengrüften mit steinerner Zunge reden von ewigen Vorrechten und unübersteiglichen Schranken zwischen den Menschenkindern. Ganz entgegengesetzt dem Zweck dieses Bilderschmuckes, der selbst Angesichts der zerfallenen Erdenherrlichkeit noch Ehrfurcht für das modernde Geschlecht erzwingen will, denken wir nur daran, daß die armen Seelen unverhüllt und maskenlos in Gottes Hand zurückkehren mußten, in der sie anders wiegen, als auf dem kleinen Erdenball, wo die Mitwelt götzendienerisch genug ist, weltlichen Besitz und ein Wappenschild in die Wagschale zu werfen. …

Jetzt freilich breitete sich die Schneedecke nivellirend über die wenigen Hügelreihen des armseligen Dorfkirchhofs, in ihrer weißen Eintönigkeit nur selten unterbrochen durch ein vom Wind halb umgeblasenes, schwarzes, schmuckloses Holzkreuz, das Piedestal einsamer Krähen – im Sommer aber, da kamen Waldesschatten und Waldesduft über die Mauer, die bergansteigend hart an die letzten Buchen stieß. Da floß und fluthete Leben in dem satten Grün des Haseldickichts, das in den vier Mauerecken wucherte, in den Adern der flinken Grasmücken und Rothkehlchen, die in dem Gebüsch ungestört nisteten, in den Brombeerranken, deren lange Arme vom Waldboden herüber lustig durch die Breschen der zerbröckelnden Lehmwand krochen und eine ganze Last saftstrotzender, schwarzer Beeren auf die einsame, gemiedene Rasendecke legten; und der Sonnenstrahl lief emsig hin und her und zog ein buntes Blumenhaupt nach dem anderen aus der Saat des Todes – da klang das majestätische Auferstehen überzeugender, als in den Mausoleen, wo Verwesung und Moder die Herren sind. …

Vielleicht dieser Gedanke, noch mehr aber wohl der glühende Haß gegen ihre Standesgenossen hatten Frau von Zweiflingen dies einsame Grab wünschen lassen.

Noch an demselben Tage, wo das dunkle Erdreich sich über dem ausgeglühten Herzen der Blinden schloß, hatte Jutta am Arm des Hüttenmeisters das Waldhaus verlassen und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben, bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in der Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte. … So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Mann lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugethan gewesen, war nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken hatte auf der weiten Gotteswelt nun Niemand mehr, als ihn; und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm hergeschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all’ dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die todte Mutter. … Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, thränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten! … Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich, wie an die Thatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal betheuert, daß sie ihn „unendlich liebe“, und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen? …

Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Clavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei „Pfarrers“ gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgeräth – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armseligen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Candidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und dasselbe bei Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheirathet hat. … Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Thurmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradirung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kaltwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinnst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen Manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor Altem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein seltengesehenes Schauspiel.

Sobald die Sonne erloschen, dämmerten drüben in dem ziemlich entferntliegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Corridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken durchflutheten – so war selbst zu Prinz Heinrich’s Lebzeiten nicht beleuchtet worden. Ebenso durchströmte eine wohldurchwärmte Luft den mächtigen alten Bau von der Mansarde bis zum weiten, hallenden Vestibule herab, und auf den Treppen und Vorplätzen, wohin der Fuß auch treten mochte, lagen weiche, warme Teppiche. Aus dem Treibhause hatte man die wohlbehütete Orangerie in das Schloß herübergeschafft, und die hohen Orangen-, Myrthen- und Oleanderbäume, einst Prinz Heinrich’s Stolz und der Gegenstand seiner fast zärtlichen Sorgfalt, standen jetzt wie diensttuende Lakaien an der Mündung der Treppen und in den Vorsälen, um einen leichten Traum von Sommergrün und Sonnenwärme zu erwecken – und das Alles um eines Kindes, eines kleinen schwächlichen, verwöhnten Mädchens willen!

Baron Fleury hütete die kleine Gisela wie seinen Augapfel; man hätte fast meinen können, sein ganzes Denken und Sinnen bewege sich einzig um dies zarte Geschöpfchen und sein Gedeihen. Die Welt schlug ihm diese zärtliche Fürsorge um so höher an, als Gisela nicht sein Kind war. … Wie wir wissen, hatte die Gräfin Völdern eine einzige Tochter, die in erster Ehe mit dem Grafen Sturm verheirathet war. Man erzählte sich allgemein, diese Ehe, die aus gegenseitiger, glühender Neigung und, wie man wußte, eigentlich gegen den Willen der Gräfin Völdern geschlossen [52] worden, sei eine sehr unglückliche gewesen, und die junge Gräfin habe keine Ursache gehabt, den entsetzlichen Sturz mit dem Pferde zu beweinen, in Folge dessen ihr Gemahl nach zehnjähriger Ehe starb. Die Gräfin hatte drei Kinder geboren, von denen nur das jüngste, die kleine Gisela, am Leben blieb.… Zu derselben Zeit, wo Graf Sturm aus der Welt ging, wurde Baron Fleury fürstlich A.’scher Minister. Man munkelte ferner, Seine Excellenz habe bereits zu Lebzeiten des Gemahls eine heimliche Neigung für die schöne Gräfin gehabt, und diese Behauptung wurde insofern bestätigt, als der Baron nach Ablauf des Trauerjahres um die Hand der Wittwe warb und sie auch erhielt. Die boshafte Welt flüsterte freilich, diese Bevorzugung verdanke er weniger seinen persönlichen Eigenschaften, als seinem Einfluß am Hofe zu A., mittels dessen sich die Gräfin Völdern den Zutritt habe wiederverschaffen wollen; denn, einmal als die Freundin des Prinzen Heinrich, und später erst recht als dessen beglückte Universalerbin, hatte sie lange in Bann und Acht leben müssen.… Sie erreichte übrigens durch die zweite Heirath der Tochter ihren Zweck vollkommen, und die Zeit, wo sie am A.’schen Hofe wieder erscheinen durfte, galt noch in späteren Jahren in den Augen der Hofschranzen für „eine himmlische“.

Sie hatte einen niegesehenen Glanz um sich verbreitet durch ihre noch immer bezaubernde Erscheinung und ihre Reichthümer, die sie mit vollen Händen ausstreute, um den schlüpfrigen Boden unter ihren Füßen zu befestigen.… Diese Triumphe genoß sie indeß nicht lange. Die Baronin Fleury starb, nachdem sie einen todten Knaben geboren, im Wochenbett, und drei Jahre später verschied die Gräfin Völdern – „leicht und selig wie eine Gerechte“ – sagte der Volksmund und mit ihm Sievert. Sie war nur zwei Tage krank gewesen, hatte, als gläubige Katholikin, regelrecht, in aller Form die letzte Oelung empfangen und war hinübergeschlummert mit einem fast kinderhaft unschuldigen Lächeln, und von nah und fern kamen die Leute, um das engelschöne Wachsbild im Sarge zu sehen, die Frau, die so viel gesündigt und nie – gelitten hatte.… Die fünfjährige, nun völlig verwais’te Gräfin Gisela blieb im Hause ihres Stiefvaters und war alleinige Erbin der sämmtlichen gräflich Völdern’schen Besitzungen, mit Ausnahme von Arnsberg, das sich schon längst nicht mehr im Besitz der Gräfin Völdern befand. Zum großen Erstaunen der Welt hatte nämlich die Universalerbin wenige Monate nach Antritt ihrer Erbschaft das Schloß mit dem dazu gehörigen Areal an Wald und Feld dem ihr damals noch völlig fernstehenden Baron Fleury um die Summe von dreißigtausend Thalern, und zwar unter dem allgemein belächelten, sehr empfindsam klingenden Vorwande verkauft, daß ihr diese Besitzung als der Sterbeort ihres Freundes, des Prinzen, allzu schmerzliche Erinnerungen wecke.

Das reichsgräfliche Kind erschien demnach auf seiner Flucht vor dem Nervenfieber nicht als Herrin, sondern als Gast des Stiefvaters in Schloß Arnsberg. Letzterer hatte übrigens Sievert’s Voraussetzung nicht wahr gemacht; nach nur zweitägigem Aufenthalt war er abgereist, um sich zu seinem Fürsten zu begeben, der fern von A. auf einem Jagdschlosse verweilte.… Jutta hatte den Minister nicht wiedergesehen. Am Tage nach dem Hinscheiden der Blinden war Frau von Herbeck in das Waldhaus gekommen, um im Namen Seiner Excellenz zu condoliren, und das prachtvolle Bouquet, das bei der Beerdigung zu Füßen der Todten lag, stammte aus dem Arnsberger Treibhause – wer der Unglücklichen in ihren letzten Lebensstunden hätte sagen sollen, daß ein Blumengeschenk von seiner Hand mit ihr in ein und demselben Todtenschrein modern würde!…

Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Im klingenden Eispanzer, den Saum des schwer nachschleppenden Schneemantels bis an die Fenstersimse der niedrigen Bauernhütten werfend, schritt es über den Thüringer Wald hin; froststarre Thränen hingen an seinen Wimpern, und das Wehen seines Athems scheuchte alles warme Leben hinter die schützenden Thüren und Mauern; aber die Tannenkrone über seinem lieben Heiligengesicht blitzte wie ein Königsdiadem – die kalte Wintersonne stand unverhüllt am klarblauen Himmel und weckte bleiche Funken in jedem Eiszapfen – und mit bezeichnendem Finger streifte es hie und da über eine einzelne junge Fichte im Schlag; sie stand da und träumte im dämmernden Winterschlaf von Wachsen und Großwerden, von der Zeit, wo ihr schlanker Stamm sich hoch in die blauen Lüfte hinaufrecken und mit seiner Spitze an die goldenen Sterne rühren würde, von den purpurnen Blüthen, die dereinst droben zwischen den Aesten aufglühen und, vom Sonnenlicht umkost, ihre hochgetragene Schönheit in die weite, weite Welt hinausleuchten sollten – und sie erwacht plötzlich, von milder, warmer Luft geweckt; ihr kleiner Wipfel ragt nicht in den Himmel, und die rothen Blüthen schlummern unerschlossen weiter, wohl aber sind die Sterne von droben herabgesunken und flammen auf den kleinen Zweigen, und das arme, erschrockene Fichtenbäumlein ist selbst zur Blume geworden, zur strahlenden Wunderblume des Winters – o, du süße, selige Weihnachtszeit! …

Auch auf dem blühenden Gesicht der Pfarrerin von Neuenfeld lag es wie klarer Sonnenschein. Diese etwas derben, aber sehr regelmäßigen Züge trugen zwar immer das köstliche Gepräge ungetrübter, fast schelmischer Heiterkeit; allein jetzt lachte auch etwas wie verheimlichte Freude heraus. Die Frau hatte ja sieben Kinder, und diese sieben abgöttisch geliebten Blondköpfchen sollte sie in glückseliger Ueberraschung unter dem Weihnachtsbaum sehen.… Es war diesmal keine leichte Aufgabe gewesen, die Christbescheerung zu beschaffen – die Kartoffeln waren nicht gerathen, und der Herr Pfarrer hatte einen neuen Winterrock absolut nöthig gehabt – indeß, ein viermaliger Gänsebraten auf dem Tisch eines armen Thüringer Landgeistlichen war sündhafter Luxus, und deshalb ließ die Pfarrerin drei Stück ihrer vier fetten, wohlgerathenen Gänse leichten Herzens gen A. ziehen, wo sie gut bezahlt wurden. Die einzige Kuh im Stalle des Pfarrhauses lieferte zwar nach wie vor dasselbe Quantum Milch; dennoch kam jetzt wöchentlich ein Pfund der berühmten Neuenfelder „Pfarrbutter“ mehr auf den Markt; die Pastorin aß seit Monaten ihr Frühstücksbrod und die Abendkartoffeln nur mit Salz, und Rosamunde, die alte Magd, übte sich tapfer mit bei diesem Enthaltungssystem. Und endlich kam der Tag, wo die mühsam ersparten Groschen und Pfennige in Gestalt von verschiedenen Paketen nach dem Pfarrhause zurückwanderten. Während die alte, halberfrorene Botenfrau hinter der verriegelten Küchenthür mit verklommenen Fingern Stück um Stück der weit hergeschleppten Schätze aus ihrem Tragkorb holte, kauerten drei kleine Mädchen mäuschenstill draußen auf der uralten, ausgehöhlten Schwelle. Die dicken Blondzöpfe fest an die Thürritzen gedrückt, und ihre kleinen frierenden Hände unter die Schürze steckend, horchten sie nach echter Evaweise, indeß drei wilde Jungen, das Erfolglose des Schlüssellochguckens endlich einsehend, den Genuß der beharrlichen Schwestern durch Zupfen an den Kleidern und Zöpfen zu verkümmern suchten. Da fiel ein Etwas mit leise schmetterndem Geräusch auf den Backsteinfußboden der Küche und rollte weiter – „eine Nuß!“ jubelte der Chor selbstverrätherisch auf, und die Pfarrerin öffnete leise lachend ein Paket und hielt es geräuschlos an die Thürspalte – ach, Pfefferkuchen! – wo wäre eine Kinderseele, die sein Duft nicht sofort in die Welt der Weihnachtswunder versenkte!

[65] Von diesem fröhlichen geheimnißvollen Treiben im unteren Stockwerk wurde Jutta nicht im Entferntesten berührt. Sie kam nur zur Tischzeit in die Familienstube. Das neue schwarze Wollkleid mit dem Kreppstreifen um den Halsausschnitt fiel in weichen Falten, eine lange Schleppe bildend, auf den Boden nieder und verlieh der Gestalt, die plötzlich sehr beherrschte, hoheitsvolle Bewegungen angenommen hatte, eine Art von stiller Majestät. Dieser Eindruck wurde erhöht durch das lilienweiße Gesicht mit den meist festgeschlossenen Lippen – die reizenden Grübchen, die das Lächeln in den Wangen des jungen Mädchens vertiefte, hatten die Bewohner des Pfarrhauses noch nicht gesehen – und die Sorgfalt, mit welcher ihre zarten, leuchtendweißen Hände den nachschleppenden Kleidersaum beim Eintritt in die Wohnstube aufnahmen, galt nicht allein dem sandbestreuten Fußboden, es war zugleich ein zwar graciös, aber auch sehr bestimmt ausgedrücktes „Rühr mich nicht an!“ für die Kinderschaar. Die Kleinen blickten denn auch verschüchtert nach dem stummen, ernsten Tischgast hinüber, das lustige Geklapper der Löffel und Gabeln klang gemäßigter, und die allzeit rührigen Mäulchen schwiegen gedrückt und verlegen.

Der Pfarrer ehrte Jutta’s „tiefe, wortlose Trauer“, er begegnete ihr um deswillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf – das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und theilnahmlos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die „stille, wortlose Trauer“ flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Clavierübungen wieder aufgenommen und „raste“ oft stundenlang über die Tasten. Indeß, der echte brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicher Weise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Berthold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgniß, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur ein Mal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt und stundenlang im Freien umhergelaufen war.

Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hie und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.

Nun war der heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisiren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Athem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.

Im kleinen, eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körnchen feinen Räucherpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Duftwölkchen mischten sich mit dem starten Aroma, das aus der auf dem Sophatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Thür des Ofens floß ein intensiver Gluthschein und hauchte röthliche Tinten auf das elegante Clavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein traulicherer Raum, als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke, ließ sich wohl nicht denken.

Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Aesten stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf barg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Momente alle Beziehung zur Außenwelt verliert. Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher [66] nicht ein Wort von dem Geplauder der beiden Damen, die hinter ihr auf dem Sopha saßen.

Frau von Herbeck hatte den Arm um Jutta’s feine Taille gelegt. Die Dame war, trotz ihrer ziemlich vorgeschrittenen Jahre, noch sehr hübsch, das ließ sich gerade in diesem Augenblick feststellen, wo sie sich neben der unvergleichlichen Schönheit des jungen Mädchens recht gut behauptete. Für den feinen Kenner weiblicher Reize waren wohl diese Körperformen zu kolossal und üppig, und manches feinfühlige, reine, weibliche Gemüth mochte sich instinctmäßig von dem oft eigentümlich lächelnden und zugleich schwimmenden Blick abwenden; allein jene Körperfülle erschien so kerngesund und rosig frisch, und die großen, ein wenige vorstehenden Augen konnten in geeigneten Momenten auch wieder so ernsthaft und ehrenfest dreinblicken, daß das öffentliche Urtheil diese Frau einstimmig schön, respectabel und sehr liebenswürdig nannte. … Sie war die kinderlose Wittwe eines armen altadeligen Officiers und hatte bereits zu Lebzeiten der Gräfin Völdern als Gisela’s Erzieherin im Hause des Ministers fungirt. Stets unbedingt und gewandt auf die Intentionen der Großmutter bezüglich des zu erziehenden Kindes eingehend, war, sie von der Ersteren noch auf dem Sterbebette als diejenige bezeichnet worden, welche als „vollkommen passend“ die Führung und Ausbildung der Kinderseele in der Hand behalten solle.

Nun saß sie da im eleganten, dunklen Seidenkleid, das schöne, volle Haar von geschickten Kammerjungferhänden modern und geschmackvoll geordnet, und erzählte Episoden aus dem Leben und Treiben der großen Welt, und von dem jungen Geschöpf, das sich weich und hingebend an die stattliche Frau schmiegte, war das starre Gepräge der „tiefen, wortlosen Trauer“ spurlos weggewischt. Das war wieder die Lebenslust athmende Gestalt, die wir im Brautkleid der Mutter, mit den Tazetten im Haar, vor dem Spiegel gesehen haben – unverwandt und sprühend hingen die dunklen Augen an dem rothen, leichtgeschwellten Mund der Erzählerin, die ein farbenreiches, verlockendes Bild nach dem andern aufrollte. Die junge Dame war der Wirklichkeit, dem engen Stübchen so gut entrückt, wie das denkende Kind am Fenster, nur dann und wann fuhr sie empor und warf einen zornigen Blick nach der Thür. Da draußen lag die alte Rosamunde, die qualmende Küchenlampe neben sich, auf den Dielen und scheuerte mit wahrer Inbrunst Vorsaal und Treppe, als letzten Rest ihrer Weihnachtsarbeiten – sie kannte die Füßchen der „kleinen Panduren“ viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie am liebsten schnurstracks aus Pfützen und Straßenschmutz über den frischgescheuerten Fußboden liefen, und deshalb warf sie auf jede neugewaschene Stelle mit unglaublicher Vehemenz ganze Salven schützender Sandbrocken.

Da kamen rasche Schritte über den Vorsaal, und die Pfarrerin trat in das Zimmer. In der Linken trug sie ein brennendes Licht und auf dem rechten Arme ihren in ein dickes, wollenes Tuch gewickelten jüngsten Knaben. Die ganze große, kräftige Frau mit den glühenden Wangen und energischen Bewegungen war das Bild angestrengter Thätigkeit. Sie bot einen freundlichen guten Abend und stellte das Licht auf das Clavier, da beide Damen die Hand über die geblendeten Augen hielten.

„Heute geht’s scharf her in der alten Pfarre, nicht wahr, Fräulein Jutta?“ meinte sie lächelnd, wobei zwei Reihen kerngesunder, fest zusammengefügter Zähne sichtbar wurden. „Nun, morgen sollen Sie dafür einen recht stillen Feiertag, ein ruhiges, leeres Haus haben. Mein Mann hält die Filialpredigt in Greinsfeld, und meine kleine wilde Gesellschaft drunten geht auch mit ’nüber – die alte Muhme Röder hat sie zum Kaffee eingeladen. … Fräulein Jutta, ich möchte ihnen gern für eine halbe Stunde mein Herzblättchen da lassen – Rosamunde scheuert noch drauf und drein und wird gern brummig, wenn man sie von der Arbeit abruft, und mit den Kindern ist heute absolut nichts anzufangen; sie laufen von einem Schlüsselloch zum andern, gucken nach dem Himmel, ob er nicht bald dunkel wird, und darüber kann der kleine Schelm da, der gern an den Stühlen aufsteht, zehnmal auf die Nase fallen. Mir aber wären heute zehn Hände nicht zu viel – die Kinder horchen schon auf die Klingel, und es liegt noch nicht ein einziges Stück auf dem Weihnachtstisch.“

Sie wickelte den Kleinen aus dem Tuch und setzte ihn auf den Schooß der jungen Dame. „So, da haben Sie ihn!“ sagte sie und strich mit der großen, kräftigen Hand glättend über die weißlichen Flaumhaare des Köpfchens, die sich unter dem Tuch zu lauter Löckchen gekrümmt hatten. „Er kommt eben aus dem Bade und ist so weiß und frisch wie ein Nußkernchen. Viel incommodiren wird er Sie nicht – er ist mein frömmstes Kind.“

Voll von der unerschütterlichen Zuversicht der Mutterliebe, die ihr Kind unwiderstehlich findet, war es ihr nicht eingefallen, auch nur einen forschenden Blick auf Jutta’s Gesicht zu werfen; ihr Auge hing vielmehr unverwandt mit zärtlichem Stolz an dem kugelrunden Geschöpfchen, das gutwillig auf dem Schooß der jungen Dame sitzen blieb und mit seinen vier nagelneuen Zähnchen tapfer in den Zwieback biß, den die Mutter in die kleine Hand gedrückt hatte.

Die Pfarrerin schritt hurtig nach der Thür zurück, allein diese zwei blauen, lustigen Augen besaßen einen wahren Feldherrnblick im Hauswesen; sie fahndeten selbst in der größten Eile auf jede Gesetzwidrigkeit, und so blieb die Frau plötzlich stehen und ergriff einen der Immergrünzweige, die sich nach Frau von Zweiflingen’s Bild emporrankten und vom Kerzenlicht hell bestrahlt wurden – die jungen Triebe hingen matt und halbverdurstet am Stengel.

„O weh, ihr armen Dinger!“ rief sie mitleidig, während sie nach einer gefüllten Wasserflasche griff und die steinharte Erde in den Töpfen begoß. „Fräulein Jutta,“ wandte sie sich freundlichernst an die junge Dame, „das Immergrün da müssen Sie mir mehr in Ehren halten! … Als ich meinen ersten Geburtstag als junge Frau hier in der Pfarre feierte, da ging es knapp genug bei uns zu – der Storch war dagewesen, und da war der Geldbeutel schmal geworden – mein Mann hatte keinen Groschen mehr in der Tasche, aber da kam er in aller Frühe aus dem Walde und stellte mir die Töpfe auf’s Fensterbret, und ich sah zum ersten Male in meinem Leben, daß er geweint hatte. … Ich hab’ sie nicht mit leichtem Herzen da heraufgegeben,“ fuhr sie aufrichtig fort, indem ihre flinken Hände die niederhängenden Ranken wieder an den Schnüren befestigten, die an der Wand hinliefen; „aber mit Tapeten sieht’s windig bei uns aus, die kann weder mein Mann, noch die Gemeinde bezahlen, und die kahlen, weißen Wände waren mir denn doch zu despectirlich für meinen lieben Gast.“

Ihr Gesicht hatte bei den letzten Worten wieder den Ausdruck unverkümmerter Heiterkeit angenommen. Sie setzte das Licht auf den Sophatisch, nickte ihrem Knaben zu und verließ rasch das Zimmer.

Als die Thür hinter ihr in das Schloß gefallen war, sah Frau von Herbeck einen Moment wie sprachlos vor Erstaunen in Jutta’s Gesicht, dann brach sie in ein helles, spöttisches Lachen aus.

„Nun, das muß ich sagen, das ist eine Naivetät, die ihres Gleichen sucht!“ rief sie und sank, die Hände zusammenschlagend, an das schwellende Polster der Sophalehne zurück. „Himmel, was Sie für ein classisches Gesicht machen, Herzchen! Und wie gottvoll Sie sich anstellen als Kindermuhme! … Ich könnte mich todtlachen!“

Jutta hatte noch nie ein Kind auf dem Schooße gehabt und selbst als kleines Mädchen nur wenig mit Altersgenossen verkehren dürfen. Als die Zwistigkeiten zwischen ihren Eltern ausbrachen war sie – kaum zwei Jahre alt – einer in klösterlicher Einsamkeit lebenden Geheimrathswittwe übergeben worden; sie sollte nicht durch die schrecklichen Verhältnisse im elterlichen Hause berührt werden. Erst kurz vor dem Tode ihres Vaters durfte sie zu der Mutter zurückkehren und hatte somit den größten Theil ihrer Kindheit fast ausschließlich im Umgang mit der alten Dame verbracht, deren Aufgabe es ja gewesen war, sie einzig und allein für ein zurückgezogenes, anspruchsloses Leben zu erziehen.

Uebrigens mußte dieser jungen Mädchenseele der Instinct versagt sein, der das echte Weib unwiderstehlich zu der Kinderwelt hinzieht und dasselbe sofort, ohne irgend welche Anleitung, zur Pflegerin geschickt macht, denn sie sah, den Oberkörper ängstlich zurückgebogen und die Arme steif an den Seiten niederhaltend, mit einer Art von Entsetzen auf den kleinen, aufgedrungenen Schützling nieder; aber sie war auch innerlich erbittert über die Zumuthung, die ihr gemacht worden – sie runzelte finster die Brauen, und die feinen, bläulichweißen Zähne gruben sich tief in die Unterlippe.

„Ach, und wie vortrefflich ihnen die ehrliche Landpomeranze [67] zu sagen wußte, welche übermenschliche Opfer ‚dem lieben Gast‘ in diesem gesegneten Pfarrhause gebracht werden!“ fuhr Frau von Herbeck noch immer lachend fort. „Gott, solch’ eine vierschrötige, hausbackene Person, und dabei diese Sentimentalität mit dem Grünzeug! „An ihrer Stelle ließe ich die Töpfe sofort dahin zurückbringen, wo sie der gerührte Gatte einst placirt hat – schließlich werden Sie noch für jedes abgefallene Blatt verantwortlich gemacht, und ich kann es ihnen keinen Augenblick verdenken, wenn Sie nicht Lust haben, die kostbare Orangerie der Frau Pfarrerin zu begießen.“

Die kleine Gisela war von ihrem Stuhl aus mit großer Aufmerksamkeit dem ganzen Vorgang gefolgt. Jetzt glitt sie auf den Boden herab und ihr großes, kluges Auge richtete sich erregt auf das Gesicht ihrer Gouvernante, während ein helles Roth unter die gelblichweiße, matte Haut der Wangen trat.

„Die Töpfe dürfen nicht fortgeschafft werden!“ sagte sie ziemlich heftig. „Ich will es nicht haben – das thut mir zu weh!“ Stimme und Geberden des Kindes zeigten unverkennbar, daß es gewohnt sei, zu befehlen.

Frau von Herbeck nahm die Kleine sofort in ihre Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit auf die Stirn. „Nein, nein,“ beschwichtigte sie, „sie sollen ganz gewiß dableiben, wenn mein süßes Kindchen es will. … Aber Du verstehst das noch nicht, Engelchen – es ist nicht so gut gemeint von der Frau, wie Du denkst.“

Währenddem hatte Fritzchen lustig und unbekümmert seinen Zwieback bearbeitet. Das kaum dreivierteljährige Kind war in der That frisch und weiß wie ein Nußkern. Der kleine runde Kopf mit den blühenden Wangen und dem gespaltenen Kinn ruhte unmittelbar auf der blüthenweißen, faltenreichen Hemdkrause, und unter dem fleckenlosen, feuerrothen Flanellröckchen hervor guckten ein Paar draller, rosiger Beinchen, denen man es ansah, daß sie eben noch im Seifenschaum gesteckt hatten.

Fritzchen wurde nach dem Princip der allgemeinen Menschenliebe erzogen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er von Allem, was ihm gut schmeckte, an Mama, Rosamunde und die Geschwister abgeben mußte, und infolge dessen nahm er unter treuherzigem Lallen den Zwieback vom Munde und stieß ihn mit den ungeschickten Händchen heftig gegen Jutta’s Lippen – das junge Mädchen fuhr leise aufschreiend zurück und die Röthe des Erschreckens flammte über ihr Gesicht; die kleine Gräfin aber lachte laut auf – der Moment erschien ihr urkomisch.

„Aber, Gisela, mein Kind, wie magst Du nur da lachen?“ schalt Frau von Herbeck sanft. „Siehst Du denn nicht, daß das arme Fräulein von Zweiflingen zu Tode erschrocken ist über die Zudringlichkeit des kleinen Bengels? … Uebrigens sehe ich gar nicht ein, weshalb wir uns das gemütliche Plauderstündchen verderben lassen sollen!“ fuhr sie ärgerlich fort. „Ich werde der Sache gleich ein Ende machen!“

Sie stand auf, nahm den kleinen Missethäter von Jutta’s Schooß und setzte ihn auf die Dielen; in demselben Augenblick kauerte aber auch Gisela neben dem Kinde und legte die kleinen mageren Arme um die Schultern desselben. Der lachende Ausdruck war wie weggewischt von ihrem schmalen Gesichtchen. „Es war gut gemeint von ihm!“ sagte sie, zwischen Trotz und Bedauern schwebend.

Fi donc, mein Kind - ich bitte Dich, rühre den schmutzigen Jungen nicht an!“ rief Frau von Herbeck, die Bemerkung des Kindes ignorirend.

Die kleine Gräfin antwortete nicht, aber der Blick, mit dem sie zu ihrer Gouvernante aufsah, funkelte in Zorn und Widersetzlichkeit. Diesem Kinde gegenüber hatte die Dame offenbar einen sehr schweren Stand, allein sie war ja „vollkommen passend“ und wußte sich demgemäß zu helfen.

„Wie – eigensinnig will mein Liebchen sein?“ frug sie schalkhaft zärtlich. „Nun meinetwegen, bleibe Du sitzen, wenn es Dir Freude macht! … Was aber wohl Papa sagen würde, wenn er die kleine Reichsgräfin Sturm als Kindermädchen auf dem Fußboden kauern sähe! Oder die Großmama! … Weißt Du noch, Engelchen, wie sie zürnte und schalt, weil Dir im vorigen Jahr auf Deine Bitten die Frau des Jägers Schmidt ihr Kind auf den Schooß gegeben hatte? … Nun ist sie todt, die liebe, schone Großmama, aber Du weißt ja, daß sie im Himmel ist und immer sehen kann, was ihre kleine Gisela thut – in diesem Augenblick betrübt sie sich gewiß recht sehr, denn was Du thust, schickt sich ja nicht für Dich!“

„Es schickt sich nicht für Dich!“ das war die Zauberformel, mittels welcher diese Kinderseele regiert wurde. Nicht, daß das aristokratische Element so dominirend in ihr ausgebildet gewesen wäre, um jedes verpönte Begehren mit seiner Hülfe zu unterdrücken – dazu war das Kind noch zu jung; aber „es schickt sich nicht für Dich!“ hatte ja „die liebe, schöne Großmama“ so oft gesagt, ehe sie in den Himmel gegangen, und sie war und blieb der Inbegriff der Erhabenheit und Unfehlbarkeit für die kleine verwais’te Enkelin. … Noch saß die Falte des Zorns zwischen Gisela’s Brauen, und ihre Augen hingen beunruhigt an dem kleinen Ausgesetzten auf dem Boden, aber als die Gouvernante mit ihren weichen, weißen Händen sanft die schmale, leichte Gestalt zu sich emporzog, da ließ sie sich willenlos greifen, wie ein Vogel, der keinen Ausweg mehr sieht – Frau von Herbeck kehrte mit ihr zum Sopha zurück und behielt ihre Hand zwischen den ihrigen.

Fritzchen sah sich plötzlich einsam und verlassen. Er warf seinen Zwieback hin, streckte die Aermchen empor und wollte genommen sein; allein Jutta wandte sich ab – sie war noch immer beschäftigt, ihre etwas derangirten Locken und die verschobenen Falten des Kleides wieder zu ordnen – und Frau von Herbeck machte ihm ein bitterböses Gesicht und drohte heftig mit dem Finger. Der arme, kleine Schelm starrte sie lange erschrocken und unverwandt an – seine großen, blauen Augen füllten sich allmählich mit Thränen, während ein Jammerzug die Mundwinkel herabsenkte – endlich brach er in ein bitterliches Weinen aus.

Sofort eilten die raschen Füße der Pfarrerin die Treppe herauf, und ehe sich die Damen dessen versahen, stand sie in der Thür. Dort saß ihr „Herzblättchen“ ausgestoßen und verlassen auf dem kalten Fußboden, und die vornehmen Frauengestalten auf dem Sopha schmiegten sich aneinander, als zusammengehörig und als könne der Raum zwischen ihnen und dem plebejischen Kinde nicht weit genug sein.

Nicht ein Wort kam über die Lippen der beleidigten Mutter, nur eine tiefe Blässe bedeckte für einen Augenblick das blühende Gesicht. Sie hob ihren Knaben empor und preßte ihn heftig an sich; dann wickelte sie ihn in das warme Tuch und schritt nach der Thür zu. Dieses lautlose Schweigen, die fast königliche Haltung der einfachen Frau, die es unter ihrer Würde hielt, ihrem tiefverletzten Gefühl Ausdruck zu geben, imponirten selbst der gewiegten Welt- und Salondame auf dem Sopha.

„Meine beste Frau Pfarrerin,“ rief sie, leicht verlegen, aber mit einschmeichelnder Stimme ihr nach, „ich bedauere, daß wir den Kleinen nicht besser beschäftigen konnten, aber er war sehr unruhig, und Fräulein von Zweiflingen ist doch noch zu angegriffen –“

„Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, daß ich das nicht besser überlegt habe,“ antwortete die Pfarrerin einfach, ohne Bitterkeit, und ging hinaus.

„Lassen Sie sich dies Rencontre lieb sein, Kindchen!“ flüsterte die Gouvernante, als sie auch auf Jutta’s Gesicht einen Zug der Scham und Verlegenheit bemerkte. „Mit dieser einen Zurechtweisung hab’ ich Sie vor einer unübersehbaren Reihe widerwärtiger Zumuthungen bewahrt. … Das ist auch eine jener ‚wackeren deutschen‘ Hausfrauen, die vor lauter Tugend und Vortrefflichkeit unausstehlich werden. Zudringlich mit ihrer Weisheit, fahnden sie förmlich auf junge Mädchenseelen und pressen die unschuldigen Lämmer ohne Gnade in den Pferch der sogenannten ‚Weiblichkeit‘, die da nichts erlaubt, als Bibel, Kochtopf und Strickstrumpf. … Das, was wir eben erlebt haben, war der erste leise Versuch der überklugen Frau – war ich nicht da mit meinem Einspruch, da saßen Sie bereits morgen drunten und stickten den alten Rock des Herrn Pfarrers oder die zerrissenen Höschen der geistlichen Sprößlinge.“

Jutta fuhr empor – in diesem Moment konnte sich das aufglühende Mädchengesicht getrost neben den hochmüthigen Zügen des stolzesten Ahnhern in der Halle des Waldhauses behaupten – das war genau jener kalt zurückweisende Zug um die Lippen, jener verächtlich abwärts zuckende Blitz aus den halbgeschlossenen Augenlidern, der da sagte: „was nicht neben oder über mir steht, existirt nicht für mich!“

Frau von Herbeck legte den Arm wieder um die schlanken [68] Hüften des jungen Mädchens und zog sie schmeichelnd an sich heran. Dabei ergriff sie mit der Linken die Hand, die schmal und zart, wie ein durchsichtig weißes Blumenblatt auf dem schwarzen Wollkleide lag, und betrachtete sie mit einer Art von zärtlicher Aufmerksamkeit.

„Es kann mich förmlich unglücklich machen,“ sagte sie mit einem Anflug von Groll in der Stimme, „wenn ich eine meisterhafte Form, wie zum Beispiel diese reizende Hand hier, sehe und mir dabei sagen muß, daß ihre Schönheit unausbleiblich zerstört werden wird durch die Anforderungen einer unangemessenen Lebensstellung. … Diese rosigen Nägel, diese Grübchen voll Küchenschwärze! – pfui, ich mag es gar nicht denken! … Hoffentlich verfährt das Schicksal glimpflich mit Ihnen, Kindchen! … Freilich, ganz und gar diesem Loos entgehen werden Sie doch nicht als Frau Hüttenmeisterin.“

„Theobald hat mir und Mama versprochen, daß er mich wie seinen Augapfel behüten wolle,“ entgegnete das junge Mädchen stockend, mit halberstickter Stimme.

„Ja, ja, liebes Herzchen, das ist Alles recht schön und gut, und der Hüttenmeister auf alle Fälle ein prächtig lieber Mensch, der im Nothfall sein Herzblut für Sie hingiebt – in seinen guten Willen setze ich auch nicht den mindesten Zweifel. Aber, aber, solch’ einem glücklichen Bräutigam fällt es selten ein zu rechnen – das kommt erst nach der Hochzeit. … Und was wollen Sie dann machen, wenn Sie einmal drinstecken? Die Familie wird größer, das Einkommen aber nicht, und wenn dann der Mann die Nähterin oder Flickmamsell nicht mehr bezahlen kann, so hilft der Frau kein Wehren und kein Sträuben – sie muß, wohl oder übel, die groben Strümpfe des Herrn Gemahls über die seine Hand stülpen und – sie flicken.“

Frau von Herbeck hielt inne und sah seitwärts auf Jutta’s Gesicht nieder, das an ihrer Schalter lehnte. Das junge Mädchen schwieg mit fest zusammengepreßten Lippen, während sein Auge unverwandt und finster auf den Boden starrte, als gewänne die häßliche Schilderung der Gouvernante dort bereits Form und Gestalt. … Frau von Herbeck lächelte leise, leise, und der Ausdruck ihrer großen schwimmenden Augen war in diesem Moment sicher nicht jener ehrenfeste, den sie respectablen Charakteren gegenüber anzunehmen wußte. Sie strich mit der Hand sanft über die gerunzelte Stirn der jungen Dame.

„Ach, wer wird denn gleich solch’ ein trübes Gesicht machen!“ sagte sie ebenso einschmeichelnd beschwichtigend, wie sie mit ihrer kleinen Schutzbefohlenen zu reden gewohnt war. „Meine ich Sie denn etwa speciell mit dieser Schilderung? … I, Gott soll mich bewahren! Ich wäre ja mit dem besten Willen nicht einmal im Stande, mir die schöne Jutta von Zweiflingen in einer solchen Lage zu denken, obwohl ich an manchem brillanten, gefeierten Mädchen erfahren habe, wohin solche Neigungsheirathen führen können. … Sehen Sie, da wird Alles, was das Leben schmückt, nach und nach als Ballast über Bord geworfen. … Das geliebte Clavier steht verstaubt und verschlossen in der Ecke, die eleganten Bücher und Stickereien verschwinden vom Nähtisch, dafür liegen schmutzige Abcbücher und Schreibhefte umher, und ein Korb voll zerrissener Wäsche wartet auf neue Flicken – ich kenne das. … Die junge Frau streicht die bewunderten Locken glatt hinter das Ohr, oder unter eine Haube – das sieht häßlich aus – aber was thut’s? Sie braucht nicht mehr schön zu sein, es sieht sie ja Niemand!“ –

Jutta sprang auf, warf wortlos, aber mit einer leidenschaftlichen Geberde die Locken zurück und trat an das Clavier. … Was auch in dieser Brust vorgehen mochte, es war jedenfalls ein heftiger Aufruhr, der sie in fliegenden Athemzügen hob und senkte.

Die junge Dame schlug den Deckel des Instruments zurück, und in den Sessel niedergleitend, begann sie eine wildaufbrausende ungarische Volksweise kraftvoll und energisch mit denselben Händen, die vorhin zu „schwach und angegriffen“ gewesen waren, das Kind der Pfarrerin auch nur einen Augenblick zu halten. … Wie Perlenschnüre rollten die kühnen Passagen; es war ein Gewoge von Tönen, aus denen die Grundmelodie immer wieder auftauchte, und mit ihr wilde Zigeunergesichter, glühend angestrahlt vom Lagerfeuer, nächtliche, über die weite Pußta hinfliegende Reiter, umtobt von mähneflatternden Roßheerden, sterbende Helden und kühne Räubergestalten – und diese fremdartigen Gebilde, in denen ein heißes Blut pulsirte, rauschten durch die kleinen Eckfenster hinaus in das keusche, feierliche Schweigen der herabsinkenden heiligen Nacht. Das Gebirge reckte seine dunklen Glieder auswärts, und der goldflimmernde Himmel spannte sich von einem Bergscheitel zu dem anderen, Kluft und Tiefen ausgleichend, wie der große Versöhnungsgedanke des Gekreuzigten sich breitet über jenes zerklüftete Schöpfungswerk, das wir „die Menschheit“ nennen … Und diese Menschheit? Sie schärft seine wilden Worte zu Schwertern, mit denen sie sich selbst zerfleischt. Der Baalsglaube macht jenen Stern des Heils, den einst die Hirten über der kleinen Erde aufgehen sahen, zum stummen Götzen und verfolgt den lebendigen Geist, der von ihm ausgeflossen mit blindem Vandaleneifer – umsonst, er leuchtet! Und mit seinem mächtigen Wort: „Es werde Licht!“ hat Gott selbst gewollt, daß die Nacht nie mehr „die Herrschende“ werde! –

[81]
5.

Noch waren die letzten stürmischen Accorde unter Jutta’s Händen nicht verhallt, als die Pfarrerin zur Thür hereinsah. Dies leuchtende, lebensfrohe Gesicht zeigte nicht die mindeste Spur des Gekränktseins – das war ein Gemüth, das rasch mit sich fertig wurde; „die können ja nicht wissen, wie einem Mutterherzen zu Muthe ist –“ hatte sie versöhnend bedacht, und damit war der Groll verflogen.

Sie rief herein, daß die Bescheerung nun vor sich gehen könne. Die kleine Gräfin erfaßte ihre Hand, Jutta schlug den Clavierdeckel zu, und Frau von Herbeck erhob sich langsam, mit einem so verbindlichen Lächeln, aus der weichen Sophaecke, als sei nie ein arger Gedanke gegen jene Frau an der Thür in ihre Seele gekommen.

Unten in seinem engen Studirstübchen saß der Pfarrer bereits am kleinen, altersschwachen Spinett. – Das war freilich kein Kopf, wie ihn die heutige Mystik auf der Kanzel sehen will. Diese Züge waren nicht abgeblaßt in der düsteren Gluth des Fanatismus; keine Spur jener eisernen Unbeugsamkeit und Intoleranz des finsteren Glaubenseiferers lag auf der Stirn, und das Haupt beugte sich nicht gegen die Brust, in dem Bestreben, der Welt ein lebendiges Beispiel christlicher Demuth zu sein – er war ein echter Sohn des Thüringer Waldes, eine kraftvolle, markige Gestalt mit breiter Brust, hellen Gesichtszügen und einer so leuchtend offenen Stirn unter dem vollen, dunklen Kraushaar, als könne kein Gedanke verborgen dahinter weggleiten. … Um ihn her standen seine Kinder, pausbackige Köpfchen wie sie drüben in der Kirche über und neben der alten Orgel als Seraphim und Cherubim schwebten. Alle die strahlenden Blauaugen hingen erwartungsvoll an dem Gesicht des Vaters. Er begrüßte die eintretenden Damen mit einer stummen Verbeugung, dann griff er voll in die Tasten, und feierlich, glockenhell setzten die Kinder ein: „Ehre sei Gott in der Höhe, der Herr ist geboren.“

Beim Schlusse des Verses öffnete die Pfarrerin langsam die Thür der Nebenstube, und der Glanz des Weihnachtsbaums floß heraus. Die Kinder stürzten nicht jubelnd hinüber – scheu traten sie über die Schwelle, das war ja gar nicht die liebe, alte Wohnstube, deren Wände allabendlich in dem Halbdunkel der schwach leuchtenden Talgkerze verschwanden! Der kleine Spiegel, die Glasscheiben über den wenigen Bildern strömten eine wahre Lichtfluth wider, und selbst aus den alten, mattglänzenden Ofenkacheln hüpfte ja ein Lichtlein. …

Die kleine Gräfin aber stand da mit dem Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht – das sollte ein Christbaum sein? Diese arme, kleine Fichte mit den wenigen fadendünnen Wachsstengeln auf den Zweigen? Unscheinbar kleine, rothe Aepfel, Nüsse, die das vornehme, kränkelnde Kind nicht einmal essen durfte, und einige zweifelhafte Figuren aus braunem Pfefferkuchen – das waren die ganzen Wunderdinge, die sich da droben schaukelten! Und drunten auf dem groben, weißen Tischtuch lagen Schiefertafeln, Schreibhefte, Bleistifte – lauter Dinge, die sich ganz von selbst verstehen, deshalb hätte doch das Christkindchen nicht vom Himmel herabzusteigen gebraucht! … Und doch, wie jubelten die Kinder jetzt, nachdem die Scheu überwunden war! Das stumme Befremden der kleinen Gräfin bemerkten sie nicht – sie hätten es ja nicht einmal begriffen, sie sahen auch nicht das impertinente Lächeln, das bereits beim Anstimmen des Chorals aus Frau von Herbeck’s Gesicht erschienen war und sich auch jetzt noch behauptete; erkannten doch selbst die Eltern die Natur dieses Lächelns nicht – die Mutter lächelte ja auch, als ihre kleinen Mädchen schleunigst in die neuen, buntwollenen Unterröckchen krochen und ihr sogenannter „Dicker“ schmunzelnd das „nagelneue“ Höschen an seine strammen Beinchen hielt, das sie selbst in stiller Nacht und bei verschlossenen Thüren aus dem allerersten schäbigen Candidatenfrack des Herrn Pfarrers zurechtgeschneidert hatte. Und der Vater trug das jauchzende, lallende Fritzchen auf dem Arm – er hatte vollauf zu thun, alle die Merkwürdigkeiten pflichtschuldigst zu bewundern, die Hans Ruprecht in sein Haus gebracht – ihm blieb keine Zeit, die Gesichter seiner Gäste zu prüfen.

Er zog sich übrigens, nachdem der Weihnachtsbaum ausgelöscht war, in seine Studirstube zurück; einer seiner Collegen war plötzlich erkrankt, er hatte deshalb eine Predigt mehr für die Feiertage übernommen und mußte sich noch vorbereiten.

Frau von Herbeck und Jutta hatten sich gleich zu Anfang der Bescheerung auf das Sopha geflüchtet – dort waren wenigstens die Kleidersäume in Sicherheit vor den rücksichtslosen „Pandurenfüßchen“. Nun wurde der vor ihnen stehende Tisch gedeckt; die alte Rosamunde brachte eine riesige Porcellankanne voll Thee aus der Küche, um die sie eine Schaar blinkend sauberer Steingut-Tassen gruppirte, während die Pfarrerin einen Teller voll frischgebackenen Kuchens, eine Scheibe köstlicher Butter, Honig und ein derbes Schwarzbrod hinstellte.

Die kleine Gräfin wandte sich sogleich weg von diesem Weihnachtsschmaus – frischer Kuchen und Schwarzbrod waren ihr [82] streng verboten. Sie kreuzte die Hände wie ein Professor auf dem Rücken und sah dem Treiben der andere Kinder ernsthaft zu. Der „Dicke“ saß auf einem grellroth angestrichenen Gaul und rollte unter Hü und Hott durch die Stube.

„Das ist ein sehr häßliches Pferd!“ sagte Gisela, als er an ihr vorübersauste.

Der begeisterte Reiter hielt erbost inne.

„Es ist nichts häßlich, was Einem das Christkindchen bringt,“ entgegnete er tief empört – sein kleines Herz war ja voll unsäglicher Dankbarkeit gegen das Christkindchen.

„Wirkliche Pferde sind gar nicht so roth und haben auch niemals solch steife Schwänze,“ kritisirte das kleine Mädchen unbeirrt weiter. „Ich will Dir lieber meinen Elephanten schenken – der läuft von selber durch’s Zimmer, wenn man ihn mit dem Schlüssel aufzieht; eine Prinzessin sitzt d’rauf, die nicht mit dem Kopfe –“

„So, eine Prinzessin sitzt d’rauf?“ unterbrach sie der „Dicke“ überlegen. „Wo sitze ich denn nachher? … Da ist mir mein Gaul doch viel lieber – ich will Deinen alten Elephanten gar nicht!“

Damit rollte er peitschenknallend weiter. Gisela sah ihm betreten nach. Sie war gewohnt, daß die Dienerschaft nach ihren Händen haschte und sie zu küssen versuchte, wenn sie Geschenke austheilte, und hier wurde sie so schnöde zurückgewiesen. Noch mehr aber empörte es sie, daß der Junge den „schauderhaften“ Gaul so beharrlich schön fand. Sie warf einen Blick auf ihre Gouvernante, allein die war in ein Gespräch mit Jutta vertieft und führte eben mißtrauisch langsam die Theetasse an die Lippen, um sie sofort mit einem leisen Schauder wieder hinzustellen.

Das seltsame Kind, das so wenig die Gabe besaß, sich anzuschließen, stand einsam inmitten des Weihnachtsjubels; seine Abneigung gegen die Puppenwelt ließ es jene Ecke fliehen, wo zwei kleine Mädchen ein dickköpfiges Wickelkind fütterten, und vom „Dicken“ war ja der einzige Annäherungsversuch so classisch abgefertigt worden. … Aber dort an einem Seitentisch, aus welchem heute ausnahmsweise auch ein Licht brannte, stand der Erstgeborne des Hauses, ein ungefähr neunjähriger Knabe, und neben ihm die Schwester, die ihm im Alter folgte. Beide lasen eifrig, Alles um sich vergessend, in einem Buche. Auf den fleckenlos sauberen Tisch hatte das kleine Mädchen sein schneeweißes Taschentuch gebreitet, und erst auf diesem lag das Buch wie ein Allerheiligstes; die Kinder wagten kaum mit den äußerste Fingerspitzen die neuen Blätter umzuwenden – es waren die Grimm’schen Märchen, die der Vater unter den Christbaum gelegt hatte.

„Die Sternthaler,“ las der Knabe mit halblauter Stimme. „Es war einmal ein kleines Mädchen“ – mit zwei Schritten stand Gisela neben ihm, der Anfang klang zu verlockend. Sie verstand schon fließend zu lesen, und eine so eigentümlich grübelnde Richtung auch die Geisteskräfte dieses noch so jungen Wesens bereits annahmen – die Märchenwelt mit ihren nicht zu begründenden Wundern übte deswegen doch ihren ganzen bestrickenden Zauber auch auf diese Kinderseele.

„Gieb mir das Buch lieber in die Hand, ich will vorlesen,“ sagte Gisela zu dem Knaben, nachdem sie, auf den Zehen stehend, vergebens versucht hatte, einen Einblick in das Buch zu gewinnen.

„Das thu’ ich nicht gern,“ antwortete er und fuhr sich verlegen mit der Hand in die blonden Kraushaare. „Der Papa will mir morgen erst den schönen Einband in einen Papierbogen schlagen –“

„Ich werde ihn nicht verderben,“ unterbrach ihn die Kleine ungeduldig. „Gieb das Buch her!“ Sie streckte die Hand aus. In dieser sehr herrischen Geberde lag die ganze Zuversicht des verwöhnten vornehmen Kindes, das einen directen Widerspruch gar nicht kennt.

Der Knabe maß die kleine Gestalt mit sehr erstaunten Blicken.

„Oho, so geschwinde geht das nicht!“ rief er abwehrend. Als Aeltester der Kinderschaar war er den Eltern bereits eine Stütze bei Erziehung seiner Geschwister. Er hatte die Aufgabe, leuchtendes Vorbild zu sein, und dies Ehrenamt voll märthyrhafter Selbstverleugnung gab ihm sehr viel äußere Würde. … Er schlug das Taschentuch schützend um den Einband des Buches und nahm es auf.

„Nun, meinetwegen, Du sollst es haben,“ sagte er ernsthaft, "aber Du mußt auch hübsch artig sein und bitten – alle Kinder müssen bitten.“

War die Kleine bereits gereizt durch die Scene mit dem „Dicken“, oder bekam das Bewußtsein ihrer hohen Lebensstellung in diesem Augenblick wirklich die Oberhand in ihr – genug, aus den schönen, rehbraunen Augen funkelte ein maßloser Hochmuth, und dem Knaben den Rücken wendend, sagte sie verächtlich. „Das brauche ich nicht!“

Die Wirkung dieser Worte war eine große. Der eben vorüber rollende Reiter hielt seinen Gaul an – wenn auch selbst mit einer bedeutenden Dosis Trotz begabt, ging ihm diese unerhörte Antwort denn doch über den Spaß – und die zwei kleinen Ziehmütterchen ließen ihr hülfloses Wickelkind in der Ecke liegen und kamen schleunigst herbei, um mit großen, weitgeöffneten Augen „das ungezogene Mädchen“ anzustarren – Alle aber wiederholten wie aus einem Munde: „Alle Kinder müssen bitten!“

Dieses Unisono schreckte auch Frau von Herbeck plötzlich aus ihrem Zwiegespräch mit Jutta auf. Das, was die Kinder riefen, und die feindselige Haltung ihrer Schutzbefohlenen ließen sie sofort begreifen, was vorgegangen war; mit einer so erschrockenen Hast, als sähe sie das gräfliche Kind bereits über einem Abgrund schweben, erhob sie sich und rief hinüber „Gisela, mein Kind, ich bitte Dich, komme sofort zu mir!“

In diesem Augenblick trat die Pfarrerin, die Fritzchen zu Bett gebracht hatte, in’s Zimmer.

„Sie will nicht bitten, Mama!“ riefen ihr die Kinder entgegen und zeigten auf Gisela, die noch unbeweglich mitten im Zimmer stand.

„Nein, ich will auch nicht!“ wiederholte sie, aber diesmal klang ihre Stimme bei weitem nicht mehr so hart und sicher den scharfen, klugen Augen der Pfarrerin gegenüber. „Die Großmama hat gesagt, das schicke sich nicht für mich – nur den Papa darf ich bitten, alle Andere nicht, auch Frau von Herbeck nicht!“

„Sollte die Großmama das wirklich gesagt haben?“ frug die Pfarrerin ernst liebevoll, indem sie das Köpfchen der kleinen Widerspenstigen zurückbog und voll in das trotzige Antlitz sah.

„Ich kann Ihnen versichern, meine beste Frau Pfarrerin, daß dies die unumstößliche Willensmeinung der hochseligen Frau Gräfin allerdings gewesen ist,“ antwortete Frau von Herbeck an Stelle des Kindes mit unbeschreiblicher Impertinenz, „und ich sollte meinen, Niemand habe wohl mehr Recht zu derartigen Erziehungsmaßregeln gehabt, als gerade sie in ihrer erlauchten Stellung! … Uebrigens möchte ich ihnen – lediglich im Interesse ihrer Kleinen selbst – den wohlgemeinten Rath geben, ihnen doch ein wenig klar zu machen, daß sie in der kleinen Reichsgräfin Sturm denn doch etwas ganz Anderes zu sehen haben, als in Hinz und Kunz, mit denen sie für gewöhnlich verkehren mögen.“

Ohne eine Silbe auf diesen „wohlgemeinten Rath“ zu erwidern, forderte die Pfarrerin ihren Aeltesten auf, den Hergang zu erzählen.

„Du mußtest zuvorkommender sein,“ sagte sie verweisend, als er geendet hatte, „und der kleinen Gisela das Buch geben, sobald Du auch nur merktest, daß sie es wünschte – denn sie ist unser Gast, das durftest Du nicht vergessen, mein Sohn!“ Dann öffnete sie die Thür des Studirzimmers und hieß die Kinder eintreten, um dem Papa gute Nacht zu sagen. Der „Dicke“ schob sofort mit einem wehmüthigen Abschiedsblick, aber ohne Widerrede, seinen Gaul in die Ecke, die kleinen Mädchen hüllten ihr Wickelkind bis über die Nase in die warme Wiegendecke, und nach einem freundlichen „Gutenacht“ gegen die Damen schritten sie, nach Alter und Größe wie die Orgelpfeifen, über die Schwelle, um wenige Minuten darauf, unter Anführung der alten Rosamunde, nach der Schlafstube zu marschiren. Der kleinen Gräfin aber gab die Pfarrerin das Märchenbuch in die Hand, führte sie in die anstoßende, wohlgeheizte Kinderstube, deren Thür halbgeöffnet blieb, und kehrte dann zu ihren Gästen zurück.

„Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig, gnädige Frau!“ sagte sie mit ihrer tiefen, kräftigen Stimme, während die klaren, blauen Augen tapfer den stechenden Blick der ihr gegenüberstehenden Dame aushielten. „Die kleinen, neugierigen Ohren sollten ihre weiteren Erklärungen nicht hören, weil sie meinen Erziehungmaßregeln zuwiderlaufen – nicht wahr, dies Recht hat die bürgerliche [83] Mutter doch auch? … Also, ich soll meinen Kindern Respect gegen die kleine Gräfin einflößen – wie soll ich das machen, da ich selbst – verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit – bis jetzt nichts dergleichen in mir verspüre?“

„Ei, ei, meine Liebe, so wenig Demuth in einem geistlichen Hause?“ unterbrach sie die Gouvernante mit ihrem stereotypen Lächeln; aus der höhnisch geschärften Stimme aber klang die tiefste Erbitterung.

Auch die Pfarrerin lächelte, allein mit jenem unvergleichlichen Humor, den die geistige Kraft und Klarheit über das ganze Wesen dieser Frau hauchten.

„Daran fehlt’s bei uns wirklich nicht,“ sagte sie mit einer Art von schalkhafter Einfalt; „es kommt nur darauf an, wie Sie sich die Demuth denken, gnädige Frau. … Ich weiß recht gut, daß die echte, rechte Pfarrersfrau zu allererst auf dem Boden von Gottes Wort stehen soll, und bemühe mich auch redlich um diese Ehrenstelle; aber eben weil ich mich an die Bibel halte, so weiß ich auch, daß sie Gottesfurcht und Gottesverehrung von mir verlangt, aber beileibe nicht Furcht und Götzendienst vor den Menschen.“

Frau von Herbeck hatte sich während dieser tapfern Rede nachlässig in die Sophaecke zurückgelehnt und klirrte mechanisch mit dem Theelöffelchen an die noch immer gefüllte Tasse. Diese scheinbar indolente Haltung, verbunden mit einem kalt gleichgültigen Blick, der aus den halbzugekniffenen Augenlidern unveränderlich auf die Tischplatte fiel, sagte unverkennbar: „Ich bin hier in sehr unanständiger Gesellschaft – am besten wickle ich mich aus der fatalen Lage, indem ich auf gar nichts eingehe.“ – Sie sah nicht einmal zu Jutta auf, die in peinlicher Verlegenheit neben ihr saß.

Die Pfarrerin hatte einen Moment innegehalten, ihr heller Verstand begriff sofort die Taktik der aristokratischen Gouvernante, aber sie ließ sich nicht einschüchtern – was sie einmal ausgesprochen, mußte auch motivirt werden.

„Das Kindchen da drüben“ fuhr sie fest und unbeirrt fort, indem sie mit dem Daumen über die Schulter nach der Kinderstube zeigte, „hab’ ich herzlich gern, und wenn ich ihm ’was Liebes erweisen könnte, da geschähe es zu jeder Stunde mit Freuden – aber Respect, gnädige Frau, Respect! – dazu will ich mehr! … Ich kann’s eben nicht fassen, daß erwachsene Leute um ein Kind herumscherwenzeln, seine Launen ertragen und sein kindisches, unreifes Thun und Wesen am liebsten für pure Weisheit ausgeben möchten, blos weil es hochgeboren ist – da hat mein lieber Mann doch ganz Recht, wenn er sagt, in solchen Fällen würde allemal die menschliche Würde mit Füßen getreten. … Und da soll ich nun meinen Kinderchen, die so frisch und fröhlich in die Welt gucken und noch keine Ahnung davon haben, was die Menschen sich Alles anthun um das ‚Mein und Dein‘ und das ‚Hoch und Niedrig‘ – ja, ich soll den unschuldigen Dingern auf einmal einbläuen, das kleine, hülflose Geschöpf, das noch Wartung und Aufsicht braucht wie sie, das noch so wenig weiß und erfahren hat, das auch ganz gehörig unartig sein kann und Strafe verdient – das sollten sie mit so respectvollen Augen ansehen, womöglich gar wie – Vater und Mutter? Das geht nicht – sie würden es gar nicht einmal verstehen, so wenig, wie – ich selber.“

Frau von Herbeck erhob sich.

„Nun, meine liebe Frau Pfarrerin, das ist ihre Sache!“ sagte sie schneidend. „Die Früchte dieser allerliebsten Erziehungsweise werden Sie einmal recht erkennen lernen, wenn – Ihre Söhne Karriere machen wollen!“

„Sein tägliches Brod wird ja wohl ein jeder finden,“ entgegnete die Pfarrerin vollkommen ruhig. „Meine Kleinen werden in Gottesfurcht streng zu Fleiß und Thätigkeit angehalten – und dann mag’s kommen, wie’s will! Lieber ist mir’s doch, wenn sie schlecht und recht von ihrer Hände Arbeit leben, als daß ich dereinst denken müßte, sie hätten sich durch Kriecherei und Heuchelei fette Stellen erschlichen.“

Draußen fuhr unter hellem Schellengeläute der Schlitten vor, der die kleine Gräfin und ihre Gouvernante nach Hause bringen sollte. Gisela trat in die Thür und reichte der Pfarrerin das Märchenbuch hin. … Wie eigenartig war doch der Charakter dieses Kindes! Weder die zärtlich einschmeichelnde Frau von Herbeck, noch irgend jemand der Umgebung konnte sich je eines Liebesbeweises von Seiten der Kleinen rühmen; scheu und finster wich sie jeder Berührung aus und wies selbst die Liebkosungen des Stiefvaters hartnäckig zurück – und jetzt trat sie plötzlich auf die Zehen, streckte die mageren Arme empor und legte sie um den Nacken der Frau, deren Wesen ein so unbestechlich gerades war, die dem hochgeborenen Kinde nie eine Spur der gewohnten Huldigung und Vergötterung entgegenbrachte.

Die Pfarrerin küßte überrascht den dargebotenen kleinen Mund. „Behüt’ Dich Gott, mein liebes Kind, werde recht brav und wacker!“ sagte sie – ihre volltönende Stimme schmolz in Weichheit – sie wußte ja, daß die Kleine das Pfarrhaus nicht wieder betreten würde.

Frau von Herbeck’s Gesicht wurde ganz blaß bei diesem unvorhergesehenen Auftritt, aber sie war gewohnt, die seltenen Momente einer selbständigen Gefühlsäußerung des Kindes gegen Andere lediglich für kleine, ihr selbst geltende Bosheiten zu halten und deshalb bemühte sie sich, „diese kindische Demonstration“ durch ein kalt-gleichgültiges Lächeln zu entwaffnen. Die „widerwärtige Scene“ wurde ja in diesem Augenblick ohnehin abgekürzt durch einen Lakaien der, den Arm voll Shawls und Mäntel, mit abgezogenem Hut in die Stube trat.

„Tragen Sie die Sachen. in Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer!“ herrschte ihm Frau von Herbeck zu; dann nahm sie Gisela's Hand, neigte den Kopf freundlich herablassend und sagte in ihrem verbindlichsten Ton zu der Hausfrau: „Meinen besten Dank für den reizenden Weihnachtsabend, meine liebe Frau Pfarrerin!“

Sie verließ das Zimmer und eilte in einer fast fieberhaften Ungeduld den Anderen voraus über Treppe und Vorsaal, für einen Moment der Grazie, Würde und selbst der peinlichen Rücksicht verlustig, die sie sonst unter allen Umständen für ihre Toilette hatte – der starre, elegant bordirte Kleidersaum schleifte Rosamundens wahrhaft künstlerisch vertheilte Sandbrocken kollernd weiter aus den nassen Dielen. Droben aber in Jutta’s Stübchen blieb sie einen Augenblick bildsäulenartig stehen, dann ließ sie sich wie zerbrochen aus einen Stuhl fallen. Sie war außer sich.

„Nur noch einige Minuten muß ich hier bleiben, liebstes Fräulein Jutta!“ sagte sie, tief Athem schöpfend. „Ich darf unmöglich in diesem aufgeregte Zustand nach Hause kommen und mich vor unseren Leuten sehen lassen – diese müßigen Augen und Mäuler belauern und bemängeln Einen ohnehin auf Tritt und Schritt. … Fühlen Sie meine Wangen an, wie sie glühen!“

Sie preßte ihre weißen Hände abwechselnd an Stirn und Schläfe, als wolle sie das aufgestürmte Blut beschwichtigen.

„Gott im Himmel, war das ein entsetzlicher Abend!“ rief sie aus – sie warf das Haupt schüttelnd zurück und starrte an die Zimmerdecke. „Nie, so lange ich athme, bin ich gezwungen gewesen, in einer so – verzeihen Sie – erniedrigenden Umgebung aufzuhalten! … Was Alles habe ich geduldig anhören müssen! … Diese gemeine Person, mit welcher Ungenirtheit sie ihre Ansichten auskramte, Ansichten, die ihrem lieben Mann Amt und Brod kosten können! Sie mag sich nur vorsehen, die überkluge Frau! … Und diese unendliche Salbung, diese mit Gottesfurcht und Frömmigkeit gespickten Reden! Schon um deswillen ist mir das sogenannte ‚Wort Gottes vom Lande‘ stets ein Gräuel gewesen, weil es sein – rund herausgesagt ‚Handwerk‘ – ewig auf dem Präsentirteller herumträgt!“

Sie erhob sich und ging einigemal auf und ab.

„Sagen Sie selbst, Kindchen,“ hob sie nach einem momentanen Schweigen wieder an und legte, stehenbleibend, die Hände auf Jutta’s Arm, „war das nicht eine starke Zumuthung für den gebildeten Geschmack, für musikalisch verwöhnte Ohren, daß wir aus Ihrem himmlischen Clavierspiel unerbittlich herausgerissen wurden, um drunten einen Choral von dünnen, quiekenden Kinderstimmen zu hören? … Warum soll ich’s leugnen, ich mag überhaupt den Choral nicht – ich gehöre nun einmal nicht zu den überschwenglichen Seelen; und so lächerlich und abgeschmackt mir auch einerseits die Komödie da drunten vorkam, ich mußte mich doch ärgern, eben weil ich gezwungen wurde, sie mitzumachen. … Und nun noch Eines, liebstes Fräulein von Zweiflingen: ich bin selbstverständlich zum letzten Mal mit Gisela in diesem gottgesegneten Pfarrhause gewesen!“

Jutta wandte erbleichend das Gesicht weg, aber die kleine [84] Gräfin, die während der leidenschaftlichen Ergießungen ihrer Gouvernante ruhig Mantel und Capuze angelegt hatte, trat mit großer Lebhaftigkeit vor sie hin und sagte genau in dem trotzig entschiedenen Ton des Pfarrersohnes, der ihr trotz alledem jedenfalls imponirt hatte:

„O, so geschwind geht das nicht – ich werde jedenfalls wiederkommen!“

„Das wollen wir sehen, mein Kind!“ entgegnete Frau von Herbeck plötzlich sehr beherrscht – sie hatte offenbar in ihrer Aufregung die Anwesenheit des Kindes für einen Moment völlig außer Acht gelassen. „Papa soll einzig und allein entscheiden – Du kannst ja noch nicht beurtheilen, Engelchen, was für bittere Feinde Du in diesem Hause hast.“

Die Dame schlang ihre Arme um Jutta’s Schultern und zog die geschmeidige Gestalt fest an sich.

„Und nun hören Sie mich!“ flüsterte sie. „Der unerträgliche Kinderlärm, das entsetzliche Gebräu – Thee genannt – und die groben Speisen, die uns aufgenöthigt werden sollten, die Knasterwolken, die wahrhaft mephitisch aus jeder Thürritze der pfarrherrlichen Studirstube quollen und die Luft verpesteten – enfin, das ganze Heer von Widerwärtigkeiten, das wir heute in trauriger Gemeinschaft über uns ergehen lassen mußten, hat mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß Ihres Bleibens nicht länger in diesem Hause sein kann. So lange wenigstens, bis Sie ihren alten, herrlichen Namen mit dem bürgerlichen vertauschen, sollen Sie noch die Vorrechte und Annehmlichkeiten ihres Standes genießen. … Ich nehme Sie mit, und zwar auf der Stelle. Denen drunten machen wir vorläufig weis, daß Sie mich nur für die Feiertage besuchen – sonst kommen Sie nicht los. … Sie wohnen weder beim Minister, noch bei der kleinen Gräfin Sturm, sondern einzig bei mir, ich trete Ihnen zwei hübsche Zimmer meiner weitläufigen Appartements ab, und sollten Sie oder Ihr Herr Bräutigam Bedenken tragen, alles Uebrige ohne Weiteres in Schloß Armsberg anzunehmen, nun, so geben Sie doch Gisela Clavierunterricht – dann ist Alles ausgeglichen! … „Wollen Sie?“

Statt aller Antwort wand sich das junge Mädchen hastig aus Frau von Herbeck’s Armen, eilte in die anstoßende Kammer und kehrte nach wenigen Minuten, in einen engen, verwachsenen Mantel gehüllt, in die Stube zurück.

„Hier haben Sie mich!“ sagte sie mit strahlenden Augen.

Frau von Herbeck unterdrückte mit Mühe ein Lächeln über die wunderliche Figur, welche die junge Dame in dem engen, pressenden, unmodernen Kleidungsstück spielte. Sie befühlte die dünne Wattirung.

„Das Mäntelchen ist viel zu leicht. Bedenken Sie, daß wir in die eisige Nachtluft hinaus müssen!“ sagte sie, während sie den Mantel abstreifte und zu Boden fallen ließ. „Lena hat uns ja ein wahres Kleidermagazin geschickt!“ fuhr sie fort und zog aus dem Wust von Shawls und Mänteln, den der Bediente auf das Sopha gelegt hatte, einen mit Pelz besetzten, königsblauen Sammetüberwurf und eine Capuze aus weißem Cachemir. Diese weichen, kostbaren Umhüllungen legte sie eigenhändig um Kopf und Schultern des jungen Mädchens.

Nach wenig Minuten stand das traute Eckstübchen verlassen, und die Drei steigen die Treppe hinab, an deren Fuß Rosamunde mit der flackernden Küchenlampe stand. Das alte Mädchen ließ vor Erstaunen fast die Lampe fallen, als Jutta ihr näher kam – es war aber auch in der That ein wahrhaft blendender Anblick. Freilich fehlte diesem stolz zurückgeworfenen Haupt mit dem weißflockigen Diadem über der Stirn, dieser gebieterisch herabschreitenden Gestalt im übergeworfenen Sammetmantel augenblicklich all’ und jeder mädchenhafte Liebreiz – es schien, als sei er, mit dem alten Mäntelchen abgestreift, droben im Eckstübchen zurückgeblieben – dafür war die junge Dame aber auch vollkommen das, was sie sein wollten der stolze Abkömmling eines uralten, hochmüthigen Geschlechts!

Sie war eben im Begriff, sich an Rosamunde zu wenden, als aus dem tiefen Dunkel der weiten Hausflur plötzlich Sievert’s grauer Kopf auftauchte. Der Anblick dieses finster verbissenen Gesichts war wohl gerade in diesem Augenblick der am wenigsten wünschenswerte für die Flüchtige. In ihre Wangen trat die lebendige Röthe einer sehr unliebsamen Ueberraschung, aber die Züge versteinerten sich auch förmlich in dem Ausdruck unsäglichen Hochmuths – vergebens, der alte Soldat ließ sich dadurch weder verscheuchen, noch außer Fassung bringen, er trat vielmehr näher, während seine Augen feindselig höhnisch über die elegante Umhüllung der jungen Dante glitten.

„Der Hüttenmeister schickt mich –“ hob Sievert an.

[97] „Mann, Sie kommen aus dem Hause, wo ein Typhuskranker liegt?“ schrie Frau von Herbeck entrüstet auf, indem sie sich schützend vor die kleine Gräfin stellte und ihr Battisttaschentuch an den Mund hielt.

„Ach, machen Sie doch keine Geschichten!“ entgegnete Sievert fast knurrend und streckte mit einer sehr wenig respectvollen Bewegung seine knochige Hand nach der bebenden Gouvernante aus. „Es geht noch lange nicht an ihr Leben! … Der Hüttenmeister leidet schon gar nicht, daß Einer so mir nichts, Dir nichts in’s Pfarrhaus geht. Hab’ mich in der Gießerei erst stundenlang ausräuchern und auslüften müssen – obwohl das, so zu sagen, eine Dummheit ist – denn der Doctor hat zehn Mal gesagt, daß die Krankheit jetzt noch gar nicht ansteckt!“

Er wendete sich wieder zu Jutta. „Also ich soll ihnen ausrichten, es wär’ heute nichts mit dem Hierherkommen und der Bescheerung, weil’s unser Student eben – just in dem Moment – mit dem Sterben zu thun hat.“ Bei den letzten Worten klang die rauhe Stimme fast grell, unter dem sichtlichen Bemühen, das Brechen derselben zu verhindern.

„O Gott, der Aermste!“ rief Jutta; es blieb zweifelhaft, wen sie meinte, den Sterbenden oder ihren Bräutigam; aber fast schien es, als begreife sie, daß dies doch nicht der schickliche Moment sei, den eigenmächtigen Schritt auszuführen, den sie vorhatte – unwillkürlich wandte sich ihr Fuß, wieder treppauf zu steigen. Frau von Herbeck ergriff plötzlich ihre Hand und hielt sie fest wie unter einem Schraubstock.

„Das ist ein sehr beklagenswertes Ereigniß!“ sagte sie, und der Ton inniger Theilnahme gelang ihr vortrefflich. „Ich fühle die doppelte Verpflichtung, Sie in diesen traurigen Augenblicken nicht allein zu lassen. Kommen Sie, liebes Kind – wir dürfen auch Gisela nicht so unverantwortlich lange dem abscheulichen Zugwind hier aussetzen.“

Jutta verließ die letzte Treppenstufe.

„Sagen Sie dem Hüttenmeister, daß ich sehr unglücklich sei,“ wendete sie sich an Sievert. „Ich gehe für einige Tage nach Arnsberg und –“

„Sie gehen nach Arnsberg?“ rief er und griff an seinen Kopf, als sei ihm das Gehörte unfaßlich.

„Und warum nicht, Mann?“ frug Frau von Herbeck eisig kalt, mit jenem Ausdruck feudalen Uebergewichts, der sofort jedwede ungelegene Antwort verstummen machen will. Das imponirte indeß dem alten, verbitterten Soldaten sehr wenig. Er stieß ein rauhes Hohngelächter aus. „Nach Schloß Arnsberg, das dem Baron Fleury gehört?“ wiederholte er.

Frau von Herbeck warf einen Blick nach der Hausthür. Dort stand der Lakai unbeweglich mit abgezogenem Hut, und draußen kauerte der pelzumhüllte Kutscher auf dem Bock – sie mußten jedes Wort hören.

„Ich muß Sie dringend bitten, liebste Fräulein von Zweiflingen, dies eigentümliche Zwiegespräch abzukürzen,“ sagte sie malitiös, wenn auch mit sehr unruhig flackernden Augen. „Ich verstehe nicht, was der Mann will! –“

„Ich weiß es!' unterbrach Jutta die Dame tief erbittert, indem sie sich hoch und stolz aufrichtete. „Hofmeistern will er mich! … Er vergißt nur zu gern seine Stellung und macht sich stets der empörendsten Uebergriffe schuldig. … Aber ich sage ihnen, Sievert,“ wandte sie sich in unsäglich verächtlichem Ton und bebend vor Entrüstung an den alten Mann, „die Zeiten sind vorüber, wo Sie sich unterstehen durften, mir und meiner armen Mama ihre sogenannten Wahrheiten in’s Gesicht zu sagen und uns das Leben so unbeschreiblich schwer zu machen. … Wenn auch Mama in ihrem leidenden Zustand diese ewigen Widersprüche und Ungeschliffenheiten geduldig hingenommen hat, so war das ihre Sache – ich aber verbitte mir ihre Bevormundung hiermit für alle Zeiten!“

Damit rauschte sie weiter, aber noch einmal, und zwar mit einem unnachahmlichen Gemisch von Grazie und hocharistokratischer Würde wandte sie den Kopf zurück – sie war offenbar zum Befehlen geboren.

„Sagen Sie ihrer Herrschaft, daß ich für die Feiertage Frau von Herbeck’s Gast sein würde!“ rief sie der wortlos dastehenden Rosamunde zu, dann schritt sie mit einem leichten Kopfneigen an dem sich verbeugenden Lakaien vorüber und bestieg den Schlitten, in welchem Frau von Herbeck und die kleine Gräfin bereits Platz genommen hatten. Er flog pfeilgeschwind in die Nacht hinein – es war eine nur kurze, ebene Strecke, die er zu durchmessen hatte, und doch fuhr er über eine unausfüllbare Kluft; die Furchen, die er im Schnee zurückließ, waren die einzige und letzte Verbindung zwischen Schloß und Pfarrhaus.

Sievert war sprachlos am Fuß der Treppe stehen gebliebenen; erst das Schellengeklingel des davonsausenden Schlittens weckte ihn aus der Erstarrung, mit welcher er der dahinschwebenden jungen Dame nachgesehen hatte. Nun aber rannte er hinaus in das Dunkel. „Undank, Undank!“ murmelte er und streckte die geballten [98] Hände in unbeschreiblicher Aufregung gegen den flimmernden Himmel – dort, über dem Hüttenwerk funkelte der Sirius in feinem weißen Licht, der bleiche Liebling des alten Sternkundigen. Sein finsterer Blick haftete an dem Stern. „Ja, ja, da steht der alte Knabe und denkt wunder wie fest!“ lachte er ingrimmig. „Und ist doch auch nicht mehr roth, wie ihn die Alten gesehen haben! ‚Rrr, ein ander Bild!‘ heißt’s da droben eben so gut wie in der elenden, erbärmlichen Menschenseele! … Hei, fahre Du nur hin in’s Schloß! ‚Wohl bekomm’s!‘ sagt der alte Sievert – aber es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn’s Der da droben – gesegnen sollte!“ …


6.

Schloß Arnsberg lag nicht, wie die meisten alten Thüringer Schlösser, auf dem Berge. Irgend ein adeliger Nimrod des dreizehnten Jahrhunderts, dem am wohlsten unter Bären und Wölfen gewesen sein mochte, hatte inmitten der zu jenen Zeiten fast noch undurchdringlichen Thalwildniß den gewaltigen Steinhaufen aufgeschichtet. Rauh, ohne jedweden architektonischen Schmuck, stiegen damals die klafterdicken Mauern empor, nur hie und da ein schmächtiges, unsymmetrisch hingestreutes Fenster freilassend, durch das der Waldesodem und das grüngefärbte Licht des Dickichts einschlüpfen konnten. Aber es galt nicht allein, die andringenden Bestien des Waldes abzuwehren. Der Geist der Erfindung, der zu allen Zeiten gesonnen hat, wie die Frage über das Recht und Unrecht, über das Mein und Dein, über Herrschaft und Unterwerfung am blutigsten zu schlichten sei, und der in unserem waffengesegneten Jahrhundert im Zündnadelgewehr und Hinterlader gipfelt, er war auch damals zu fürchten in seinen Wurfgeschossen, seinen Steinkugeln und Bolzen, und deshalb umgürtete sich das Schloß im Thal mit hohen Ringmauern und breiten Wassergräben. Später, als die Civilisation ihren Fuß auch in diese Wildniß setzte, als die Pflugschaar den jungfräulichen Waldboden ausriß und das volle Sonnenlicht nun aus blaublühenden Flachsfeldern und wogenden Haferähren funkelte, da zogen sich die Raubthiere scheu zurück, so gut wie sich ihre bisherigen einzigen Verfolger, das alte, einer schrankenlose Jagdlust fröhnende Geschlecht, Stück um Stück des usurpirten Waldgebietes entreißen lassen mußten von den eindringenden Menschenkindern, die so anmaßend waren, auf Gottes schöner Erde auch existiren zu wollen. Und selbst über den Horst des alten Nimrod wehte der Hauch einer netten Zeit. Der Wassergraben versumpfte, die Steine, die sich allmählich von den Ringmauern losbröckelten, wurden nicht wieder eingesetzt, und die Ketten der Zugbrücke rosteten, denn es zog sie Niemand mehr auf.

Das Schloß im Walde ging durch verschiedene Hände, und jeder neue Besitzer flickte und veränderte den alte Bau im Stil seiner Zeit, bis er schließlich den romantischen Charakter der Ritterburg völlig verloren und dafür das Gepräge eines modern behäbigen, wenn auch immerhin stolzen Landedelsitzes eingetauscht hatte. Die geschwärzten Mauern, denen man unter unsäglichen Mühen lange Fensterreihen abgerungen, bedeckte ein heller, leuchtender Kalkbewurf, um deswillen Schloß Arnsberg in der Umgegend meist „das weiße Schloß“ genannt wurde. Sorgfältig gepflegter Sammetrasen, mit Blumengruppen bestickt, lag jetzt da, wo einst das fahle, trügerische Grün der Algen geschwommen, wo die modrige Ausdünstung des stagnirenden Grabenwassers das reine Waldaroma verpestet hatte, und von den ehemaligen Befestigungswerken stand nur noch hie und da ein halbeingestürzter Thurm, oder ein kohlschwarzes Mauerstück, unter dem Schatten einer uralte Rüster oder Eiche und überwuchert von Kletterpflanzen, als schmückende Ruine des Schloßgartens. Drinnen aber hatte das alte Gemäuer seine interessante, mittelalterliche Physiognomie siegreicher zu behaupten gewußt. War auch die Zeit der Renaissance, vor Allem aber der Rococostyl mit seinen vorherrschend krummen Linien ausschmückend thätig gewesen, – das Rauhe, Schlichte und Herbe des ersten Gedankens, infolge dessen das Bauwerk entstanden, hatten sie doch nicht ganz zu verwischen vermocht. Vielleicht war es dieser versteckte Zug des streng Einfachen, was auf die eigenthümlichen Neigungen der kleinen, Putz- und Prunksucht verachtenden Gisela einen unbewußten, geheimen Reiz ausübte – das Kind blieb sehr gern in Arnsberg und verlangte nicht nach der Stadt zurück, obgleich es wie eine kleine verwunschene Prinzessin droben in den einsamen, verschneiten Bergen saß, nie mehr Gelegenheit hatte, in ein anderes kindliches Antlitz zu sehen und lediglich auf den Umgang mit Frau von Herbeck und Jutta angewiesen war. Freilich kam auch, trotz der tiefverschneiten Wege, Baron Fleury fast allwöchentlich auf einen Tag nach dem weiße Schlosse, um das Kind zu sehen. Die Welt pries diese aufopfernde Zärtlichkeit und Hingabe, die Kleine selbst aber lächelte ihm nach der beschwerlichen Fahrt niemals entgegen. Und er widersprach ihr doch so selten, ja, es schien fast, als erfülle er ihre unvernünftigsten Wünsche am liebsten. Er brachte kostbare Spielereien und Toilettengegenstände mit; freilich confiscirte er dafür einen Theil der leidenschaftlich geliebten deutschen Lese- und Märchenbücher mit dem Bemerken, die Gräfin Sturm dürfe beileibe kein Bücherwurm werden. Auf die Mittheilung der Gouvernante hin verbot er sofort jedweden Verkehr mit dem Neuenfelder Pfarrhause; er hielt ferner unerbittlich streng darauf, daß das Kind nie auch nur einen Augenblick ohne standesgemäße Begleitung sei, und doch wäre es so unbeschreiblich gern einmal allein durch die entlegeneren Gänge des Schlosses, vor Allem aber nach dem niebenutzten alten Saal gelaufen, der direct an die Schloßkirche stieß – seine Wände waren bedeckt mit vortrefflichen, uralten Frescogemälden aus der biblischen Geschichte – „gräuliches Zeug, das sie nicht sehe könne, ohne Nachts schreckhaft davon zu träumen“ – meinte Frau von Herbeck stets sich schüttelnd, indem sie ihre Begleitung dahin consequent verweigerte. … Was aber den inneren Widerspruch der kleinen Gräfin am meisten herausforderte, das waren die ihr von dem Papa und der Gouvernante octroyirten Clavierstunden bei Fräulein von Zweiflingen.

Während ihres ganzen jungen Lebens war Jutta nur einem einzigen Menschen begegnet, der ihrem unwiderstehlichen Liebreiz zu allen Zeiten einen unbestechlichen Ernst entgegengehalten hatten – es war der alte Sievert; jetzt aber, im engeren Verkehr mit Gisela machte sie die Erfahrung zum zweiten Mal. Es war interessant zu sehen, wie dies häßliche, schwächliche Geschöpfchen der strahlend schönen jungen Dame im fortgesetzten, stillschweigenden Kampfe gegenüber stand. Der von Jutta’s Seite fast leidenschaftlich gezeigte Wunsch, die Zuneigung der kleinen Hochgeborenen zu gewinnen, scheiterte consequent an dem kalten, ungerührten Blick der klaren, rehbraunen Augen, und ließ sich das junge Mädchen ja einmal hinreißen, die zarte Hand liebkosend auf den Scheitel des Kindes zu legen, da wich der kleine Kopf entrüstet zurück und schüttelte das farblose Haar so energisch, als könne damit jede Spur der ungebetenen Berührung abgeworfen werden.

Frau von Herbeck ignorirte diese „Eigentümlichkeit“ des „Engelchens“ in ihrer lächelnden, das Unvermeidliche glatt übergehenden Weise, insgeheim aber versicherte sie Jutta, das sei der unausstehliche gräflich Völdern’sche „Dickkopf“, den leider auch die hochselige Großmama besessen und der sie innerlich manchmal bis zur Wuth bringe.

Jutta bewohnte zwei hübsch meublirte Räume am Ende der langen Zimmerreihe, welche die kleine Gräfin und ihre Gouvernante inne hatten. Wie eine Pflanze, die urplötzlich in’s rechte Licht versetzt wird, entfaltete sich die ganze Individualität der letzten stolzen Zweiflingen in der hocharistokratischen Atmosphäre des gräflichen Hauses. Der mit Silbergeschirr beladene Mittagstisch, die auf jede Wink herbeieilende Lakaien, die Ausfahrten auf den seidendamastenen Polstern des eleganten Wagens, das waren Dinge, die sie bisher hatte entbehren müssen und die sich doch ganz von selbst verstanden für den Abkömmling hochgebietender Vorfahren. Das Waldhaus lag drüben festverschlossen, wie begraben unter den eisstarren Wipfeln; hinter seinen Riegeln, im dumpfen, feuchten Thurmzimmer moderte das zurückgelassene alte, braune Wollenkleid und mit ihm alle unerquicklichen Reminiscenzen der letzten Jahre; die junge Dame wies sie zurück wie unverschämte Bettler, wenn sie sich ihr ja einmal im Contrast mit der Gegenwart aufdrängen wollten. Ebenso rasch war sie mit der Zurechtlegung des ihr ziemlich rätselhaft gebliebenen Auftrittes zwischen dem Minister und ihrer Mutter fertig geworden. Sie hatte ja schon an jenem Abend zur Seite des so leidenschaftlich angegriffenen Mannes gestanden und gelangte auch nachträglich sehr leicht zu der Ueberzeugung, daß ihre Mutter, fast bis zum Wahnwitz gereizt infolge ihrer furchtbaren körperliche Leiden und verblendet durch böswillige Einflüsterungen Anderer, dem Minister schweres Unrecht gethan habe.

[99] Diese Annahme blieb ihr auch vorläufig ungeschmälert. Der Hüttenmeister war allerdings für den ersten Augenblick tieferschrocken gewesen über Jutta’s unüberlegten Schritt, aber der Fehler war einmal geschehen und ließ sich ohne Eclat nicht mehr ändern. Der junge Mann konnte der Geliebten nicht einmal den Vorwurf der Unüberlegtheit machen, denn sie war ja nie eingeweiht worden in ihre Familienverhältnisse – um die unmittelbar vor Frau von Zweiflingen’s Tode stattgefundene heftige Scene wußte er nicht; Jutta, als alleinige Zeugin, hatte den Vorfall nie mit einem Wort berührt. Während der ersten Zeit ihres Aufenthaltes im weißen Schlosse konnte der Hüttenmeister nicht persönlich mit ihr verkehren. Berthold’s jugendkräftige Statur hatte in jener entscheidenden Krisis, die am Weihnachtsabend eingetreten, gesiegt; er blieb dem Leben erhalten, wenn er auch alle Stadien der furchtbaren Krankheit durchmachen mußte. Während dieser Zeit wußte Jutta brieflich dem Verlobten das Unverfängliche und zugleich die Nothwendigkeit ihres Schrittes sehr überzeugend darzustellen, und er hütete sich, durch unzeitige Aufklärung ihr die Unbefangenheit zu rauben, die sie zu dem nun einmal eingegangenen Verkehr mit Frau von Herbeck und der kleinen Gräfin nöthig hatte. Später, als die Gefahr der Ansteckung vorüber, ging er oft nach Arnsberg. Freilich erlebte er nicht, daß die Braut an sein Herz flüchtete, um dort ihren „starren, thränenlosen Schmerz“ endlich auszuweinen – sie war mit sich allein fertig geworden. Eine schweigende, scheinbar verzagende Nonnengestalt hatte er durch den Wald in das Pfarrhaus geleitet, und im Schlosse trat ihm ein wahrhaft königliches Weib entgegen, eine Erscheinung, die urplötzlich die letzte beengende Knospenhülle abgestreift und gleichsam über Nacht jene anmuthige Sicherheit angenommen hatte, die scheue und schüchterne Mädchenseelen meist erst nach jahrelangem Kampfe mit sich selbst erringen.

Jutta entwickelte sehr viel Esprit und jene meisterhafte Art, Conversation zu machen, die selbst die oberflächlichsten Plaudereien pikant und anziehend erscheinen läßt. Dabei schwebte häufig ein völlig neues, verführerisches Lächeln um ihre Lippen – es hätte dem Hüttenmeister auffallen müssen, daß er alle diese Eigenthümlichkeiten früher nicht gesehen, oder mehr noch, daß nicht er es gewesen, der sie zu erwecken vermocht hatte; allein sein eigenes goldtreues Gemüth, sein blindes Vertrauen auf Jutta’s Charakter und hingebende Liebe ließen nie auch nur eine Spur von Verdacht in ihm aufkommen. Er gab sich arglos dem neuen Zauber hin, und wenn auch das junge Mädchen jetzt weit zurückhaltender war als sonst, wenn sie ihn nicht mehr mit der lebhaften, stürmischen Freude empfing, wie ehemals im Waldhause – so entsprang dies einzig und allein der Scheu vor der neuen Umgebung, eine Auffassung, die offenbar auch Frau von Herbeck theilte, denn sie bemühte sich, durch verdoppelte Liebenswürdigkeit Jutta’s verändertes Wesen zu verdecken – diese „durch und durch respectable, prächtige“ Frau von Herbeck! – – –

So war der Winter verflossen, ein so strenger und weißer Winter, wie er den Thüringer Wald seit langen Jahren nicht heimgesucht. Das erste, lustige Flockengewimmel, welches die Pfarrerin von Neuenfeld so freudig begrüßt hatte, war der Vorläufer eines ungeheuren Schneefalles gewesen. Vorzüglich droben in den höchsten Gebirgsregionen hatte es monatelang so unermüdlich und consequent geschneit, daß die Häuser Tag für Tag tiefer einsanken in ihr weißes Grab, bis schließlich nur noch hier und da die schornsteingekrönte Holzfirst wie eine graue Linie auf dem flimmernden Weiß lag; niedrigere Hütten aber ließen nicht einmal diese Spur ihres Daseins auf der Oberfläche zurück. Die Bewohner stiegen durch den Rauchfang aus und ein, und es kam vor, daß Wanderer, die in der unkenntlich gewordenen Gegend den Weg verloren hatten, zu ihrem Entsetzen urplötzlich versanken und mit Blitzesschnelle in einen engen Schacht einfuhren, um sich drunten auf der Heerdplatte, inmitten sehr erschrockener Gesichter, wiederzufinden.

Warm war’s da unten in der tiefen Finsterniß, die der knisternde Kienspahn oder das qualmende Oellämpchen matt durchleuchteten – an Feuerung fehlte es nicht; aber der Topf, der im Ofen brodelte, enthielt kaum die Hälfte der gewohnten täglichen Mahlzeiten, ja, öfter noch stand er feiernd auf dem Küchenbret, und die eingesargten Leute gingen hungrig zu Bette. Der im vergangenen Herbst so kärglich eingeheimste Kartoffelvorrath ging rasch zu Ende, und wehe dem armen Waldbewohner, wenn ihm diese Quelle versiecht! Die Kartoffel vertritt bei ihm Fleisch und Brod; er ißt sie gebraten oder in der Pfanne gebacken zu feinem dünnen, elenden Kaffee, mit welchem die erquickende Moccabohne gewöhnlich nur noch den Namen gemein hat. Damit sättigt er sich oft monatelang, und eine einzige Mißernte läßt sofort das Gespenst der Hungersnoth auftauchen.

Nun klangen die Osterglocken durch die weißen Thäler, und als ob er nur auf diese ersten Frühlingsstimmen gewartet, flog ein warmer Thauwind auf und streifte hin über die hochgethürmten Schneezinnen der Berggipfel, über die Tausende zackengeschmückter Eispyramiden, die der Fichtenwald hoch hinauf nach den Wolken reckte. Das ist bei hohem Schneefall stets ein verhängnißvoller Moment für einzelne Thäler des Thüringer Waldes. … Es tropft leise, leise von den glitzernden Eisnadeln herab auf die Schneedecke, die außen wie ein blanker Schild, noch trotzig und scheinbar siegreich die Strahlen der heiteren Märzsonne zurückwirft, während unter ihr bereits kleine Wasseradern pulsiren. Das geräuschlose Durchsickern wandelt sich allmählich zu Rinnen und Rieseln, zu tausendfältigen schmalen Bächlein, die gnomenhaft wühlend thaleinwärts streben. Die häuserhohe Schneeschicht sinkt ein, ihre marmorglatte, zu körnigem Eis erhärtete Oberfläche zerberstet, und aus den Spalten steigen gurgelnd und brodelnd die unterirdischen, schmutzig gelben Wasser. … Nun dringt auch das Tageslicht wieder durch die Hüttenfenster, aber mit bangklopfendem Herzen sehen die Bewohner den schäumenden Wasserschwall von den Bergen stürzen. Wohl mündet er anfänglich in den kleinen Fluß, der über die Thalsohle hinrauscht und friedlich die Mühlen treibt – eine kurze Zeit wälzen sich die trüben, losgerissene Felsstücke und entwurzelte Bäume mitschleppenden Wogen in dem schmalen Bett, allein sie schwellen und steigen beharrlich.

Immer breiter und vielseitiger quellen die mißfarbenen Bänder droben aus dem Walddickicht; die Frühlingssonne sieht das Verderben mit ihnen herabstürzen und saugt lächelnd ihren glühenden Kuß immer fester an das Thalgelände – sie will Blumen wecken und schreitet dabei unerbittlich über Menschenwerk und Menschenwohlfahrt. Der Boden schluckt den zerronnenen Schnee nicht mehr, es quillt und wogt nun auch auf Ackerland und Wiesengründen, der Fluß schwillt über – und nun möge sich Gott erbarmen! – „Wassersnoth auf dem Walde!“ rufen bestürzt die Bewohner der Niederungen, wenn die von droben herabtosenden, hochangeschwollenen Flüsse Häusertrümmer und Geräthschaften auf ihrem Rücken mitbringen.

Die Neuenfelder Gegend war diesen Gefahren weniger ausgesetzt, sie erstreckte sich nicht bis in jene unheimlichen Regionen. Der kleine Fluß jedoch, der so anmuthig das Thal durchschnitt und im Sommer oft allzu sanftmüthig und unschuldig über das Wehr hinabfloß, war zur Frühlingszeit ein heimtückisches, mit den Hochfluthen der oberen Berge correspondirendes Gewässer. Er trat dann auch leicht über die steilen Ufer und nahm mit, was sich an Mühlen, Brücken und Stegen irgend losreißen ließ.

Am dritten Osterfeiertag Nachmittags wanderte der Hüttenmeister in Begleitung des Studenten nach Schloß Arnsberg. Berthold war völlig wiederhergestellt und sollte in den nächsten Tagen nach der Universität zurückkehren. Er hatte es bis dahin consequent verweigert, sich der Braut seines Bruders vorstellen zu lassen. Niemand wußte, daß dies junge, feurige Gemüth alle Qualen tödtlicher Eifersucht durchlitt, daß es eine Art von Haß in sich trug gegen das Wesen, das den ernsten, abgöttisch geliebten Bruder berückt hatte und seine ganze Seele erfüllte. Dabei war ihm Jutta’s adelige Abkunft stets ein Gegenstand des Mißtrauens gewesen und dieser Argwohn erhielt reichliche Nahrung durch die Uebersiedelung der jungen Dame nach dem weißen Schlosse. Er ahnte in Sievert einen Verbündeten, und wenn auch der Alte in Rücksicht aus den Hüttenmeister und gestützt auf die Erfahrung, daß seine Warnungen stets Oel in’s Feuer gegossen, consequent schwieg, so gab es doch Momente, wo sein unauslöschlicher Groll rückhaltslos durchdrang und in dem Studenten die Besorgniß, sein Bruder könne unglücklich werden, bis zur namenlosen Angst steigerte.

Er schritt jetzt schweigend neben dem Hüttenmeister her, der endlich, um der vermeintlichen Schüchternheit des jungen Menschen zu Hülfe zu kommen, einen Machtspruch gethan und ihn zu einem Besuch bei Jutta gezwungen hatte.

[100] War der Contrast zwischen den zwei Brüdern schon früher ein auffallender gewesen, so ließen sie sich jetzt, wo Berthold’s Erscheinung noch sehr unvortheilhafte Spuren der überstandenen Krankheit trug, in gar keiner Weise mehr vergleichen. Die überschlanke Gestalt des Studenten bog sich noch immer ziemlich matt und haltlos vornüber. Sein mageres, scharfgeschnittenes Gesicht mit der durchsichtigen Blässe und den sehr großgewordenen dunklen Augen erschien fast gespenstig, und das schmucke Cereviskäppchen, das früher keck über einer wahrhaft prächtigen Lockenfülle geschwebt hatte, saß jetzt fast trübselig auf dünngewordenen, spärlichen Haarringeln – im Vergleich zu der tadellos schönen Männergestalt des Hüttenmeisters sah der junge Mann verkommen, ja, beinahe häßlich aus.

In dem Flußbett, neben welchem die Beiden eine kurze Strecke hingingen, tobte eine lehmfarbene Wassermasse; das Ufergebüsch war zum größten Theil verschwunden, und nur noch die oberen Zweige der elastischen Weide ragten wildgepeitscht aus dem Schwalle. Das Wasser stieg von Stunde zu Stande. … Auf der Jochbrücke, die ein Stück oberhalb des Wehres über den Fluß führte, blieb der Hüttenmeister einen Augenblick stehen und verfolgte tiefbesorgt die Gegenstände, die in rasender Geschwindigkeit heranschwammen – es waren bis jetzt nur Baumstämme und weggeschwemmtes Scheitholz, die mit wuchtigen Stößen gegen die Brückenpfähle fuhren und das altersmorsche Bauwerk in allen Fugen krachen ließen.

Wie anders war die Scenerie hinter dem altmodischen, eisernen Gitterthor des Arnsberger Schloßgartens! … Wo der Schnee den intensiven Sonnenstrahlen nicht hatte weichen wollen, war er durch Menschenhände weggeräumt worden. In den langen Lindenalleen leuchtete der trockene, weißgebleichte Kies, die violetten Sterne der Leberblümchen und die gelben Krokuskelche guckten aus dem schwarzen Erdreich der Rondels, und über den weiten Rasenflächen lag der erste wunderfeine Anhauch der hervorkeimenden Grasspitzen. Hinter der Glaswand des großartigen Treibhauses aber dufteten und schimmerten alle Blüthenformen und -Farben, vom dunkeläugigen Veilchen an bis hinauf zur formenschönen, aristokratischen, aber seelenlosen Camellie.

Der Hüttenmeister bemerkte nicht, wie sich der Blick des Studenten verfinsterte, als das weiße Schloß hinter den blätterlosen Baumgruppen aufleuchtete – und es sah doch so gastlich aus; es hatte seine sämmtlichen Fensterläden aufgeschlagen, alle Balconthüren standen weit offen, Lehnstühle und Tabourets waren in ihr Bereich gerückt, und in die sonnengesättigten Lüfte hinaus kreischten Papageien und andere buntschimmernde Exemplare einer exotischen Vogelwelt, die auf ihrem Ring balancirend oder auch in der engeren Haft des Messingkäfigs aus den Balcons standen.

Im Hof, der, inmitten der drei Schloßflügel liegend, durch ein schwarzes Eisengitter vom Garten geschieden wurde, herrschte reges Leben. Der Minister war gestern angekommen und wollte heute noch nach A. zurück, wo für den Abend großer Hofball angesagt war. Wahrscheinlich stand der Moment der Abfahrt nahe bevor; die Stallbedienung schob verschiedene Wagen aus den Remisen und lief geschäftig von einer Thür in die andere. Im vollkommenen Gegensatz zu diesem Treiben lungerten zwei Lakaien in dem Portal, das nach dem Vestibüle führte. Offenbar beim Mittagstisch servirend – sie hatten Servietten über die rechte Schulter geschlagen – ließen sie sich während der Pause zwischen zwei Gängen von der Sonne bescheinen. Sie lehnten den Rücken gegen die Thüreinfassung und streckte die in Kniehosen und weißen Strümpfen steckende Beine lang hin. Keiner hielt es für nöthig, seine nachlässige Stellung zu verändern, ja, auch nur die unverschämt vorgeschobenen Fußspitzen ein wenig zurückzuziehen, als die beiden jungen Leute über die Schwelle schritten. Der Student maß ihre stupid hochmüthigen Gesichter mit einem funkelnden Blick und schlug sich mittels einer hastigen Bewegung das Käppchen fester auf den Kopf.

Droben an der Thür, die einen Corridor verschloß, blieb der Hüttenmeister einen Augenblick stehen, ehe er die Hand auf den Drücker legte.

„Nein, wenn das so fortgeht, da kann Unsereins factisch nicht mehr bleiben!“ sagte drin eine, weibliche Stimme, fast erstickt vor Aerger. „Na, die hochselige Gräfin sollte nur ’mal kommen und den Scandal mit ansehen! … Vom Tische fortgeschickt! Hat man so ’was schon erlebt? – Die kleine Gräfin Sturm vom Tische fortgeschickt, weil sie nicht um Verzeihung bitten will – und wen, frage ich? … Hören Sie, Charlotte, ich weiß noch recht gut, wie sie am Weihnachtsabend ankam in der gnädigen Frau ihrem blauen Sammetmantel, weil sie selber nicht einmal ein Mäntelchen auf dem Leibe hatte – Unsereins hätte sich zu Tode geschämt, so anzukommen. … Die eingebildete Person! Bei ihrer Mutter hat sie Hunger und Kummer leiden müssen. … Mir hat der Forstgehülfe Müller selbst erzählt, daß er gar manches Mal ein Auge zugedrückt hätte, wenn der alte Sievert Holz mitgenommen –“

In diesem Augenblick stieß der Hüttenmeister, flammendroth im Gesicht, die Thür auf. Lena, die hübsche Kammerjungfer der kleinen Gräfin, fuhr erschrocken zurück und schrie laut auf, wobei ihr die daneben stehende Collegin secundirte. Allein die kleine Dame hatte sich an Umgang mit Hofleuten gebildet und verlor lieber ein Stückchen persönlicher Ehre, als ihren guten Ruf hinsichtlich der Formgewandtheit; demgemäß hatte sie sich sofort wieder gefaßt. Anmuthig lächelnd legte sie die kleine, beringte Hand kokett auf ihr erschrockenes Herz, schritt aber dabei nach einer Thür zurück, deren einen Flügel sie einladend öffnete.

„Bitte, treten Sie einstweilen ein, Herr Hüttenmeister!“ sagte sie freundlich. „Fräulein von Zweiflingen ist noch bei Tische – es wird heute drunten im weißen Zimmer bei Seiner Excellenz dinirt.“

Der junge Mann war schweigend an ihr vorübergeschritten – auf der Schwelle aber wich er überrascht zurück; der geöffnete Thürflügel war breit genug, um auch dem nachfolgenden Studenten einen Einblick in das Zimmer zu gewähren. … Das Tageslicht, das draußen so golden auf Berg und Thal lag, schwamm grün, gleichsam als smaragdener Duft da drinnen – es drang durch leuchtend grüne, seidene Gardinen. Mit solch’ grünem Zauber umspinnt die Sage den Meeresboden – ein dichterischer Gedanke, den üppige Phantasie und ein raffinirter Geschmack der Ausschmückung dieses Zimmers zu Grunde gelegt hatte. Der strahlende Seidenstoff der Vorhänge rauschte auch über Thüren und Wände und lag auf den schwellenden Polstern der muschelförmig geschweiften Fauteuils und Causeusen, deren Contouren eine schmale, mit Perlmutter ausgelegte Holzeinfassung bezeichnete. … Bleiche Marmorgestalten, Nereiden und schilfumrankte Tritonen, hoben sich aus der Wanddraperie, und das grüne Licht spielte hin über die weißen Leiber, wie die leichte Schaumwelle des Meeres. Auf dem Fußboden lag ein dunkler Smyrnateppich, bedeckt mit Seelilien und langen Schilfblättern; Gruppen von Korallen und Muscheln rafften die Vorhänge und Portieren zurück, und an der Decke schwebte als Ampel eine riesige Lotosblume aus weißem Milchglas.

„Treten Sie nur näher, Herr Hüttenmeister!“ wiederholte die Kammerjungfer – ihr freundliches Lächeln wandelte sich zu einem unsäglich boshaften; sie schien sich an dem Befremden des jungen Mannes zu weiden. „Es ist ja ganz gewiß Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer – nur ein klein Bischen verändert. … Excellenz haben gestern gefunden, daß die Motten in den wolldamastenen Möbeln seien, und da ist die Einrichtung aus dem Lieblingszimmer der hochseligen Frau Gräfin Völdern heraufgeschafft worden.“

Die schlanke, geschmeidige Gestalt des unseligen Weibes hatte einst auf diesen Polstern geruht – über ihr Nixenhaupt mit dem strahlenden, goldblonden Haar und den verlockenden Augen war der grüne Meereszauber hingeflossen. …

Der Student warf einen forschenden Blick auf das Gesicht seines Bruders – war es einzig und allein die Wirkung des bleichenden Lichtes da drinnen, unter der mit einemmal die Züge des Hüttenmeisters so statuenhaft starr und marmorweiß erschienen? … Er trat mechanisch auf die Schwelle, und der Student folgte ihm.

[113]
7.

In diesem Augenblick schrillte eine heftig angezogene Klingel durch den Corridor. Lena, die ein Bündel Kleidungsstücke auf dem Arme trug, drängte sich hastig an den beiden jungen Leuten vorüber und verschwand in einem Seitenzimmer, dessen Thorflügel weit offen standen.

Drüben schalt eine Kinderstimme die Kammerjungfer wegen ihres langen Ausbleibens. Berthold hörte diese herrischen, aber trotz alledem doch so süßklingenden Laute zum ersten Mal; er bog unwillkürlich den Kopf vor. Eine lange Flucht von Gemächern schloß sich dem Boudoir an, in welchem er sich befand.

In der gegenüberliegenden Thür des anstoßenden Salons stand die kleine Gräfin, das Geschöpfchen, das den Nimbus eines feudalen, altberühmten Namens über der Stirn trug und mit seinen kleinen Füßen herrschend auf einem kolossalen Besitz stand. … Eine Portiere von dunkelviolettem Plüsch hing über dem blassen Gesichtchen und verlieh ihm einen häßlich gelben Ton – abstoßend vom Kopf bis zur Zehe stand das Kind dort, für diesen Moment selbst des einzigen Reizes verlustig, den es besaß: die braunen Augen mit dem sonst so weichen Blick sprühten vor Erbitterung und – Hochmuth.

Die Kleine nahm hastig einen Mantel von Lena’s Arm und warf ihn Über die Schultern; das strahlend rosenrothe Hütchen jedoch, das ihr die Kammerjungfer hinhielt, wies sie zurück.

„Es ist ja aber das Neueste!“ bat Lena. „Excellenz der Papa haben es gestern mitgebracht –“

„Ich will nicht,“ entschied die kleine Gräfin kurz und ergriff eine dunkle Capuze, in die sie das Köpfchen hüllte. Dann lockte sie Puß, der auf einem Kissen am Ofen lag, zu sich heran und nahm ihn auf den Arm.

Drunten fuhr donnernd ein Wagen vor. … Die Kammmerjungfer, die bereits in einem dicken Winterüberwurf steckte, warf eine Capuze über den Kopf – das Alles sah aus wie eine schleunige Abreise.

Jetzt erst, als sie sich zum Gehen anschickte, sah Gisela den Hüttenmeister, der währenddem in die Salonthür getreten war. Sie nickte ihm leicht, wie einem alten Bekannten, zu, aber das holde Lächeln, das auch er bisweilen an ihr gesehen, erschien nicht auf dem unschönen Gesichtchen.

„Ich fahre nach Greinsfeld,“ sagte sie trotzig. „Greinsfeld gehört mir ganz allein, hat die Großmama immer gesagt. … Papa will der Fräulein von Zweiflingen die Roxane schenken.“ …

„Wer ist denn Roxane?“ fragte der Hüttenmeister mit dem schwachen Versuch eines Lächelns – seine sonst so volle Stimme klang matt und tonlos.

„Nun, Großmama’s Reitpferd. … Fräulein von Zweiflingen soll reiten lernen, hat Papa heute bei Tische gesagt. … Die arme Roxane, ich hab’ sie sehr lieb und leide es nicht, daß sie so abgehetzt wird! … Und sehen Sie doch, das ganze Seezimmer hat Papa heraufschaffen lassen – die Großmama wird sehr, sehr böse sein im Himmel!“

Sie schritt aufgeregt dem Ausgang zu; aber noch einmal drehte sie sich um. „Ich hab’ dem Papa gesagt, daß ich Fräulein von Zweiflingen nicht leiden kann,“ sagte sie, den kleinen Kopf zurückwerfend – die tiefste, innerste Genugthuung klang noch aus jedem Laut. – „Sie ist unartig, gegen unsere Leute und sieht immerfort in den Spiegel, wenn sie mir Stunden giebt. … Aber da ist Papa furchtbar böse geworden – ich sollte sie um Verzeihung bitten, denn sie hatte ein ganz rothes Gesicht. … O, ich werde mich hüten! Es schickt sich nicht für mich, zu bitten, hat die Großmama immer gesagt –“

Sie brach plötzlich ab – der unten haltende Wagen rollte davon. Fast zu gleicher Zeit, wurde eine Thür am äußersten Ende der langen Zimmerreihe geöffnet, und wenn auch die allerorten liegenden dicken Teppiche die Fußtritte dämpften, so hörte man doch, daß ein Mann rasch näher schritt.

„Excellenz der Papa!“ flüsterte Lena.

Gisela wandte sich um. Jedes andere Kind würde in einer ähnlichen Lage Furcht und Angst empfunden haben, denn das Gefühl der Ohnmacht und Abhängigkeit bricht in entscheidenden Momenten unerbittlich selbst über die trotzigste Kinderseele herein – allein diese kleine Waise wußte ja, daß sie selbständig sei; um das aristokratische Bewußtsein in ihr zu erwecken, hatte man ihr das holde Gefühl kindlicher Abhängigkeit und Unterwerfung geraubt. … Sie drückte ihren Puß fest an sich und erwartete, unter die Plüschportiere tretend, ruhig ihren Stiefvater.

Der Hüttenmeister zog sich in den Hintergrund des Boudoirs zurück.

„Hochmüthige Brut! – Wie gut die kleine Schlange schon zu zischen versteht!“ murmelte der Student grimmig, indem er sich widerwillig neben seinen Bruder stellte – er hätte am liebsten das weiße Schloß mit all’ seinen Insassen im Rücken gehabt.

Der Minister war inzwischen näher gekommen.

„Ah – in der That reisefertig, mein Hühnchen?“ fragte er [114] mit kaltem Spott – wer aber die Stimme dieses Mannes genau kannte, der mußte sofort erkennen, daß ihn die gewohnte Ruhe verlassen hatte – er war offenbar tieferregt. „Also nach Greinsfeld wollte die Gräfin? Und Sie sind albern genug, sie bei dieser Farce zu unterstützen?“ fuhr er die Kammerjungfer an.

„Excellenz,“ vertheidigte sich das Mädchen resolut, „die Gräfin hat stets selbst befohlen, wenn sie ausfahren will, und uns Allen ist streng verboten worden, ihr zu widersprechen.“

Diesen gegründeten Einwurf völlig ignorirend, zeigte der Minister gebieterisch nach der Thür, hinter welcher die Kammerjungfer sofort verschwand; dann ergriff er ohne Weiteres die Katze, um sie nach ihrem Kissen zu jagen, und ebenso rasch nahm er dem Kind Mantel und Capuze ab und warf sie auf den nächsten Stuhl. … Währenddem hatte sein Gesicht jene förmlich versteinernde Ruhe wieder angenommen, die stets für Freund und Feind gleich unergründlich blieb. Auch nicht der leiseste Strahl von Zärtlichkeit fiel aus den tief niedergesunkenen Lidern auf die kleine Stieftochter, gleichwohl strich er liebkosend mit seinen schlanken, weißen Händen über ihren Scheitel – das Kind fuhr zurück wie von der Tarantel gestochen.

„Sei vernünftig, Gisela!“ mahnte er drohend. „Zwinge mich nicht, Dich ernstlich zu strafen. … Du wirst Dich mit Fräulein von Zweiflingen versöhnen, und zwar auf der Stelle, – ich will es noch sehen, ehe ich abreise.“

„Nein, Papa – sie kann wieder in’s Pfarrhaus ziehen, oder zu der alten, blinden Frau im Walde, die so bös war –“

Der Minister faßte erbittert die magere, zerbrechliche Gestalt und schüttelte sie heftig; zum ersten Mal in ihrem jungen Leben wurde die Kleine in der Weise gezüchtigt. – Sie schrie nicht, und die Augen blieben thränenlos, aber ihr Gesicht wurde weiß wie Kalk.

„Papa, Du darfst mir nichts’ thun – die Großmama sieht’s!“ drohte sie mit halberstickter Stimme.

Dieser peinlichen Scene machte der Hüttenmeister rasch ein Ende, indem er sich der Salonthür näherte und somit in den Gesichtskreis des Ministers trat. … Es gab wohl Wenige, die sich diesem Mann ohne Herzklopfen näherten – er war es gewohnt, niedergeschlagene Augen und ängstlich befangene Gesichter vor sich zu sehen – und jetzt stand da drüben im Seezimmer „unangemeldet“ die imposante Mannesgestalt, deren hochgetragener blonder Lockenkopf sich so kühn von dem leuchtenden, seidenrauschenden Hintergrund abhob – zudem überraschte der Eindringling den vollendeten Diplomaten in einem Moment, wo ihm die eiserne Maske vornehmer Ruhe entfallen – diese zwei „Tactlosigkeiten“ waren es ohne Zweifel, die das Gesicht Seiner Excellenz mit einer hohen Zornesröthe übergossen, während ein wahrhaft vernichtender Blick sich in die ernsten, furchtlosen Augen des Hüttenmeisters bohrte. Dies Alles aber war nur die Erscheinung eines Augenblicks.

„Ah, sieh da, Hüttenmeister Ehrhardt! … Wie kommen Sie denn hierher?“ rief der Minister, indem er mit eisernem Griff die widerspenstige kleine Gräfin auf den nächsten Fauteuil nöthigte. … Die Nonchalance und eiskalte Herablassung in seinem Ton, wie auch die meisterhaft markirte Verwunderung über die unverhoffte Anwesenheit des jungen Beamten in Seiner Excellenz Schlosse hatten etwas unbeschreiblich Verletzendes.

„Ich erwarte meine Braut,“ entgegnete der Hüttenmeister, ruhig in seiner nichts weniger als devoten Haltung verharrend.

„Ah so – ich vergaß –!“ Mit diesen Worten legte der Minister seine Hand über Stirn und Augen; diese feinen, schlanken Finger genügten jedoch nicht, die dunkle Gluth zu bedecken, die jählings über sein weißes Gesicht hinfuhr. … Er trat rasch das Fenster und trommelte auf den Scheiben, aber schon nach wenigen Augenblicken wandte er sich nachlässig um – sein Gesicht war blutlos und undurchdringlich wie immer.

„Soviel ich mich erinnere, haben Sie bei meiner jedesmaligen Anwesenheit in Arnsberg den Versuch gemacht, mich zu sprechen,“ sagte er. „Sie werden ebenso, wie alle Anderen, den Bescheid erhalten haben, daß ich lediglich nach dem weißen Schlosse komme, um mein Kind zu sehen, und für diesen Erholungstag alles Geschäftliche bei Seite gelegt wissen will. … Indeß, Sie sind einmal da, und wenn Sie“ – er zog seine Uhr und sah nach der Zeit – „Ihren Vortrag in fünf Minuten fassen können, so sprechen Sie. Aber, kommen Sie herüber – ich kann Ihnen doch unmöglich in Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer Audienz ertheilen!“

Diese letzte Bemerkung sollte ironisch, leicht hingeworfen, klingen – einem feinen Ohr konnte der stille Ingrimm und eine Art von fieberhafter Hast in Ton und Wesen des Ministers nicht entgehen.

Er lehnte sich gegen den niedrigen Fenstersims, schlug die Füße übereinander und kreuzte die Arme, während der Hüttenmeister über die Schwelle trat und sich verbeugte. … Und wenn auch Seine Excellenz die höchste Eleganz und aristokratische Feinheit in jeder Bewegung entwickelte, wenn unsichtbar die Freiherrnkrone über seinem Haupte schwebte und sichtbar unzähligemal sich präsentirte auf Wagenschlag, Siegelring und Taschentüchern, wenn jeder Ausspruch seines bleichen Mundes, jeder Wink seiner Hand Tausenden zu denken und zu fürchten gab – er konnte sich doch nicht messen mit dem, der in diesem Augenblick ihm gegenüberstand.

„Excellenz,“ begann der Hüttenmeister, „ich wollte mir erlauben, das mündlich vorzutragen, was ich bereits schriftlich wiederholt, aber, ohne allen Erfolg –“

Der Minister erhob sich rasch und streckte ihm unterbrechend die Hand entgegen.

„Aha – bemühen Sie sich nicht weiter – nun weiß ich schon!“ rief er. „Sie wollen Zulage für die Neuenfelder Hüttenarbeiter, weil die Kartoffelernte schlecht ausgefallen ist. … Herr, Sie sind des Teufels mit Ihren ewigen Eingaben – Sie und der Neuenfelder Pfarrer! … Glauben Sie denn, wir schütteln das Geld aus dem Aermel und haben nichts Anderes zu thun, als Ihre Berichte zu lesen und uns um die armseligen Nester hier oben zu kümmern? … Nicht ein Pfennig wird bewilligt – nicht ein Pfennig!“ …

Er ging einige Mal auf und ab.

„Uebrigens,“ sagte er stehenbleibend, „ist es gar nicht so schlimm, wie Sie und noch so manche Andere uns weismachen möchten – die Leute sehen ganz gut aus.“

„Allerdings, Excellenz,“ erwiderte der Hüttenmeister und die schöne Purpurröthe, die sofort jede Gemüthserregung in ihm verrieth, stieg auch jetzt in seine Wangen, „noch ist die eigentliche Hungersnoth nicht über uns hereingebrochen – eben, um ihr vorzubeugen, bitten wir; wenn erst der Hungertyphus wüthet, dann ist es zu spät – der Sterbende braucht kein Brod mehr. … Es wäre unbillig, von der Staatsregierung zu verlangen, daß sie jede Calamität sofort in ihrem Ursprung erkenne – sie hat, wie Euer Excellenz sagen, mehr zu thun – aber ich meine, dazu sind wir ja auch da, die wir im Volke leben –“

„Mit nichten, mein Herr Hüttenmeister dazu sind Sie nicht da!“ unterbrach ihn der Minister – die schläfrigen Lider hoben sich abermals und ein unsäglich hohnvoller, verächtlicher Blick maß den jungen Beamten. – „Sie haben den Leuten ihren Wochenlohn auszuzahlen und damit basta – ob sie damit Auskommen oder nicht, ist ihre Sache. … Sie sind fürstlicher Diener, und als solcher haben Sie einzig und allein den Vortheil Ihres Herrn zu wahren –“

„Das thue ich redlich, wenn auch noch in einem anderen Sinne, als Euer Excellenz meinen,“ versetzte der Hüttenmeister fest – er war bleich geworden, blieb aber unerschütterlich ruhig. „Jeder Beamte, hoch oder niedrig, ist Diener des Fürsten und Volkes zugleich, ein vermittelndes Glied zwischen Beiden, in seiner Hand liegt es zum großen Theil, die Liebe des Volkes zu der herrschenden Dynastie zu befestigen. … Ich kann unserem Herrn nicht treuer dienen, als wenn ich um das Wohl und Wehe der wenigen seiner Landeskinder, die mein Wirkungskreis mit umschließt, rastlos besorgt bin und in dem Glauben lebe, ich sei auf diesen Standpunkt gestellt, um –“

„Genau wie der fromme Pfarrer von Neuenfeld!“ unterbrach der Minister mit einem spöttischen Lächeln den Sprechenden. „Der bringt auch immer seinen gottgesegneten Standpunkt! … Ja, ja, lauter Herren von Gottes Gnaden, die sich einbilden, in’s Regieren pfuschen zu dürfen! … Ich bin übrigens begierig, von Ihnen zu hören, wie wir die nöthigen Mittel beschaffen sollen, denn, ich wiederhole es, zu dergleichen Zwecken haben wir absolut kein Geld. … Soll vielleicht Seine Durchlaucht die für den Mai projectirte Vergnügungsreise aufgeben? Oder wünschen Sie, daß der heutige Hofball abgesagt werde?“

[115] Der Hüttenmeister biß sich auf die Lippen und die Finger seiner schönen, kräftigen Hand krümmten sich unwillkürlich zur Faust – der unglaubliche Hohn des Ministers mußte das friedfertigste Gemüth bis in seine tiefsten Tiefen empören; aber obgleich man das stürmische Herzklopfen in der Stimme des jungen Mannes hören konnte, er entgegnete doch sehr beherrscht: „Wenn unser Durchlauchtigster Herr wüßte, wie es hier oben steht, dann würde er sicher die Reise aufgeben, denn er ist edel. Und zur Ehre der Damen, die heute Abend bei Hofe erscheinen, will ich glauben, daß sie zu Gunsten der Hungernden auf das Vergnügen des Tanzes verzichten würden. … Es könnte Vieles anders sein, wenn –“

„Wenn ich nicht wäre, nicht wahr?“ unterbrach ihn der Minister, indem er mit einem sardonischen Lächeln auf die Schulter des jungen Mannes klopfte. „Ja, ja, mein Lieber, auch ich huldige dem göttlichen Princip, nach welchem die Bäume nicht in den Himmel wachsen dürfen. … Und nun genug! … Mir dürfen Sie am allerwenigsten mit dergleichen sentimentalen, völkerbeglückenden Ideen kommen, denn ich bin durchaus nicht Diener des Volkes – wie Sie vorhin so geistreich zu bemerken beliebten – sondern einzig und allein Hüter und Mehrer des dynastischen Glanzes – das ist mein Streben, ein anderes kenne ich nicht!“

Er ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen wieder auf und ab. Der Hüttenmeister hatte früher manchmal vor diesem Mann gestanden – im gewöhnlichen Verkehr entwickelte er bei aller undurchdringlichen Verschlossenheit der Außenseite doch so viel Liebenswürdigkeit, daß man für Momente vergaß, den bösen Feind des Landes in ihm zu sehen – es mußten außergewöhnliche Vorgänge in seiner Seele sein, welche die Leidenschaft so rückhaltslos auf die Oberfläche trieben. …

„Sie sind ein unverbesserlicher Schwärmer, ich kenne Sie!“ sagte er nach einer Pause stehenbleibend – wunderbarerweise klang seine erst so scharf zugespitzte Stimme plötzlich weich und wohlwollend. „Bei Ihrer sogenannten humanen Anschauungsweise müssen Sie sich hier oben unbehaglich fühlen – ich sehe das ein, kann Ihnen jedoch mit dem besten Willen nicht in der Weise helfen, wie Sie wünschen; … aber einen Vorschlag möchte ich Ihnen machen“ – die langen Lider legten sich bei diesen Worten tief über die Augen, es war unmöglich, auch nur einen Zug seines Gesichts zu entziffern, so starr und unbeweglich erschien es; – „es würde mir ein Leichtes sein, Sie in England brillant zu placiren.“ …

„Ich danke, Excellenz!“ unterbrach ihn der junge Mann eiskalt. „Als mein Vater starb, da legte er mir Zweierlei an’s Herz: die Sorge für meinen unmündigen Bruder und den dringenden Wunsch, daß ich dereinst seinen Posten am hiesigen Hüttenwerk bekleiden möchte. … Er war ein Neuenfelder Kind, ein wackerer Thüringer, der sein ganzes Leben lang nach Kräften gestrebt hat, seinen armen Landsleuten aufzuhelfen. … Und ich denke wie er, Excellenz! … Ich will mit ihnen leben und leiden – ich verdiente nicht, sein Sohn zu sein, wenn ich feig dem Elend den Rücken kehren wollte, das er muthig zu bekämpfen gesucht. …

„Nun, nun, ereifern Sie sich nicht!“ unterbrach ihn der Minister, indem er ihm mit wahrhaft vernichtender Ironie scheinbar besänftigend die Hand entgegenstreckte. „Leiden Sie immerhin, wenn es Ihnen Vergnügen macht!“ …

Die nächste Umgebung des Ministers würde in diesem Augenblicke gezittert haben – diese jähe Gluth, die häßliche rothe Flecken auf die weiße Stirn warf, war das untrügliche Anzeichen eines herannahenden Sturmes – er kam jedoch nicht zum Ausbruch. … Es war nur das leise Knistern und Rauschen seidener Gewänder, das sich dem Salon näherte, aber bei diesem feinen Geräusch schlossen sich die halbgeöffneten Lippen des gereizten Mannes wieder fest aufeinander; wie von einem elektrischen Schlag berührt, wandte sich sein Kopf nach der Zimmerreihe, dabei bewegte er die Hand hastig und gebieterisch als Zeichen der Entlastung nach dem Hüttenmeister zurück – allein, mißverstand der junge Beamte diese unzweideutige Geberde, oder wollte er, aller Etikette zum Trotz, eigenmächtig die Audienz verlängern? … Er wich nur bis an die Thür zurück, dort blieb er stehen, den Ausdruck eiserner Entschlossenheit auf dem blaßgewordenen Gesicht, während der Minister unter die Plüschportiere trat.

„Nun, meine beste Frau von Herbeck, ist Ihnen die Zeit unten gar so lang geworden, daß Sie meine Zurückkunft nicht erwarten konnten?“ rief Seine Excellenz der Gouvernante entgegen, die in Jutta’s Begleitung rasch auf ihn zuschritt.

„Ich konnte unmöglich annehmen, daß Excellenz noch einmal nach dem Speisezimmer zurückkehren würden,“ entgegnete die Dame, tief betroffen von dem heftigen Unwillen in seiner schneidend scharfen Stimme. „Der Wagen wartet bereits.“

Diesen Moment benutzte ein Bedienter, der den Damen gefolgt war – er meldete mit einem tiefen Bückling, daß Alles zur Abfahrt bereit sei.

„Ausspannen und um sechs Uhr wieder Vorfahren!“ herrschte ihm der Minister zu. Der verblüffte Mensch flog davon, wie eine fortgewirbelte Handvoll Spreu.

Mittlerweile glitt die kleine Gisela von ihrem Fauteuil herab, aber nicht, um der Verhaßten, die jeden Augenblick in den Salon treten konnte, aus dem Wege zu gehen. Sie war dem Wortwechsel zwischen ihrem Stiefvater und dem Hüttenmeister regungslos gefolgt; ihr kleines trotziges Herz mußte wohl über den Worten „Hungersnoth“ und „Sterben“ den eigenen Groll und Kummer für einen Moment völlig vergessen haben, denn ohne nur einen Blick auf den Minister und die draußen stehenden Damen zu werfen, trat sie vor den Hüttenmeister hin und fragte hastig, mit nicht zu verkennender Angst: „Haben die Kinder in Neuenfeld wirklich gar nichts zu essen?“

Bei diesen kindlichen Lauten fuhr der Minister herum – er hatte ohne Zweifel gemeint, der Bittsteller habe das Zimmer verlassen, und nun stand er noch dort, so „unanständig selbstbewußt und zuversichtlich“, als sei der Salon der kleinen Gräfin Sturm und das Schloß Seiner Excellenz des Ministers der Boden, auf den er von Rechtswegen gehöre.

Durch die rasche Wendung des Ministers war die Thür frei geworden, an deren Schwelle Jutta stand. Der Moment schien gekommen, wo dies junge Mädchen neidlos an das schimmernde Atlasgewand des mütterlichen Portraits denken konnte. … Sie hatte zum ersten Mal die tiefe Trauer abgelegt. Ein hellgrauer, schillernder Seidenstoff fiel in starren, schweren Falten von den Hüften nieder, um die Büste aber legte er sich glatt und knapp, einen wahren Silberschein über die plastisch hervortretenden, wundervollen Linien gießend. Ein kleiner Kamm von geschliffenen Lavasternen nahm das Haar leicht von der Stirn zurück und ließ es an den Schläfen niederfallen; fast erschienen diese dunklen Lockenmassen, die sich bis auf die Mitte der Brust ringelten, zu wuchtig für den kleinen Kopf – er bog sich in diesem Augenblick leicht vornüber wie das süß hinneigende Haupt der weißen Narcisse. Sie hielt ein prachtvolles Hyacinthenbouquet in den gefalteten, lässig niedergesunkenen Händen – es sah aus, als ruhe ihr gesenkter Blick innig auf den duftenden Blumenglocken; auch nicht ein Zug von Dünkel und Hochmuth entstellte augenblicklich diese Mädchenerscheinung, auf deren Haupt die Natur noch einmal all’ jenen verführerischen Zauber ergossen, der das nun erloschene Geschlecht der Zweiflingen zu allen Zeiten fast noch gefährlicher gemacht hatte, als sein ritterlicher Muth, seine gerühmte Sicherheit in der Waffenführung.

Die Frage des gräflichen Kindes blieb unbeantwortet – der hochgewachsene Mann, an den sie gerichtet, wußte offenbar gar nicht, daß zu seinen Füßen das kleine Mädchen stand und mit den angstvoll fragenden, braunen Augen zu ihm aufsah. … Jutta trat ja eben über die Schwelle, und ihr Blick fiel auf ihn – eine brennende Röthe lief ihr über Gesicht und Hals unter den Augen, die unabweisbar auf ihr ruhten. … Welche Veränderung war mit ihm vorgegangen! Er, der keusch zurückhaltende Charakter, der sich scheute, in Frau von Herbeck’s Gegenwart auch nur einen Finger seiner Braut zu berühren, er schritt jetzt, unbekümmert um die Anwesenden, rasch auf die junge Dame zu und ergriff ohne Weiteres eine ihrer Hände – dabei fiel das Bouquet zur Erde – er dachte nicht daran, es aufzuheben, vielmehr legte er seine. Rechte auf Jutta’s Scheitel, bog ihren Kopf zurück und sah tiefernst und forschend in ihre Augen.

Hätten Frau von Herbeck’s Blicke nicht in namenloser Verlegenheit an dieser Gruppe gehangen, sie wäre tödtlich erschrocken über den Anblick des Ministers. … Einen Moment schien es, als wolle er sich wie ein Tiger auf den Verwegenen stürzen und ihn mit der geballten Faust zu Boden schlagen – wer ahnte [116] wohl unter den schläfrigen Lidern diese funkelnden, eine unbändige Gluth und Leidenschaft ausströmenden Augen! Wer aber auch hätte je gedacht, daß über dies hochmüthige Marmorgesicht ein so lebendiger Ausdruck von Verzweiflung Hingleiten könne!

Jutta’s Kopf schlüpfte elastisch unter der Hand des Hüttenmeisters weg; dann bog sie sich rasch nieder, nahm das Bouquet auf und vergrub ihr glühendes Gesicht in den Blumen; weniger gelang es ihr, die Hand zu befreien – der Hüttenmeister hielt sie mit fast schmerzendem Drucke fest und zog sie ohne alle Hast, aber unwiderstehlich an sich heran; das junge Mädchen mußte ihm wohl oder übel nach dem Seezimmer folgen, wenn es nicht eine förmliche Scene machen wollte.

An der Thür wandte sich der junge Beamte um und verbeugte sich ruhig – der Blick des Ministers fuhr glitzernd über ihn hin, aber diesmal unterblieb das gnädige Handwinken Seiner Excellenz.

„Vergessen Sie nicht, Fräulein von Zweiflingen, daß ich noch das Notturno von Chopin hören muß, ehe ich nach A. zurückkehre!“ rief er hinüber – seine Stimme klang heiser, und das Lächeln, das seine zuckenden Lippen erzwingen wollten, mißlang.

Eine tiefe, stumme Verbeugung des jungen Mädchens war die Antwort, und während er, die kleine Gisela an der Hand, die Zimmer entlang schritt, um in das untere Stockwerk zurückzukehren, trat sie mit dem Hüttenmeister und der ihr wie ein Schatten folgenden Frau von Herbeck in das grüne Zimmer.


8.

Und nun stand auch der Student zum ersten Mal vor der Braut seines Bruders. Die unverbindliche, schlaffe Haltung, das scharfgespannte Muskelspiel in dem fleischlosen Gesicht und die kahlgewordene Stirn machten ihn alt. Zorn und Groll brannten in seinen tiefliegenden Augen – er war ja in seiner Ecke ungesehener Zeuge des Gesprächs zwischen dem Minister und seinem Bruder gewesen. … Jutta hatte offenbar einen sehr unangenehmen Eindruck von ihm, um so mehr, als auch nicht das geringste Zeichen verrieth, daß ihn ihre äußere Erscheinung überraschte. Sie fand kein freundliches Wort und reichte ihm kalt die Fingerspitzen, die er ebenso frostig einen Moment berührte.

Wie ermüdet, oder auch gelangweilt, ganz im Stil einer hochgebietenden, vollendeten Weltdame, ließ sie sich in eine Causeuse fallen – der hinreißende Zauber kindlicher Befangenheit, mit welchem sie vor dem Minister gestanden, war verschwunden. Sie lud die Herren mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Frau von Herbeck setzte sich neben sie auf die Causeuse. Die gute Dame, die nicht wich und wankte in ihrem ehrenhaften Amt als Tugendwächterin, sah sehr echauffirt aus – der Student dachte bei diesen glühenden Wangen und den im feuchten Glanze schwimmenden Augen unehrerbietig genug an einige silberhalsige Flaschen, die er im Vorüberschreiten auf einem Büffet des Vestibüles gesehen.

Sie hatte ihre Verlegenheit und Indignation von vorhin tapfer niedergekämpft und bemächtigte sich sofort der Conversation, da Jutta schweigend und sichtlich verstimmt einzig und allein damit beschäftigt schien, die Hyacinthenglocken ihres Bouquets zu zählen. … Sie sprach von dem großen Wasser draußen, von der Möglichkeit einer Ueberschwemmung, von ihrer Angst, daß das Wasser bis an die Treppe des weißen Schlosses steigen könne, aber mit keinem Wort von den bedrohten Lehmhütten des Dorfes.

Der Hüttenmeister ließ sie eine Zeitlang gewähren – vielleicht hörte er gar nicht, was sie plauderte – sein Blick haftete fest auf dem Gesicht seiner Braut – einmal mußten sich doch diese gesenkten Wimpern heben. … Man sagt, das schlafende Kind erwache unter einem durchdringenden Blick – eine mimosenhafte Empfindlichkeit der reinen Kinderseele! – War alles kindliche Element aus dem scheinbar tief in sich versenkten Mädchengemüth gewichen, oder fehlte der erweckende elektrische Funke, in dem Augenstrahl des ihr gegenübersitzenden Mannes? – sie sah nicht auf, kein Zug ihres Gesichts veränderte sich.

„Ich bin sehr begierig, das Notturno von Chopin von Dir zu hören, Jutta,“ sagte der Hüttenmeister plötzlich mit seiner festen, wohllautenden Stimme mitten in eine fließende Phrase der Gouvernante hinein.

Jutta fuhr empor – jetzt waren die Wimpern aufgeschlagen, und die Augen, größer als je, sahen ihn mit einem Gemisch von Schrecken und Erstaunen an. Frau von Herbeck aber verstummte und erstarrte sollte dieser Mensch wohl so maßlos unverschämt sein, an die Möglichkeit seiner Gegenwart im Musikzimmer Seiner Excellenz des Ministers zu denken? …

„Begreiflicherweise nicht hier, wo Du kein eigenes Instrument hast!“ fuhr er gelassen fort. „Wir gehen in’s Pfarrhaus –“

„In’s Pfarrhaus?“ rief Frau von Herbeck und schlug die Hände zusammen. „Um’s Himmelswillen, wie kommen Sie denn auf diese Idee, bester Herr Hüttenmeister? … In’s Pfarrhaus kann Fräulein von Zweiflingen doch unmöglich gehen – sie ist ja mit den Leuten total zerfallen!“

„Das höre ich zum ersten Mal,“ sagte der junge Mann. „Wie, zerfallen, weil Deine angegriffenen Nerven den Kinderlärm nicht ertragen konnten?“ wandte er sich an Jutta.

„Nun ja, das war der hauptsächliche Grund,“ entgegnete sie trotzig. „Ich schaudere, noch in der Erinnerung an diese Linchen und Minchen, Karlchen und Fritzchen mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen und den ohrzerreißenden Stimmen – mein nervöses Kopfweh ist eine Errungenschaft aus jener entsetzlichen Zeit. … Weiter aber – ich sehe nicht ein, weshalb ich Dir’s länger verschweigen soll – habe ich einen unsäglichen Widerwillen gegen die Pfarrerin selbst. Diese grobe, hausbackene Person steckt vollmaßloser Herrschsucht, und ich fühle selbstverständlich nicht die mindeste Lust, mich unter ein Commando zu stellen, das mir durchaus Besen und Kochtopf aufnöthigen und alle höheren Interessen in mir ersticken will.“

Sie sank wieder zurück und ließ die Lider über die Augen fallen. Die dunkle Lockenfluth breitete sich über das grüne Polster, und das marmorweiße Gesicht mit den energisch geschlossenen Lippen hatte etwas Sphinxartiges.

[129] „Das ist ein hartes und sehr – vorschnelles Urtheil, Jutta!“ sagte der Hüttenmeister unwillig. … Ich stelle die Pfarrerin sehr hoch, und ich nicht allein – sie wird geliebt und geehrt in der ganzen Umgegend –“

„Ach mein Gott – was wissen denn diese Bauern!“ warf Frau von Herbeck achselzuckend ein.

„Jutta, ich muß Dich dringend bitten, jenen vortrefflichen Frauencharakter ernstlicher zu prüfen!“ fuhr er fort, ohne den impertinenten Einwurf der Gouvernante zu beachten. „Um so mehr, als Du künftig auf dem einsamen Hüttenwerk beinahe nur mit ihr Verkehr haben wirst.“

Jutta senkte lautlos den Kopf und Frau von Herbeck räusperte sich, während sie sich alle erdenkliche Mühe gab, die Ecken ihres Taschentuchs glatt zu zupfen.

„Und nun erlaubst Du mir, daß ich Dir Hut und Mantel hole, nicht wahr?“ fragte der Hüttenmeister sich erhebend. „Die Luft draußen ist köstlich –“

„Und die Wege schwimmen,“ ergänzte die Gouvernante trocken. „Herr Hüttenmeister, ich begreife Sie wirklich nicht! … Wollen Sie Fräulein von Zweiflingen à tout prix krank machen? … Ich hüte sie ängstlich vor jedem Zuglüftchen, und nun soll sie sich unnöthiger Weise durchaus nasse Füße holen – machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber das gebe ich nun und nimmermehr zu!“

Die leutselige gnädige Frau fiel ein wenig aus ihrer Rolle – ein kalter, lauernder Blick fuhr blitzschnell über den Hüttenmeister hin; dieser eine Blick aber belehrte sie plötzlich, daß der für so simpel gehaltene, wortkarge Mann nicht im Geringsten mit sich spaßen lasse.

„Der Waldweg, auf dem meine Braut mir oft entgegengegangen ist, war fast immer bodenlos – meinst Du nicht, Jutta?“ sagte er lächelnd.

Ein feindseliger Ausdruck erschien auf dem tieferröthenden Gesicht der jungen Dame. … was brauchte denn Frau von Herbeck zu wissen, daß es eine Zeit gegeben hatte, wo sie in fieberhafter Ungeduld und Sehnsucht, durch Wind und Wetter, dem Geliebten entgegengegangen war? … Sie beantwortete die Frage nicht.

„Das ist ein Streit um des Kaisers Bart,“ sagte sie herb, in schneidendem Tone. „Ich gehe eben entschieden heute nicht aus, am allerwenigsten aber in’s Pfarrhaus! … Das erkläre ich Dir hiermit unumwunden, Theobald, nie und nimmer betrete ich diese Schwelle wieder!“

Der Hüttenmeister schwieg einen Augenblick. Er stand noch und stützte die Hand auf die Stuhllehne – seine über der Nasenwurzel zusammengewachsenen dunklen Brauen, die das schöne Gesicht so schwermüthig machten, runzelten sich finster.

„In drei Wochen kehrt die kleine Gräfin Sturm nach A. zurück?“ fragte er, aber mit sehr viel Bestimmtheit und Nachdruck, die eine falsch verneinende oder ausweichende Antwort unmöglich machten.

Die Damen sahen ihn bestürzt an, allein keine widersprach.

„Darf ich fragen, Jutta, wo Du zu bleiben gedenkst, wenn das weiße Schloß leer und verlassen ist?“ frug er weiter.

Plötzliche Stille. … Es giebt Momente, die eine ganze Reihe unaufhaltsamer Ereignisse in eine Zeitdauer von wenigen Minuten einschließen, der Mensch fühlt instinctmäßig ihre Bedeutung – es ist, als stünde er unter dem lose gewordenen Schlußstein eines Gewölbes, die nächste Erschütterung wirft ihn herab, und der Bau bricht zusammen – eine solche Erschütterung ist das erste Wort. … Der Hüttenmeister sprach es aus, gerade weil ein energischer Griff in die gegenwärtigen Verhältnisse unumgänglich nöthig war.

„Bis zu dem Moment, wo ich als Dein einziger Beschützer auftreten und Dich im eigenen Hause haben und hegen darf,“ sagte er – seine Stimme verschleierte sich und bebte, und ein Strahl heimlichen, unsäglichen Glückes brach aus seinen Augen – „bis zu dem Moment giebt es keinen anderen anständigen Aufenthalt für Dich, als eben das Pfarrhaus.“

Jetzt erhob sich Frau von Herbeck auch und stemmte ihre weißen, vollen Hände auf den Tisch.

„Wie, Sie wären allen Ernstes im Stande, Fräulein von Zweiflingen in diese – Gott verzeih’ mir’s – Spelunke zurück zu bringen?“ rief sie. „Soll denn diese lebensfrische Geisteskraft durchaus erstickt werden in der frömmelnden, pietistischen Gesellschaft da drüben? … Mir möchte das Herz brechen, wenn ich mir so viel Seelenadel, diese echt aristokratische Mädchenerscheinung inmitten der pfarrherrlichen Hühner und Gänse und eines rüden, widerwärtigen Kinderschwarmes denke! … Schmale Bissen, derbe Hausarbeit und als geistigen Genuß ein Capitel aus der Bibel – Sie wagen es wirklich, diese köstliche Dreieinigkeit einer hoch gebildeten jungen Dame von Stande zuzumuthen? … Mein Herr Hüttenmeister, Sie mögen Ihre Braut recht lieb haben – [130] ich will es nicht bezweifeln – aber – nichts für ungut – die Zartheit der Liebe besitzen Sie nicht, sonst würden Sie nicht ein Etwas in Jutta’s Seele so rauh ignoriren, das nun einmal da ist, das die Herren Socialisten und Demokraten mit all’ ihrer Weisheit nicht wegzuspotten vermögen, das unter dem schwersten Drucke fortlebt, weil es thatsächlich göttlichen Ursprunges ist – ich meine das Bewußtsein der höheren Abkunft!“

Der Student schnellte ein Stück mit seinem Stuhl zurück, und die hochgehobene geballte Hand wäre sicher mit einem zerschmetternden Schlag auf den Tisch niedergefallen, hätte sie nicht der Hüttenmeister noch rechtzeitig ergriffen und festgehalten; aber so ernst warnend er auch den jungen Heißsporn ansah, er bedurfte offenbar selbst aller ihm zu Gebote stehenden Energie, um seine äußere, ruhige Haltung zu behaupten.

„Und so denkst Du auch, Jutta?“ fragte er mit schwerer Betonung.

„Mein Gott, wie Du doch Alles gleich so tragisch nimmst!“ entgegnete sie verdrießlich.

Ihre großen, dunklen Augen hatten einen Moment mit wahrhaft vernichtender Kälte den Studenten gemustert, der es wagte, seine ungeschliffenen Burschenmanieren in das weiße Schloß mitzubringen. Jetzt richteten sie sich auf den Hüttenmeister.

„Du kannst doch unmöglich verlangen, daß ich eine Hymne zur Ehre des Hauses anstimme, in welchem ich mich namenlos elend und verlassen gefühlt habe?“ fuhr sie fort. … „Aber ich bitte Dich, Theobald, stehe nicht so entsetzlich entschlossen dort! Muß es denn immer heißen: ‚entweder, oder‘?“

Sie deutete mit der Hand auf den Stuhl.

„Komm, setze Dich noch einen Augenblick!“ forderte sie ihn fast zutraulich auf. Ein Lächeln irrte um ihre Lippen, ein flüchtiges, kühles Lächeln, – aber es war für heute das erste und einzige – es hatte etwas Versöhnliches für den jungen Mann. Er setzte sich.

„Ich weiß einen Ausweg“ – hob sie an. Frau von Herbeck, die sich nach ihrer erhabenen Rede wieder in die Sophaecke hatte fallen lassen, legte hastig ihre Hand auf den Arm des jungen Mädchens.

„Nicht jetzt, meine Liebe!“ warnte sie mit bedeutungsvollem Blick. „Der Herr Hüttenmeister scheint mir durchaus nicht in der Stimmung, die an sich so harmlose Sache auch harmlos anzusehen –“

„Aber, mein Gott, einmal muß es ja doch gesagt werden!“ rief Jutta ärgerlich. „Theobald, ich habe einen Vorschlag, Plan, oder – nenne es wie Du willst“ – die Vorschläge schienen heute in der Luft des weißen Schlosses zu liegen – „mit einem Wort: die Fürstin von A. will mich als Hofdame placiren. …“

Da war ja der Moment, wo sich die Fugen lösten, wo es verhängnißvoll knisterte und wankte über dem Haupt eines verrathenen Menschen – er hatte ja selbst mit seinem ersten Wort an das schwebende Unheil gerührt.

Er fragte nicht: „Kannst Du es über’s Herz bringen, Dich von mir zu trennen?“ Diese Frage aus einem Männermunde war bereits, angesichts des „beherzten, wohlüberlegten“ Planes der jungen Dame, zur „lächerlichen Sentimentalität“ geworden. … Er sprach überhaupt nicht. Wollte dies schöne, schwermüthige Gesicht mit den fest auf kein Boden haftenden Augen zur Leblosigkeit erstarren? Nur an den Schläfen stieg es unheimlich roth in die Höhe, als sei der Kreislauf des Blutes jählings aus seinen gewohnten Bahnen gewichen und stürme gefahrdrohend nach dem Gehirn. Erst als er nach einer lautlosen, peinvollen Pause die Lider hob, da sah man, daß seine Seele einen tödlichen Schlag erhalten halte.

„Weiß die Fürstin, daß Du verlobt bist?“ frug er tonlos, den erloschenen Blick auf seine Braut richtend.

„Bis jetzt noch nicht. …“

„Und Du glaubst, man werde in dem etikettestrengen A. die Braut eines bürgerlichen Hüttenmeisters als Hofdame zulassen?“

„Wir hoffen zuversichtlich, daß die Herrschaften diesmal, in Rücksicht auf den alten Namen ‚Zweiflingen‘ eine Ausnahme machen werden,“ nahm Frau von Herbeck rasch und lebhaft das Wort. „Freilich muß man diese delicate Angelegenheit sehr, sehr subtil anfassen – überlassen Sie das mir, mein bester Herr Hüttenmeister! … Zeit bringt Rosen! … Im ersten halben Jahr brauchen die Durchlauchten noch gar nichts zu wissen – und dann –“

„Ich bitte Sie, lassen Sie mich mit meiner Braut allein, gnädige Frau!“ unterbrach der Hüttenmeister den Redestrom der Dame.

Sie starrte ihn wortlos an. … Wie, dieser Mann, den man nothgedrungen hie und da auf eine Stunde im weißen Schlosse duldete, er wagte es, sie hinauszuweisen, und noch dazu aus einem Zimmer, das zu ihren eigenen Appartements gehörte? … Nicht einmal Seine Excellenz der Minister erlaubte sich diesen eiskalten, kurzen Ton, wenn er allein zu sein wünschte. … Eigentlich war die bäurische Naivetät, mit der die Begriffe geradezu auf den Kopf gestellt wurden, einfach lächerlich und amüsant – aber die gnädige Frau brachte das Lachen nicht fertig, dem furchtbaren Ernst und der finsteren Entschlossenheit gegenüber, mit welcher sich der junge Mann erhoben hatte und auf ihr Hinweggehen wartete.

Sie warf einen raschen Seitenblick auf Jutta, und angesichts dieses elastischen Profils mit den in leisem Hohn vibrirenden Nasenflügeln und trotzig geschlossenen Lippen, mit dem Gesammtausdruck eines kaltgrausamen Muthes gab sie plötzlich ihren beabsichtigten Widerstand auf – nun war ihr auch, dem „ungeschliffenen Menschen“ gegenüber, jedes Wort zu kostbar. … Sie erhob sich spöttisch lächelnd in ihrer ganzen Majestät, und rauschte, weder rechts noch links sehend, hinüber in den Salon, während der Student hinausgehend die Corridorthür hinter sich schloß.

Jutta stand auf und trat in die tiefe Fensternische, wohin ihr der Hüttenmeister folgte. … Da stand das junge Paar, in vollendeter Körperschönheit Eines des Anderen würdig. Dicht neben ihnen rauschten die grünen Vorhänge nieder, sie gleichsam abschließend von dem Verkehr und Treiben im Schlosse. Von den Wänden herab kamen die Ranken des großblätterigen schottischen Epheu und schlangen sich versöhnlich über die Beiden, und draußen vor dem Fenster lag die weite Welt, über die der Frühling hinlächelte. … Die jungen Bäume trieben neue Wurzeln, und die Blumen, die dereinst ihre bunten Köpfchen im Sonnenlicht wiegen wollten, drückten den kleinen Fuß fest in das Erdreich – Alles wurzelte und trieb tief ein in dem heimischen Boden, sich selbst fesselnd und bindend, um droben in den sonnigen Lüften um so freudiger und sorgloser blühen zu können . … und hier fiel ein Menschenherz von dem anderen ab, und riß in gewaltsamer Selbstbefreiung erbarmungslos an dem fesselnden Band, das mit tausend Wurzeln und Widerhaken in den tiefsten Tiefen der anderen Seele hing.

„Du stehst bereits in Beziehung zu dem A.’schen Hofe?“ begann der Hüttenmeister – eine entschiedene Frage, der man aber das Herzklopfen angstvoller Spannung anhören konnte.

„Ja,“ entgegnete die junge Dame. Sie streifte mit den Händen über ihre knisternde Seidenrobe. „Diesen Stoff hat mir die Fürstin geschickt, und außerdem eine große Kiste voll der feinsten fertigen Leibwäsche, Shawls, Spitzen etc. – mein Ankleidezimmer sieht aus wie ein Bazar. … Die Fürstin kennt meine finanzielle Lage, und es ist ihr wegen des Hofgeschwätzes unangenehm, wenn ich pauvre nach A. komme.“ …

Dies Alles sagte sie leichthin, als etwas Selbstverständliches, während der Hüttenmeister, sprachlos vor schreckensvoller Ueberraschung, förmlich zurücktaumelte. … Aber jetzt brach auch bei diesem Mann der weisen Geduld und Mäßigung ein heiliger Zorn, ein schmerzlicher Ingrimm durch.

„Jutta, Du hast es gewagt, eine so erbärmliche Komödie mit mir zu spielen?“ stieß er erbittert hervor.

Sie maß ihn mit einem stolzen Blick vom Kopf bis zu Füßen. „Ich glaube gar, Du willst mich beleidigen!“ sagte sie kaltlächelnd, aber ihre Augen flimmerten in unheimlichem Glanze. „Hüte Dich, Theobald – ich bin nicht mehr das unwissende Kind, das sich einst willenlos von Dir und – einer verbitterten Mutter hat regieren lassen!“

Er starrte, wie aufgeschreckt, einen Augenblick in das dämonisch schöne Mädchengesicht – dann strich er sich tiefaufseufzend mit der Hand über die Stirn.

„Ja, Du hast Recht - und ich bin blind gewesen!“ murmelte er, „Du bist nicht mehr das Kind, das sich einst freiwillig an mein Herz legte und mir, dem Verzagten, sagte: ,Ich habe Dich lieb – ach, so lieb!’“ – Er biß die Zähne zusammen.

[131] Die junge Dame aber riß in zorniger Verlegenheit ein Epheublatt ab und zerzupfte es in kleine Stücken – das gleichmäßige Rauschen eines Seidenkleides klang ununterbrochen bis in die Fensternische; die Gouvernante marschirte dicht vor der offenen Salonthür wie eine Schildwache auf und ab.

„Ich begreife nicht,“ stieß Jutta mit funkelndem Blick hervor, „wie Du dazu kommst, mich in so abgeschmackter Weise an meine Pflicht zu erinnern! – Beweise mir, daß ich sie verletzt habe!“ –

„Sogleich, Jutta! – Es giebt keinen Rückweg vom Fürstenhof in das Hüttenhaus!“

„Das sagst Du – nicht ich!“

„Ja, das sage ich! … Und wenn Du wirklich zu mir zurückkehrtest ich verschlösse mein Haus vor Dir. … Ich will keine Frau, die Hofluft geathmet hat! Ich will eine ursprüngliche, unberührte Seele neben mir, wie ich sie einst im Waldhause gefunden! … O, ich bin ein Thor gewesen, ein Wortbrüchiger der alten, blinden Frau gegenüber! Nicht eine Stunde durfte ich Dich im weißen Schlosse lassen! Du bist schon vergiftet – der Plunder, mit dem Du Dich so wohlgefällig behängst,“ er zeigte auf das strahlende Kleid – „hat auch den Thau von Deiner Seele gestreift!“

Das war eine tief einschneidende Verurtheilung, und der sie ernst zürnend aussprach, trug den ganzen Glanz eigener fleckenloser Seelenreinheit auf der Stirn.

Frau von Herbeck kam tiefbesorgt über die Schwelle gerauscht – der streng sittliche Mensch kann in gewissen Momenten für frivole Naturen geradezu furchtbar werden, er hat Gewalt über sie – aber Jutta winkte ihr, zurückzukehren – sie wollte allein fertig werden, sie brauchte keinen Beistand.

„Jutta, kehre um!“ fuhr der Hüttenmeister in bebendem Tone fort, während er beschwörend die Linke der jungen Dame ergriff und sie an sich heranzog.

„Um keinen Preis – ich werde mich nicht so lächerlich machen!“

Er ließ ihre kleine, kalte, sich unwillkürlich krümmende Hand sinken.

„So – dann habe ich Dich nur noch zu fragen, wessen Fürsprache Du Deine brillanten Aussichten verdankst?“

Sie sah ihn unsicher an – diese starre Ruhe hatte etwas Furchtbares.

„Meine Freundin, Frau von Herbeck –“ entgegnete sie zögernd.

„Wer unsere stolzen Herrschaften kennt, der weiß auch, daß eine Untergebene des Ministers keinen directen Einfluß haben kann,“ schnitt er die offenbar ausweichende Antwort kurz ab.

Die Gouvernante fuhr auf ihrem Lauscherposten zurück wie von einer Natter gebissen.

„Jutta, ich persönlich habe Dir nicht ein Wort mehr zu sagen – ich habe keinen Theil mehr an Dir – das ist vorbei!“ fuhr er in erhobenem Ton fort. „Aber im Namen Deiner Mutter muß ich sprechen! … Gehe, wohin Du willst – Deine altadelige Abkunft wird Dir an allen Höfen Zutritt verschaffen – nur bleibe nicht hier! Du darfst nicht Gunstbezeigungen aus den Händen Derer nehmen, denen Deine unglückliche Mutter geflucht hat! … Jutta, er, der Minister –“

„Ah, jetzt kommt die Revanche!“ unterbrach ihn das junge Mädchen wildauflachend – sie floh aus der Fensternische in das Zimmer zurück. „Schmähe ihn, so viel Du willst!“ rief sie wie rasend vor Leidenschaft. „Nenne ihn einen Mörder, einen Teufel! … Und wenn es die ganze Welt schreit und beschwört – ich glaube nichts, nichts – ich höre nicht!“

Ihre kleinen Hände fuhren unter die Locken und legten sich auf die Ohren.

Die bleichgewordenen Lippen des jungen Mannes preßten sich bei diesem Anblick auf einander, als wollten sie verstummen für immer und ewig. Langsam streifte er seinen Verlobungsring ab und reichte ihn der jungen Dame hin – sie griff hastig nach dem ihren, und jetzt – zum ersten Mal während der ganzen stürmischen Scene – wurde ihr Gesicht dunkelroth in Scham und Verlegenheit … also deshalb hatte ihre zarte Rechte unverdrossen das schwere Bouquet gehalten – die unschuldigen Blumen mußten den beraubten Goldfinger bedecken – dort in der Perlmutterschale, auf die der unsichere Blick der treulosen Braut fiel, lag der Ring – sie hatte ihn ja bereits abgelegt. …

Der Hüttenmeister stieß ein markerschütterndes Lachen aus und taumelte durch die Thür, die der Student in demselben Augenblick öffnete, und aus dem Salon eilte Frau von Herbeck herüber und legte zärtlich ihre Arme um „die Standhafte“.

„Er hat es nicht anders gewollt, der Thor!“ murmelte die junge Dame trotzig, indem sie sich ziemlich unsanft der Umarmung entzog. Sie athmete einen Augenblick eine erfrischende Essenz ein, dann warf sie sich eine Handvoll Reispuder in’s Gesicht – als Präservativ gegen das hautverderbende Echauffement.


9.

Die beiden Brüder flohen förmlich nach dem Ausgang des Schlosses. War es doch, als sei selbst die schmeichelnde, parfümirte Lust der langen Gänge mit Verrath und Lüge erfüllt.

Unten in der offenen Thür des Musiksalons stand der Schloßverwalter und rief nach Leuten – der Flügel sollte anders gestellt werden. Man konnte den ganzen brillanten Raum übersehen. Die purpurseidenen Vorhänge waren dicht zugezogen, am den Wänden brannten bereits die Armleuchter, ein helles Feuer loderte im Marmorkamin, und die Diener arrangirten einen Kaffeetisch – lauter Anstalten, den Musiksalon Seiner Excellenz gemüthlich und anheimelnd zu machen. … Das Notturno von Chopin wurde jedenfalls heute noch gespielt, und während man die silbernen Kuchenkörbe leerte und Kaffee aus Meißner Porcellan trank, moquirte man sich über den Verabschiedeten, der sich unterfangen hatte, unmöglich gewordene Ansprüche an die künftige Hofdame Ihrer Durchlaucht der Fürstin von A. geltend zu machen.

In einem dem Kamin nahegerückten Lehnstuhl lag die kleine Gisela. Die schmalen Füßchen lässig gekreuzt, schmiegte sie den kleinen, unscheinbaren Kopf an die farbenreiche Stickerei der Lehne. Als sie die beiden jungen Leute durch das Vestibüle eilen sah, hob sie den Kopf und sprang auf den Boden. Sie war offenbar einen Moment ohne alle Aufsicht, denn in dem Augenblick, wo der Hüttenmeister hinaus auf den Kiesplatz trat, stand sie neben ihm und berührte seine Hand. Sie griff in die Tasche und holte, eine Handvoll nagelneuer Kupferdreier heraus.

„O, nehmen Sie!“ flüsterte sie athemlos. „Ich habe sie gesammelt, weil sie hübsch sind – es ist sehr viel Geld, nicht wahr?“

Der Hüttenmeister blieb zwar mechanisch stehen, allein ein völlig verständnißloser Blick fiel auf das Kind – es sah aus, als habe plötzlich ein verheerender Hauch dieses blühendfrische Körper- und Seelenleben angeweht.

„Rühre ihn nicht an!“ drohte der Student in ausbrechendem Schmerz und stieß die Kleine weg. Er lachte bitter auf, als die Geldstücke aus der Hand des erschrockenen Kindes klirrend über den Kies hinrollten. „Weißt Du kleine Natter auch schon,“ rief er, „wie die Hochgeborenen die Seelenwunden Anderer, behandeln? … Mit Geld, mit Geld! … Was an Dir ist denn hochgeboren, Du gebrechliches, häßliches kleines Menschenkind?“

Seine jugendlich kräftige Stimme hallte alarmirend in dem Vestibüle wider, an dessen Wände sonst fast nur das Geräusch leiser Sohlen und das gedämpfte Geflüster der Lakaien schlugen. Die Diener und der Schloßverwalter fuhren mit langen Hälsen aus der Thür des Musikzimmers, und im Hintergrund des Vestibules erschien Lena. Sie schlug die Hände zusammen, als sie die kleine Gräfin mit allen Zeichen des Schreckens, ohne Umhüllung und mit entblößtem Kopf draußen im Freien stehen sah; dazu hörte sie die beißende Frage des Studenten – bestürzt lief sie hinaus und zog das gräfliche Kind aus dem Bereich des „frechen Menschen“.

In demselben Augenblick raffte eine weiße Hand die zugezogene Gardine eines Fensters im Erdgeschoß zurück, und das bleiche Gesicht des Ministers erschien hinter den Scheiben. Bei diesem Anblick wurden die fieberischen Flecken aus den eingefallenen Wangen des Studenten zur dunklen Gluth. … Er trat dicht an das Fenster heran – der Minister fuhr in sichtlicher Bewegung zurück, allein die langen Lider legten sich sofort wieder über die Augen – der junge Mann hatte keine Waffe in der hochgehobenen Rechten.

„Ja, ja, sieh nur heraus und freue Dich!“ rief der Student mit weithin schallender Stimme. „Die Elende da droben hat ihre Sache gut gemacht – der Plebejer geht! … Fahre nur so fort, [132] Excellenz! Ignorire die Hungersnoth im Lande und jage den Geist aus den Schulen – da hast Du gut regieren! … Was freilich kümmern Dich deutscher Geist und deutsches Elend, Du fremder Eindringling –“

Der Kopf des Ministers verschwand, und die Vorhänge fielen wieder dicht zusammen – durch das Vestibule aber scholl eine heftig angezogene Glocke.

Ob die unmittelbar darauf hervorstürzenden Diener Befehl hatten, „den Schreier“ wegzubringen, blieb unentschieden. Der Hüttenmeister hatte bereits seine Arme um die Schultern des Bruders geschlagen und zog ihn fort.… Die hohe, athletische Gestalt des jungen Mannes aber, der noch einmal den Kopf mit der todesstarren Ruhe in den Zügen nach dem Schlosse zurückwandte, war wohl geeignet, Bedientenseelen Respect einzuflößen – die Leute blieben zögernd stehen, während die Brüder den Schloßgarten durchschritten.

Ein leises Abenddämmern webte bereits über der Gegend. Der Sonnenschein, der heute unermüdlich und energisch an die braunharzige Knospenhülle der Bäume, an das Schlafkämmerlein des Samenkorns und an die winterverschlafene Menschenseele geklopft hatte, war verblaßt; nur auf dem Scheitel der Berge, hinter denen er versunken, loderte noch ein orangefarbenes Licht.… Es war plötzlich sehr kühl geworden; über den Treibhausfenstern lagen längst die schützenden Strohmatten und die Schlöte in Neuenfeld dampften weidlich.

Wußte der Hüttenmeister nicht, daß er die entgegengesetzte Richtung einschlug, als er aus dem Gitterthor des weißen Schlosses trat? Dort drüben lag das Hüttenhaus mit seiner gemüthlichen Stube. Sievert schob sicher in diesem Augenblick ein Scheit Holz um das andere in den riesigen Ofen, warf einige kräftig duftende Wachholderbeeren auf die heiße Platte, deckte den Tisch so sorgfältig, wie nur je bei seiner hochadeligen Herrschaft, und zog die Vorhänge zu.… Dort lag das schützende Asyl, das Heim – und dahinaus ging’s in die pfadlose Wildniß.…

Der Student ergriff besorgt die Rechte seines Bruders – ein Blick fiel auf ihn, und seine Hand wurde mit pressendem Drucke festgehalten – jetzt wußte er, daß die Seelenqual den schweigsamen Mann vorwärts trieb. Er schritt wortlos neben ihm her, und weiter ging es über schwimmende Wiesen, deren versumpfter Boden unter jedem Schritt einsank, durch Erlengebüsch, das nebelathmend die Niederung bedeckte, und da, wo der Berg in fast unwegsamer Steilheit seine mit Tannen bestandene Flanke vorstreckte, stiegen die schweigenden Wanderer aufwärts.… Was hilft es dem zu Tode getroffenen Hirsch, daß er sich in die Einöde rettet? Er trägt das mörderische Blei in sich – es läuft mit ihm über Berg und Thal.… Und der Mann, der in athemloser Flucht bergaufwärts klimmte, schleppte die Last seines Elends mit hinauf – er entrann ihm nicht – nichts, gar nichts behielt das dumpfe Thal drunten. In der todesstillen Einsamkeit schrie das Weh, das er hinter den schweigenden Lippen verbiß, lauter auf – wie der Schrei des wilden Vogels verzehnfacht wiederhallt in den schauerlichen Schluchten und Klüften.

Dunkle Wasser flossen über den mit dicken Nadelschichten bedeckten Boden und machten den steilen Weg schlüpfrig und gefahrvoll. Es dämmerte stark unter den Tannen, die ihre noch schneefeuchten Zweige in fast schwarzer Zeichnung vom Himmel abhoben – nur hie und da, wo das Dickicht schützend seine Arme verschränkte, leuchtete noch ein kleiner verschonter Schneestreifen und nahm spukhafte Form und Gestalt an.

Ueber dem Berggipfel hing der Himmel, ein stahlblauer Schild, auf den die Verheißung geschrieben hat: „Ruhe und Frieden“.… Für das Menschenherz jedoch, das sich auf die Höhe geflüchtet, war der Himmel eingestürzt in dem Augenblick, wo es verrathen wurde.…

Der Hüttenmeister trat weit vor auf der Plattform des Berges, während der Student sich erschöpft an einen Baum lehnte. Drunten im Grund verwischte das hereinbrechende Dunkel bereits alle Linien; nur den schäumenden Fluß betupften noch einzelne schwache Reflexe – sein Rauschen und Tosen scholl dumpf herauf.… Im Dorfe tauchten die Lichter auf; über der Esse des Hüttenwerks aber schwebte die Gluth und leckte mit feurigen Zungen über den Himmel hin. Und dort lag das vornehme, stolze Quadrat, das weiße Schloß, mit seinen lichtstrahlenden Fensterreihen.… Seine Excellenz rollte wohl bereits der Residenz und dem Hofball zu – Triumph auf dem bleichen Gesicht und unter den schläfrigen Lidern – und im Seezimmer, auf dem schwellenden Ruhebett der Gräfin Völdern, lag vielleicht in diesem Augenblick das Kind der Blinden im schimmernden Seidenkleid, dem Handgeld fürstlicher Huld und Gnade, und träumte – von dem nächsten Hofball, wo mit der strahlend schönen neuen Hofdame ein blendender Stern aufging.… Die lange Ahnengalerie im verlassenen Waldhause – dieser durch den Pinsel festgehaltene vollkommene Typus des Adelstolzes lebte noch einmal auf in dem jüngsten Sproß – der alte Name wurde wieder an den Höfen genannt. In diesem jüngsten Sproß steckte Race, der strenge Geist der Vorfahren.… Das uralte Trauerspiel, zu welchem diese Reihe hochadeliger Jäger genug Acteure geliefert, wurde wieder einmal aufgeführt: der aristokratische Hochmuth verrieth die Liebe.

Der verrathene, plötzlich aus der Bahn ruhigen Denkens geschleuderte Mann wäre vielleicht die ganze Nacht, nach einem inneren Gleichgewicht ringend, über Berg und Thal gewandert, hätte nicht endlich der zu Tode erschöpfte Student seinen Arm erfaßt und ihn bittend dem Rückweg zugewendet. Bis dahin war kein Wort zwischen den zwei Umherirrenden gefallen – sie waren den Berg jenseits hinabgestiegen und hatten ein schmales Thal durchschritten, um abermals an einer Felsenwand emporzuklettern. Jetzt standen sie in einer tiefen Kluft, durch welche der hochangeschwollene Fluß donnernd stürzte.

[145] Der Mond war aufgegangen; die volle Scheibe schwebte über der Schlucht; ihr weißes Licht troff auf die schwarzen Tannen und Kiefern, welche die fast senkrechten, gleichsam auseinandergerissenen Bergwände umstarrte, und tanzte auf den trüben, schäumenden Wassern. Das Flußbett war bis an den Rand gefüllt; schon sprühte hie und da der Gischt über die Wiesen hin – noch wenige erhöhte Pulsschläge droben in den Bergen, und die Fluthen überströmten das Thalgelände.

Weiter unten, in der Nähe eines tiefliegenden Weilers, kamen Leute. Die Männer und Frauen trugen Bettstücken und verschiedenes Geräth auf den Köpfen, und die Kinder trieben ein Paar Ziegen vor sich her.

„’S wird schlimm diese Nacht – das Wasser kommt!“ sagte einer der Männer zu dem Hüttenmeister. Die Leute flüchteten in einige höher gelegene Häuser.

Dieser Zuruf rüttelte den Hüttenmeister plötzlich aus seinem Hinbrüten auf. Er schritt rascher den Fluß entlang – seine sämmtlichen in Neuenfeld wohnenden Arbeiter waren in Gefahr.

Und nun sah er auch, was die tückischen Wasser bereits auf ihrem Rücken trugen - eine Thür schwamm heran, und unter das vorüberjagende Scheitholz mischten sich Häuserbalken und losgerissene Bretter. … Das schwoll und gurgelte und hätte noch lange nicht genug an der Noth und dem Jammer, die es bereits mit sich schleppte.

Und darüber schwebte das Mondlicht, so süß und golden, so erbarmungslos weiterlächelnd, wie die zwei dunklen Mädchenaugen drüben im weißen Schlosse, nachdem sie in den Abgrund geblickt, der sich über einem zertretenen Menschenherzen schloß.

Auf dem Neuenfelder Kirchthurm schlug es neun. Die zwei Wandernden waren über vier Stunden umhergeirrt und näherten sich der Jochbrücke – der Student war ermattet zum Umsinken. … Da tauchte plötzlich am jenseitigen Ufer Sievert auf. Er hob die Arme wie abwehrend und rief mit lauter Stimme hinüber, aber das Toben und Brausen des nahen Wehres verschlang die Laute. Während der Hüttenmeister stehen blieb und aufmerksam dem erneuten Zuruf lauschte, betrat der Student ungeduldig die Brücke und schritt vorwärts.

Ein Aufschreien des alten Soldaten gellte herüber – er geberdete sich wie ein Unsinniger und schlug die Arme um das Brückengeländer – in demselben Augenblick erscholl ein dumpfes Krachen – ein langer Balken fuhr gegen die Brückenpfähle, sie sanken sofort – mit Gedankenschnelle wuschen und wühlten die Wasser das morsche Gerüst auseinander, und unter dem grausen Gemisch treibender Balken und Bretter verschwand die Gestalt des Studenten.

Der Hüttenmeister sprang ihm ohne Weiteres nach. Der durch die Krankheit entnervte junge Mensch war rettungslos verloren gegenüber dem fortreißenden Wasserschwall. … Selbst der riesenstarke Mann rang keuchend mit den Fluthen – zweimal streckte er vergeblich die Hand nach dem Verunglückten aus – immer näher und unwiderstehlicher wurden Beide nach dem Wehre hingetrieben. Endlich gelang es dem Hüttenmeister, den treibenden Körper zu erfassen; aber nun kam das Furchtbare – der Student war nicht des Bewußtseins, wohl aber für einen Moment aller Vernunft beraubt – er erkannte seinen Retter nicht, er schlug nach ihm und wehrte sich gegen die rettende Hand verzweifelter, als gegen die tückischen Fluthen. … Trotz dieses entsetzlichen Kampfes kam der Hüttenmeister dem jenseitigen Ufer näher und näher – mit dem letzten Kraftaufwand schwang er den Studenten uferwärts, Sievert ergriff dessen Arme und zog ihn auf das Trockene.

Hier gerade war das Flußbett sehr tief; das Ufer überragte noch um drei Fuß Höhe die Wasserfläche. … Die letzte gewaltige Bewegung, mittels welcher der Hüttenmeister seinen Bruder an das Land geschleudert hatte, trieb ihn selbst sofort in die Mitte des Flusses zurück. … Noch einmal begann der Kampf, und zwar um das eigene Leben – aber – war ihm dieser Preis nicht mehr begehrenswerth genug, oder hatten ihn die Kräfte in der That verlassen, der junge Mann verschwand plötzlich. Sievert rannte am Ufer hin und rief in verzweiflungsvollen Tönen den Namen des Versinkenden – da erhob sich noch einmal das todtenbleiche Gesicht hoch aus den Wassern – der alte Soldat schwur sein Lebenlang, er habe in diesem Augenblick den Hüttenmeister noch lächeln sehen – noch einmal streckten sich die Arme wie zum Gruß empor – „leb’ wohl, Berthold!“ scholl es herüber. … Gleich darauf trieben Bretter über dieselbe Stelle, wo so viel Jugend und Schönheit und ein braves deutsches Herz versunken waren. … Der alte Soldat starrte mit gesträubtem Haar hinüber – dicht am Wehr tauchte noch einmal der dunkle Arm auf – dann stürzte der Schwall donnernd hinab in die Tiefe. …



[146] Auf dem Neuenfelder Kirchhof, neben dem Grab der blinden Frau, wurde der Hüttenmeister in die Erde gebettet; man hatte den Körper des Verunglückten eine halbe Stunde von Neuenfeld entfernt im Weidengebüsch hängend gefunden. … Das Gerücht ging, auch der Student sei ertrunken, denn er war spurlos verschwunden seit der unglückseligen Nacht – „zu seinem Glücke“, sagten die Leute im weißen Schlosse. Sie erzählten in tiefster Indignation, welch’ schreckliche Dinge der verabscheuungswürdige „Demagoge“ Seiner Excellenz in’s Gesicht gesagt – und daß dieses schauderhafte Verbrechen eine eclatante Sühne verlangt hätte, war selbstverständlich. …

Ein Jahr nach diesen Ereignissen, genau zu der Zeit, wo auf dem Grab des Hüttenmeisters die Primeln und Schneeglöckchen ihre schuldlosen Augen aufschlossen, stand ein Brautpaar am Altar der Schloßcapelle zu A. … Auf den Emporen drängten sich die Damen des Adels und der höchsten Beamtenkreise, und sämmtliche Glieder des Fürstenhauses waren anwesend.

Schuldloses Weiß umfloß die Glieder der Braut – weiß war der prachtvolle Spitzenduft über der glitzernden Atlasschleppe und weiß der Orangenblüthenkranz in den dunklen Locken, und das Antlitz leuchtete wie der kalte, unberührte Marmor durch das Helldunkel der Kirche – in den Augen aber loderte Triumph Haltung und Gesichtsausdruck entbehrten völlig den veilchensüßen Hauch bräutlicher Scheu und Demuth; kein „Engel“, wohl aber das schönste Weib stand dort, das die Hand begehrlich nach Glanz und hoher Lebensstellung ausstreckte.

Der mit Orden bedeckte Bräutigam war Baron Fleury, fürstlich A’scher Minister, und neben ihm stand die fürstliche Hofdame Jutta von Zweiflingen, „Tochter des Freiherrn Hans von Zweiflingen und Her Adelgunde, geborenen Freiin von Olden“.

„Tadelloses Vollblut, Durchlaucht!“ flüsterte die Oberhofmeisterin der Fürstin mit dem Lächeln tiefster Befriedigung zu und verneigte sich glückwünschend bis zur Erde.


10.

Seit dem Tod des Hüttenmeisters waren elf Jahre verflossen. … Wäre – wie ein frommer Wahn annimmt – der abgeschiedene, unsterbliche Menschengeist wirklich verurtheilt, in ewig beschaulicher Unthätigkeit auf die alte irdische Heimath herabzusehen, dann hätte der Verstorbene, dessen Herz so warm und treu für seine bedürftigen Landsleute geschlagen, die tiefste Genugthuung empfinden müssen beim Anblick des Neuenfelder Thales.

Das weiße Schloß freilich lag noch so unberührt von Zeit und Wetter auf dem grünen Thalgrunde, als sei es während der langen elf Jahre von einer conservirenden Glasglocke überwölbt gewesen. … Da sprangen die Fontainen unveränderlich bis zu dem wie in den Lüften festgezauberten Gipfelpunkt, und ihr niederfallender Sprühregen ließ die Lichter des Himmels als Gold- und Silberfunken auf der beweglichen Wasserfläche der Bassins noch immer unermüdlich tanzen. Die Bosquets, die Lindenalleen, das grüne Gefieder der Rasenplätze verharrten pflichtschuldigst in den Linien, die ihnen die künstlerische Hand des Gärtners vorgeschrieben. Auf den Balcons leuchtete das unverblichene Federkleid der Papageien – sie schrieen und plapperten die alten, eingelernten Phrasen – und im Schlosse flüsterten und huschten die Menschengestalten mit gebogenem Rücken und scheu devotem Fußtritt genau wie vor elf Jahren. Und sie waren wie hineingegossen in ihre Kniehosen und Strümpfe, und auf den blankgeputzten Rockknöpfen prangte das adelige Wappen, das den freigeborenen Menschen zum „Gut“ stempelte.

Um all’ diese wohlconservirten Herrlichkeiten aber legte sich das ungeheure Viereck der Schloßgartenmauer, leuchtend weiß, sonder Tadel – es war ein streng behütetes Fleckchen Erde, konservativ, unverrückbar stillstehend in den einmal gegebenen Formen, wie die Adelsprincipien selbst.

Mit diesem wohlverbrieften Stillstand contrastirte grell das neue Leben jenseits der Mauer. In tiefen, mächtigen Athemzügen erbrauste es und schwenkte seine grauen Fahnen weithin, selbst bis über das weiße Schloß, wo ihre Enden lustig in der vornehmen Luft zerflatterten – die Industrie in gewaltigem Aufschwunge war zwischen den stillen Bergen eingezogen.

Vor sechs Jahren hatte der Staat das Hüttenwerk veräußert – es ging in Privathände über und nahm sofort Dimensionen an, die sich bis dahin Niemand hatte träumen lassen. Mit fabelhafter Geschwindigkeit breitete sich ein kolossales Etablissement auf der Neuenfelder Thalsohle aus. Da, wo ehemals die Esse des Hochofens einsam in die Lüfte ragte, dampften jetzt vierzehn Fabrikschlote; mit der Eisenindustrie war eine Bronzegießerei verbunden worden. In früheren Zeiten lieferte das Werk nur sehr primitive Eisenfabrikate, jetzt aber gingen die herrlichsten Kunstgußartikel in die Welt.

Der riesige Gebäudecomplex, in welchem es rastlos hämmerte und pochte und wo geformt und gegossen, geschmiedet und gefeilt, bronzirt und geschwärzt wurde, füllte nahezu den Raum zwischen dem ehemaligen Hüttenwerk und Dorf Neuenfeld aus; das Dorf selbst aber war nicht wieder zu erkennen. … Der gewaltige Betrieb beanspruchte viele Hände; das alte Arbeitspersonal war verschwindend klein, – da kamen die Bedürftigen und Unbeschäftigten der Nachbarorte, und wie durch einen Zauberschlag verschwand das Gepräge der Noth und des Elends, das der reizenden Gebirgsgegend bis dahin einen unheimlichen Zug verliehen hatte. … Man hätte fast annehmen mögen, der neue Besitzer habe bei seiner Schöpfung einzig und allein diesen Zweck im Auge gehabt, denn es wurden sehr hohe Löhne gezahlt, und die Sorgfalt für das Wohl der Arbeiter zeigte sich unermüdlich thätig; allein der Unternehmer war ein wildfremder Mann, ein Südamerikaner, der, wie man erzählte, nie einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatte. Er war und blieb unsichtbar, wie eine Gottheit hinter den Wolken, und wurde durch einen Generalbevollmächtigten, ebenfalls einen Amerikaner, vertreten. … Somit zerfiel der Glaube an eine außergewöhnlich humane Bestrebung, und das Ganze galt „für eine überseeische Speculation, der man noch viel Unkenntniß der deutschen Verhältnisse ansehe“.

Man schrieb es jedenfalls auch auf Rechnung dieser „Unkenntniß“, daß die Neuenfelder Lehmhütten mit ihren papierverklebten Fenstern und geflickten Schindeldächern verschwunden waren – „sie hatten ja bis dahin vollkommen ausgereicht für die Bedürfnisse dieser Leute, es war kein Einziger darin erfroren.„ … An ihrer Stelle erhoben sich jetzt schmucke, zweistöckige Häuser mit rothem Ziegeldach und hellgetünchten Wänden, und an diesen Wänden rankten sich wohlgepflegt Kletterrosen und die wilde Rebe empor und flochten Guirlanden um die Fenster. Der Gartenfleck aber, der ein Haus von dem anderen trennte und der sich auch noch schmal vor der Straßenfronte hinstreckte, zeigte am deutlichsten, daß Geschmack und Sinn für das Zierliche keineswegs das Monopol der gebildeten Welt sind – unter dem Druck der Noth und Armuth schlafen sie nur. … Das ehemals so öde Stück Gartenland durchliefen jetzt saubere, mit weißblühenden Federnelken oder Buchsbaum eingefaßte Kieswege, und Obstbäume und Gemüsebeete zeugten von sorgfältig pflegenden Händen. Einst hatte nur die plumpe Scheibe der Sonnenrose über den verwilderten Zaun genickt, nun aber waren die Rabatten bestreut mit veredelten Blumen, und die Stachelbeerumzäunung hatte einem zierlichen, hellangestrichenen Staket weichen müssen. Und die knorrigen Linden, die als traute Cameraden der alten Schindeldächer so viel Noth und Kummer miterlebt hatten, klopften lustig an die neuen, blinkenden Fensterscheiben und beschatteten ein behagliches Kiesplätzchen und eine Gruppe weißer Gartenmöbel zu ihren Füßen.

Der unsichtbare Mann in Südamerika mußte ein wahrer Crösus und, wie die harmlosen Neuenfelder Leute sich ausdrückten, „viel, viel reicher als ihr Landesherr“ sein, denn er hatte nicht allein ihnen, sondern auch seinen Arbeitern in den Nachbarorten, die neuen Wohnungen gebaut. Das vorgestreckte Capital wurde ihnen in verhältnismäßig sehr geringen Summen vom Wochenlohn abgezogen, so daß sie in den Besitz gesunder und stattlicher Wohnhäuser kamen, fast ohne zu wissen wie. Der Unsichtbare hatte auch eine Volksbibliothek, eine Pensionscasse und noch andere segensreiche Anstalten gegründet, und so zogen die Intelligenz und der Fortschritt wie auf Sturmesflügeln in Regionen, die, tief zu Füßen des weißen Schlosses liegend, doch „von Rechtswegen und bis an das Ende aller Tage“ in den wohlverbrieften Stillstand mitgehörten. …

Außer dem Hüttenwerk hatte der Fremde auch das ganze ehemalige Zweiflingen’sche Waldgebiet käuflich an sich gebracht. Baron Fleury hatte eine so fabelhafte Summe für den Besitz erhalten, daß er ein Thor gewesen wäre, das Angebot von sich zu [147] weisen. Diesmal blieben Wald und Waldhaus beisammen. Eines Tages wurden die Zweiflingen’schen Ahnen und die Hirschköpfe sorgfältig verpackt, aufgeladen und nach A. gefahren, wo ihnen im stolzen Ministerpalais ein besonderer Saal eingeräumt worden war. … Dann kamen Handwerker und renovirten, das alte, baufällige Waldhaus – zu welchem Zwecke, das wußte Niemand. Die neuen Schlösser und Fensterladen wurden nach Vollendung der Arbeiten verschlossen und verriegelt, und nur dann und wann ließ der Generalbevollmächtigte lüften.

Der Minister kam selten nach Arnsberg, aber wenn es einmal geschah, dann – so erzählte man sich – zog er verstohlen die Vorhänge der Fenster zu, die nach Neuenfeld sahen. … Er hatte bei Verkauf des Eisenwerks, das, zuletzt sehr lau betrieben, dem Staat nahezu eine Last geworden war, nicht geahnt, daß es in „solch ungeschickte“ Hände fallen werde. … Diese sogenannte Mustercolonie da drüben war ein vollständiger Hohn auf sein Regierungssystem – unter seinen Augen entwickelte sich der verderbliche Geist der Neuerung, den er am liebsten mit Feuer und Schwert vertilgt hätte. …

Seine Excellenz hielt die Zügel noch genau so stramm, wie vor elf Jahren; in neuerer Zeit jedoch hatte er sein Regierungsprogramm um Eines erweitert: er unterstützte nachdrücklich religiöse Bestrebungen, und es begab sich nun allsonntäglich, daß von den Kanzeln der Segen des Himmels auf seine weisen Maßregeln und sein „Gott wohlgefälliges Regiment“ herabgefleht wurde. … Und die Staatsmaschine war so gut eingeölt und ging so vortrefflich, daß der Fürst des Abends sein Haupt auf das Kopfkissen legte, ohne je von dem Gespenst der Regierungssorgen belästigt zu werden, während sein Minister alljährlich einige Monate zu seiner Erholung auswärts leben konnte. Baron Fleury brachte diese Zeit meist in Paris zu. Als letzter Sproß einer im Jahr 1794 emigrirten französischen Adelsfamilie hatte er selbstverständlich noch viel Anhänglichkeit an die alte Heimath – aber es lagen auch noch andere Gründe vor, wie er sich stets sehr aufrichtig ausließ. … Liegende Gründe besaß er freilich nicht mehr in Frankreich – sie waren nach der Flucht seiner Familie confiscirt worden, und trotz der heftigsten Reklamationen seines Vaters, welcher, infolge der vom ersten Consul Bonaparte ertheilten Amnestie, auf kurze Zeit nach Frankreich zurückkehrte, unwiederbringlich verloren. Dagegen fand der Geflüchtete nach so langer Zeit wunderbarerweise sein gesammtes Baarvermögen wieder. Die Fleury hatten ganz plötzlich, mitten in der Nacht, vor heranziehenden Sansculotten und den eigenen aufrührerischen Gutsangehörigen flüchtend, ihr altes Stammschloß verlassen müssen. Das allmählich und vorsichtig eingezogene Baarvermögen befand sich wohlverpackt in einem Schlupfwinkel des Kellers, mußte jedoch Zurückbleiben. Die wilden Haufen zerstörten das Schloß, entdeckten jedoch den Schatz nicht, den später ein alter, treuer Diener, der ehemalige Gärtner, unbemerkt in seine Wohnung zu retten wußte. Und als dann der zurückgekehrte Fleury zähneknirschend am Gitterthor seines ehemaligen Parkes stand und nach dem neuerbauten Schloß hinübersah, das ihm nicht mehr gehörte, da kam ein alter, halb kindisch gewordener Mann, küßte schluchzend seine Hand und führte ihn in den Keller seines ärmlichen Häuschens vor eine Reihe kleiner Geldfässer, an deren Inhalt auch nicht ein Sou fehlte. … Diese Gelder hatte sein Vater wohlangelegt in Frankreich, wie der Minister oft beiläufig erwähnte, und sie waren es, die sein häufigen Reisen nach Paris nöthig machten.

Was für ein kolossales Vermögen mußte das sein! Der Minister machte einen wahrhaft fürstlichen Aufwand, vorzüglich seit seiner zweiten Vermählung. Seine Einkünfte in Deutschland, so bedeutend sie auch sein mochten, waren dem Verbrauch gegenüber doch nur „ein Tropfen auf einen heißen Stein“, wie der Volksmund sagte. Natürlicherweise gab dieser ferne goldene Hintergrund Seiner Excellenz einen ganz besonderen Nimbus, und es schien fast, als bekleide er seinen hohen Posten fort und fort lediglich aus Hingebung für seinen Durchlauchtigsten Freund, den Fürsten.

Das weiße Schloß sah also, wie gesagt, seinen Besitzer selten; deshalb stand es aber doch nicht ganz verwaist. Die junge Gräfin Sturm bewohnte ihr nahegelegenes Gut Greinsfeld und kam oft, in ihrer Vorliebe für Arnsberg beharrend, auf Monate herüber. Freilich schien dann jedesmal das Schloß zwiefach umgürtet in vornehmer Unnahbarkeit; denn die junge Dame war streng in Standesvorurtheilen erzogen und zudem von Kindheit an so leidend, daß sie in förmlich klösterlicher Zurückgezogenheit ihr junges Leben verbringen mußte. In ihrem sechsten Jahre war sie infolge eines heftigen Schreckens von einem Nervenübel befallen worden. Diese Krankheit nahm insofern einen bedenklichen Charakter an, als sie bei jeder Gemüthsbewegung wiederkehrte, und da die Aerzte schon vorher einstimmig erklärt hatten, daß die Constitution des Kindes unhaltbar sei, so gehörte die kleine Reichsgräfin Sturm in den Augen der Welt bereits zu den Todten, und der Minister wurde stillschweigend beglückwünscht, denn er war der Universalerbe des Kindes.

Aerztlicher Verordnung zufolge wurde die Kleine in die Greinsfelder Gebirgsluft gebracht. Man umgab sie mit allem Glanz und Comfort, die ihre hohe Lebensstellung erheischte, aber auch mit der tiefsten Einsamkeit, welche nur Frau von Herbeck, ein Arzt und eine Zeit lang ein Religionslehrer theilten. Für die Bewohner von A. erlosch das junge, dem sicheren Tod verfallene Dasein bereits mit dieser Uebersiedelung, und die Dorfleute in Arnsberg und Greinsfeld sahen das bleiche Gesichtchen auch nur flüchtig hinter den Glasscheiben des vorüberrollenden Wagens, oder wenn es ihnen gelang, einmal scheu durch den streng abgeschiedenen Schloßgarten zu huschen. Nicht einmal in der Kirche hatten sie den Genuß, ihre kranke Herrin mit Muße betrachten zu können, denn sie wurde, als von katholischen Eltern, auch im katholischen Glauben erzogen und betrat das protestantische Gotteshaus niemals.

So verging ein Jahr um das andere, deren jedes nach menschlichem Dafürhalten eine Gnadenfrist war für die hinwelkende Menschenknospe. … Die Herren Mediciner hatten wichtig den Finger an die Nase gelegt und eine Prognose gestellt, an der kein Gott rütteln konnte – und aus dem prophezeiten Tod und Moder stieg fast urplötzlich eine Lilie empor und sah lächelnd dem Leben in’s sonnige Antlitz. – – – –

Da, wo das ehemalige Zweiflingen’sche und das Arnsberger Waldgebiet zusammenstießen, lag ein hübscher, kleiner See. Er gehörte noch in das Weichbild des weißen Schlosses, aber die Buchen, die seinen westlichen Saum bestanden, waren bereits Vorposten des Nachbarreviers.

Die heiße Julisonne brannte senkrecht über dem Gewässer; glatt, wie eine goldene Tafel lag sein Mittelpunkt da – nur bisweilen zitterten leise Schwingungen vom Ufer her und gruben krause, wunderliche Charaktere – vielleicht ein Gedicht des Waldes – in die Fläche. Der Wasserring aber, über welchem das Ufergebüsch und die verschränkten Eichen- und Buchenäste hingen, war dunkel und geheimnißvoll wie der Wald selbst. … Und auf dieser gründämmernden Bahn zog leise ein Kahn hin. Das Ruder reichte hinaus in die sonnendurchleuchtete Fluth und hinterließ, leicht einsinkend, eine schmale, blitzende Furche; manchmal verschwand es – dann drehte sich der Kahn und fuhr auf das Land auf.

Ein Mädchen saß am Ruder, und auf der schmalen Bank ihr gegenüber hockten drei Kinder, zwei Knaben und ein allerliebstes, kleines, blondköpfiges Mädchen. Die Kinder sangen aus voller Brust, mit glockenhellen Stimmen:

„Ich hab’ mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land mit Lieb’ und Leben,
Mein deutsches Vaterland!“

Der Kahn saß fest und schwankte nicht mehr, und da ließ es sich noch einmal so schön singen über den See hinüber und zwischen die ernsthaften Waldbäume hinein.

Das Mädchen am Ruder hörte schweigend zu. Hinter ihr durchschnitt ein sanft emporsteigender, moosbewachsener Weg das Dickicht, und der Wald that sich tief auf in seiner grünen Finsterniß. Auf die Kindergruppe fiel noch ein Hauch des goldenen Tages draußen – das blonde Haar des kleinen Mädchens flimmerte, und die Knaben, die nach dem See hinaussangen, hielten die Hand schützend über die Augen. Die junge Schifferin aber saß tief im grünen Dämmerlicht, nur über ihre Kniee hin legte sich ein blasser, durch das Blätterdach zuckender Goldstreifen wie ein reichgewirkter Tunica-Saum, und die perlmutterweiße Stirn umkreiste traumhaft ein blauschimmerndes Stäbchen – eine verirrte Libelle.

Die Kinder schwiegen und horchten mit angehaltenem Athem [148] auf ein Echo, das aber so unfreundlich, oder vielleicht auch so politisch war, auf das „deutsche Vaterland“ keine Antwort zu haben.

Dafür erschien drüben am jenseitigen Ufer ein Herr in Begleitung zweier Damen. Er zuckte mißmuthig und rathlos die Schultern, während sein Blick suchend über die glatte, unbewegte Wasserfläche schweifte. Da trat ein mitgekommener Lakai respektvoll vor und deutete auf den Kahn im Gebüsch.

„Gisela!“ rief der Herr hinüber.

Das Mädchen am Ruder schrak zusammen, und das Roth einer tödtlichen Verlegenheit färbte ihr Gesicht. Einen Moment irrten ihre braunen Augen unsicher über die Kinderköpfchen hin, aber auch nur einen Moment – dann lächelte sie.

„Hinauswerfen kann ich euch nun einmal nicht, das steht fest!“ sagte sie. „Also in Gottes Namen vorwärts!“

Mit wenigen energischen Bewegungen machte sie den Kahn flott; er flog hinaus, und jetzt fluthete daß Sonnenlicht voll über das unbedeckte Haupt der Schifferin. Die weiten, offenen Aermel ihres weißen Kleides hoben sich leicht bei der Bewegung des Ruderns - wie ein Schwan kam die graciös vorgeneigte Gestalt dahergeschwommen. Das an Stirn und Schläfen mit einem hellen Seidenband leicht zurückgenommene Haar fiel in offenen Wellen über den Nacken und umwob flimmernd das weiße Gesicht mit einer Glorie.

Ihre großen, braunen Augen hefteten sich dann und wann prüfend auf die Gruppe am Ufer; aber die Röthe der Verlegenheit auf ihren Wangen war verflogen; die Ruderschläge blieben gleichmäßig, keine Spur von Hast verrieth, daß die Schifferin das Ufer rasch zu erreichen wünsche. … Ob das vielleicht da drüben übel vermerkt wurde? … Der Herr runzelte finster die Brauen, und die an seinem Arme hängende schöne Dame ließ plötzlich mit einem unbeschreiblichen Gemisch von Ueberraschung, Ungeduld und Mißfallen die Lorgnette von den Augen sinken.

„Nun, mein Kind, das ist ja eine ganz merkwürdige Situation, in der wir uns Wiedersehen!“ rief der Herr scharf hinüber, als der Kahn näher kam. „Tausend noch einmal, was für edle Passagiere fährst Du! … Ich fürchte nur, sie werden eben so leicht, wie Du selbst, vergessen, wer am Ruder sitzt!“

„Lieber Papa, am Ruder sitzt Gisela, Reichsgräfin Sturm zu Schreckenstain, Freiin von Gronegg, Herrin zu Greinsfeld etc. etc.,“ antwortete das junge Mädchen. … Das klang nicht etwa schelmisch persiflirend – es war die vollkommen ernst gemeinte Zurückweisung des Vorwurfs. In diesem Augenblick war die Sprecherin Zoll für Zoll die Trägerin der hochtönenden, aristokratischen Namen.

Sie wandte den Kahn geschickt, er stieß an’s Land, und mit einem leichten Sprung schwang sie sich auf das Ufer.

Das Kind mit dem unschönen, eckigen Gesicht, mit dem farblosen Haar und dem gelben, kranken Teint, das gebrechliche Geschöpf, das in die Einsamkeit geschickt worden war, lediglich um dort zu sterben – da stand es als hochgewachsene Mädchengestalt, und wer das Bild der Gräfin Völdern, „der schönsten Frau ihrer Zeit“, gesehen, – diese schlanken, geschmeidigen Glieder mit dem schneeweißen Gesicht unter dem voll herabfluthenden Haar – der konnte meinen, sie sei eben nur aus ihrem goldenen Rahmen herausgetreten, um hier im lebendigen Odem der Waldesluft zu wandeln. … Freilich hatten diese keuschen, nachdenklichen Augen nicht das dämonisch Ueberwältigende jener schwarzen, funkelnden, und das Haar, das dort gelb wie der Bernstein leuchtete, floß hier in einem dunklen Blond zum Nacken und lief nur an den Schläfen in einen zarten Silberschein aus, aber im Allgemeinen lebte jenes unselige Weib wieder auf in den jungen Formen, die sich aus einem langen Siechthum plötzlich entwickelten, wie die frische, weiß hervorquellende Blüthe aus der düsteren Knospenhaft.

Die Seele aber hatte diese Wandlung nicht mitgemacht. Das war noch derselbe klarkalte, unerbittliche Blick, an welchem alles Bemühen um Zuneigung scheiterte; und die eigenthümliche Scheu vor jeglicher Berührung trat in diesem Augenblick grell hervor – sie verbeugte sich leicht und ungezwungen, aber ihre Arme hingen an den Seiten nieder, und die schlanken Finger verschwanden in den Falten ihres weißen Muslinkleides – sie hatte keinen Händedruck für die Angekommenen, und doch kam Seine Excellenz direct von Paris, wo er sich drei Monate aufgehalten, und seine schöne Gemahlin hatte den Winter und Frühling mit der leidenden Fürstin in Meran zugebracht und die Stieftochter seit dreiviertel Jahren nicht gesehen.

Hatte die Dame schon gewissermaßen erschreckt die heranschwimmende Gestalt fixirt, so sah sie jetzt für einen Moment völlig fassungslos mit einer Art ungläubigen Entsetzens nach dem jungen Mädchen, das sich plötzlich so hoch und schlank aufrichtete – dieser Ausdruck verschwand indeß blitzschnell wieder. Sie ließ den Arm ihres Gemahls los und streckte der jungen Gräfin die Hände entgegen.

„Guten Tag, herzliebstes Kind!“ rief sie in weichen, warmen Tönen! „Ja, nicht wahr, da kommt nun die Mama an und muß gleich schelten? … Aber es macht mir tödtliche Angst, Dich so springen zu sehen. … Denkst Du denn gar nicht an Deine kranke Brust?“

„Ich bin nicht brustleidend, Mama,“ sagte das junge Mädchen so eiskalt, als es dieser kindlich lieblichen Stimme eben möglich war.

„Aber Herzchen, willst Du denn das besser wissen als unser vortrefflicher Medicinalrath?“ fragte die Dame achselzuckend mit einem halben Lächeln. „Ich möchte Dir ja um Alles Deine Illusion nicht rauben; allein wir dürfen ein solches Mißachten des ärztlichen Ausspruchs nicht dulden – Du übernimmst Dich sonst. … Ich kann Dir sagen, ich bin furchtbar erschrocken, Dich auf dem Wasser zu sehen. … Kind, Du leidest am Veistanz, kannst den Arm nicht zwei Minuten still halten und willst trotzdem mit diesen armen, kranken Händen einen Kahn regieren?“

Die junge Gräfin antwortete nicht. Langsam hob sie ihre, Arme, breitete sie weit aus und blieb bewegungslos stehen, und so zartbleich auch ihr Gesicht war, so geschmeidig und biegsam auch die Gestalt dort stand, sie war in diesem Moment doch das strahlende Bild jugendlicher Kraft und Frische.

„Nun überzeuge Dich, Mama, ob mein Arm zittert!“ sagte sie, den Kopf mit einer Art von glücklichem Stolz zurückwerfend. „Ich bin gesund!“

Gegen diese Behauptung ließ sich augenblicklich nichts einwenden. Die Baronin sah seitwärts, als verursache ihr das Experiment Angst und Herzklopfen, aus den halbzugesunkenen Lidern des Ministers aber glitt ein eigentümlicher, scheuprüfender, Blick über die Arme, die sich, rosig bis in die Fingerspitzen und von marmorglatter Form, aus den zurückfallenden Muslinärmeln hervorstreckten.

„Strenge Dich nicht so übermäßig an, mein Kind!“ sagtet er, indem er die Rechte des Mädchens ergriff und niederbog. „Das ist nicht nöthig. Du wirst mir erlauben, mich vorläufig noch an die Berichte Deines Arztes zu halten, und diese – weichen denn doch noch ein wenig ab von Deiner Anschauungsweise. … Uebrigens habe ich nicht, wie Mama, Angst bei Deiner Wasserfahrt empfunden. Ich will Dir aufrichtig gestehen, daß mich die burschikose Art und Weise, das Haus zu verlassen und im Walde umherzustreifen, an einer Gräfin Sturm sehr befremdet. … Mit Dir mag ich indeß nicht so streng in’s Gericht gehen – ich schreibe dies absonderliche Gelüst auf Rechnung Deines Krankseins. … Sie dagegen, Frau von Herbeck“ – er wandte sich an die Dame, die mitgekommen war – „begreife ich in der That nicht. Die Gräfin kommt mir unsäglich vernachlässigt vor – wo haben Sie die Augen und Ohren gehabt?“

Wer hätte in her unförmlich dicken Erscheinung, die purpurroth vor Alteration dem Minister gegenüber stand, die ehemals so graciöse Gouvernante wiedererkannt!

„Excellenz haben mich bereits auf dem ganzen Wege bis hierher gescholten,“ vertheidigte sie sich tief gekränkt; „jetzt mag die Gräfin der Wahrheit die Ehre geben und mir bestätigen, daß ich über ihr geistiges und körperliches Wohl wie ein Argus wache - aber leider – da genügen tausend Augen nicht! … Wir sitzen vor einer Stunde im Pavillon, die Gräfin hat ein Glas voll Blumen vor sich, um sie zu zeichnen – da steht sie plötzlich auf und geht ohne Hut und Handschuhe hinaus in den Garten; ich bin in dem guten Glauben, sie will noch einige Blumen holen –“

„Nun ja, das wollte ich ja auch, Frau von Herbeck,“ warf das junge Mädchen mit einem ruhigen Lächeln ein; „nur hatte ich Sehnsucht nach Waldblumen –“

[161] „Um Gott, Kind, ich glaube gar, Du hast Anlage zur Sentimentalität – nur das nicht!“ rief der Minister abwehrend – seine Stimme hatte in den weiteren zwölf Jahren seiner diplomatischen Laufbahn bedeutend an schneidender Schärfe gewonnen. „Ich habe Dir lediglich aus dem Grunde die hirnverdrehenden Märchenbücher konsequent weggenommen, und nun muß ich doch erleben – daß Dir die sogenannte Waldpoesie im Kopfe spukt. … Weißt Du nicht, daß sich ein junges Mädchen Deines Standes in den Augen vernünftiger Leute grenzenlos lächerlich macht, wenn es à la Gänsemädchen einsam draußen umherschweift, das Ruder in die Hand nimmt –“

„Um ein paar Taglöhnerkinder über den See zu fahren,“ wagte die tieferbitterte Gouvernante einzuwerfen. „Liebe Gräfin, ich fasse es nicht, wie Sie sich so vergessen konnten!“

Bis dahin hatten Gisela’s Augen widerspruchslos, aber mit dem nachdenklich forschenden Ausdruck, der ihnen so eigen war, an dem Gesicht des Stiefvaters gehangen. Die auffallende Gereiztheit Dessen, der, ein einziges Mal ausgenommen, stets die grenzenloseste Nachsicht gegen sie geübt, befremdete sie offenbar mehr, als sie sich die Rüge zu Herzen zu nehmen schien. Bei Frau von Herbeck’s spitzer Bemerkung jedoch flog ein herber Zug um ihren Mund.

„Frau von Herbeck,“ sagte sie, „ich erinnere Sie an das, was Sie immer ,die Richtschnur Ihres ganzen Lebens’ nennen – an die Bibel. … Waren es nur adelige Kinder, die Christus zu sich kommen ließ?“

Der Kopf des Ministers fuhr herum – er starrte seiner Stieftochter einen Moment sprachlos in’s Gesicht. … Dieses junge Wesen, das man „in Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand“ in Unwissenheit und geistiger Unthätigkeit hatte aufwachsen lassen, das gleichsam mit der Lebenslust nur aristokratische Anschauungen und Vorurtheile eingeathmet hatte, der streng behütete gräfliche Sproß entwickelte auf einmal von innen heraus eine Logik, die in sehr fataler Weise an die berüchtigte Denkfreiheit erinnerte.

„Was sprichst Du da für ungereimtes Zeug, Gisela!“ fuhr er heraus. „Für Dich ist und bleibt es ein Unglück, daß die Großmama so früh sterben mußte. … Es ist ein Element in Dir, das abwärts neigt, und das würde sie, dies Bild aristokratischer Hoheit und Frauenwürde –“ die Baronin räusperte sich und stieß mit der lackirten Spitze ihres Stiefelchens einen Stein hinab in das Wasser – „ja, sie würde diese Neigung bis auf das kleinste Wurzelfäserchen vertilgt haben,“ fuhr der Minister unbeirrt fort. „In ihrem Namen verbiete ich Dir hiermit ernstlich alle derartigen Unschicklichkeiten, wie sie bereits vorgekommen sind.“

Noch umschloß die unschuldige Mädchenseele mit Inbrunst das Bild der Großmutter – an dies Andenken hatte ihr grübelnder und zersetzender Verstand nie gerührt. Sie war sehr stolz auf ihre hohe Abkunft, weil es die Großmama auch gewesen; sie beharrte in mancher feudalen Härte ihren Untergebenen gegenüber, fest überzeugt, daß es so und nicht anders sein müsse, denn „die Frau Reichsgräfin Völkern“ hatte es genau so gehalten und konsequent von ihrer Enkelin verlangt.

„Nun meinetwegen,“ sagte sie auch jetzt, zwischen Nachgiebigkeit und unmuthigem Widerstand schwankend; „wenn es sich denn durchaus nicht für mich schickt, so geschieht es eben nicht wieder. … Uebrigens waren es durchaus keine Taglöhnerkinder – das kleine Mädchen gehört in die Pfarre –“

Ein Schrei unterbrach sie. Einer der Knaben hatte inzwischen den Kahn weitergerudert und an einer ungünstigen Stelle angelegt. Beim Herausspringen war das kleine Mädchen in den See gestürzt – eben verschwand das blonde Köpfchen unter dem Wasser, als ein riesiger Neufoundländer dicht hinter den am Ufer Stehenden aus dem Dickicht brach und sich in den See warf. Er packte das Kind und legte es, an das Ufer springend, zu den Füßen eines Herrn nieder, der aus dem Gebüsch getreten war.

Das kleine Blondköpfchen war jedenfalls ein munteres, beherztes Ding, das keinen Augenblick die Geistesgegenwart verloren hatte – es richtete sich sofort auf und strich mit flinken Händchen das Wasser aus den Augen.

„Ach, du lieber Gott, meine neue, blaue Orleansschürze!“ rief sie erschrocken und rang die triefende Schürze aus. - „Na, die Mama wird schön zanken!“

Gisela, die herbeigeflogen war, zog mit bebenden Händen ein Tuch aus der Tasche, um es dem Kind über die nassen Schultern zu werfen.

„Das wird wenig nützen,“ sagte der Herr. „Aber ich möchte Sie bitten, künftig zu bedenken, daß solch’ ein kleines Menschenleben auch beschützt sein will, wenn wir es eigenmächtig in die Hand nehmen. … Mag es für die Gräfin Sturm auch nur die Geltung eines Spielzeugs haben – es hat doch Eltern, die es beweinen würden.“

Er nahm das durchnäßte Kind auf den Arm, lüftete den [162] Hut und ging, während der Hund freudeheulend an ihm in die Höhe sprang.

Den gefalteten, schlaff niedergesunkenen Händen der jungen Gräfin war das Tuch entfallen – mit tieferschreckten Augen und blassen Lippen hatte sie die harte, strafende Rede hingenommen, und nun starrte sie wortlos dem Fremden nach, bis er im Dickicht verschwunden war.


11.

Weder der Minister, noch eine seiner Begleiterinnen hatten sich der Unglücksstelle genähert – die Damen waren sogar, ängstlich die Oberkleider aufnehmend, um einige Schritte in den Wald zurückgewichen, da der triefende Hund mit seinen Freudensprüngen auch sie umkreiste; Unfall und Rettung waren ja auch das Werk nur weniger Augenblicke gewesen.

„Kennen Sie den Herrn?“ wandte sich die Baronin lebhaft an die Gouvernante und ließ die Lorgnette sinken, nachdem sie jede Bewegung des Fremden aufmerksam und angelegentlich verfolgt hatte.

„Ja, wer ist er?“ fragte auch der Minister.

„Haben ihn Excellenz genau angesehen?“ frug Frau von Herbeck zurück. „Nun, das ist er – der brasilianische Nabob, der eigentliche Besitzer, des Hüttenwerks, der Grobian, der das weiße Schloß ignorirt wie einen Maulwurfshügel. … Ich begreife nicht, wie es die Gräfin über sich gewinnen konnte, in seine Nähe zu gehen, und will gleich meinen kleinen Finger verwetten, daß er ihr irgend eine Unart gesagt hat – seine Haltung war zu unverbindlich!“

Die Baronin schritt auf Gisela zu, die mit gesenkten Wimpern langsam zurückkehrte. „Hat Dich der Mann beleidigt, mein Kind?“ frug sie sanft, aber mit einem seltsam forschenden Blick.

„Nein,“ antwortete Gisela rasch, und wenn auch ein tiefes, echt mädchenhaftes Erröthen über ihr Gesicht, bis an die Schläfe hinauflief, ihre Augen hatten doch jenen stolz abweisenden Ausdruck, der sich in gewissen Momenten wie ein Schild vor ihre Seele legte.

Unterdeß war der Minister mit Frau von Herbeck in den Wald eingetreten. Seine Excellenz hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt und bog den Kopf gegen die Brust – seine gewöhnliche Haltung, wenn er sich berichten ließ. Noch lag viel Eleganz und Elasticität in seiner Erscheinung, allein Haupt- und Barthaar war bereits stark ergraut, und jetzt, wo er, sich selbst vergessend, zuhörte, sanken die Wangenmuskeln schlaff herab und verliehen dem unleugbar geistreichen Gesicht etwas Grämliches – Seine Excellenz war alt geworden.

„Nicht so viel“ – rief Frau von Herbeck und schnippte mit Daumen und Zeigefinger in die Luft – „fragt der Mensch nach uns! … Da kam er auf einmal, vor etwa sechs Wochen, wie hereingeschneit! … Ich mache meinen Morgenspaziergang und komme am Waldhause vorüber – da sind die Fensterladen zurückgeschlagen und der Schornstein raucht, und ein Neuenfelder Mann, der mir begegnet, sagt, der, Herr aus Amerika sei da! … Excellenz, ich bin immer sehr unglücklich darüber gewesen, daß das Hüttenwerk in solche Hände kommen mußte – Sie glauben nicht, was für ein Geist in die Leute gefahren ist! Die neuen Häuser und das Bücherlesen haben ihnen dergestalt die Köpfe verdreht, daß sie buchstäblich nicht mehr wissen, was unten und oben ist. … Das sicherste Merkmal ist mir ihre Art und Weise zu grüßen – das neigt auf einmal den Kopf ganz anders und starrt einem so dreist in’s Gesicht, daß ich mich nicht mehr überwinden kann, zu danken. … Dies Alles, ich wiederhole es, hat mich stets verstimmt und verleidet mir den Arnsberger Aufenthalt gründlich – seit der Ankunft dieses Herrn Oliveira aber bin ich geradezu erbittert –“

„Er ist ein Portugiese?“ unterbrach sie die Baronin, die mit Gisela hinter den Beiden herschritt.

„Man sagt es – und seinem unglaublichen Hochmuth nach ist es mir auch sehr wahrscheinlich, daß er aus irgend einer in Brasilien eingewanderten portugiesischen Familie von Adel stammt.

… Auch sein Aeußeres spricht dafür – ich bin seine entschiedene Widersacherin, aber leugnen kann ich deshalb doch nicht, daß er ein sehr schöner Mann ist – Excellenz haben sich ja selbst überzeugen können.“

Excellenz antwortete nicht, und auch die beiden Damen schwiegen.

„Er hat die Haltung eines Granden,“ fuhr die Gouvernante eifrig fort, „und sitzt zu Pferde wie ein Gott! – O,“ unterbrach sie sich erschrocken, „wie kommt mir doch solch’ ein unschicklicher Vergleich auf die Zunge!“ Ihre Mundwinkel sanken plötzlich, als würden sie durch Bleigewichte herabgezogen, und die Lider legten sich reuevoll über die schwimmenden Augen – es war der vollendete Ausdruck der Buße und Zerknirschung.

„Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mir endlich zu sagen, durch welche Missethat dieser Herr Oliveira Sie erbittert hat?“ fragte der Minister ziemlich barsch und ungeduldig.

„Excellenz – er sucht etwas d’rin, unsere Gräfin zu beleidigen.“

„Dazu haben Sie ihn herausgefordert!“ rief das junge Mädchen und trat, erglühend und zürnend vor, während der Minister unangenehm erstaunt stehen blieb.

„O liebe Gräfin, wie ungerecht! … Fordere ich ihn denn etwa auch auf, Sie zu ignoriren, wenn Sie an ihm vorüberfahren? … Die Sache verhält sich folgendermaßen:“ – wandte sie sich an den Minister und seine Gemahlin – „Ich höre, daß er in Neuenfeld ein Asyl für arme, verwaiste Kinder aus den umliegenden Ortschaften gründen will – Excellenz, in unserer Zeit gilt es, die Augen offen zu haben und handelnd einzugreifen, wo es irgend möglich – ich überwinde also meinen Groll und Ekel gegen das gesetz- und zuchtlose Treiben der ganzen jetzigen Neuenfelder Wirtschaft, schließe acht Louisd’or im Namen der Gräfin und fünf Thaler von Seiten meiner Wenigkeit in ein Couvert und schicke es als Beisteuer zu dem beabsichtigten Asyl an den Portugiesen. … Natürlicherweise setzte ich in einigen begleitenden Zeilen voraus, daß die Anstalt auf streng kirchlichem Boden stehen werde, und erbot mich, für eine Vorsteherin sorgen zu wollen. … Was geschieht? … Das Geld kommt zurück, mit dem Bemerken, daß der Fond vollständig sei und keines Zuschusses bedürfe, und eine Vorsteherin sei bereits gefunden in der vortrefflich erzogenen ältesten Tochter des Neuenfelder Pfarrers – es ist zu ärgerlich!“

„Sie haben es aber auch sehr schlau angefangen, beste Frau von Herbeck!“ sagte der Minister in wahrhaft vernichtendem Hohn. „Und wenn Sie in der Weise weiter operiren, werden Ihnen ja recht viele Vögel in das Garn fliegen. … Sie hätten die Hand davon lassen sollen!“ fügte er in ausbrechendem Aerger hinzu. „Merken Sie sich für künftig: Ich will nicht, daß die Feindseligkeit und der Widerspruch da drüben auf eine so plumpe, Weise herausgefordert und genährt werden – ein Goldfisch will subtil angefaßt sein, wenn Sie es noch nicht wissen, meine sehr verehrte Frau von Herbeck!“

„Und wie kommen Sie denn auf die Idee,“ rief die Baronin, und ihr funkelnder Blick fuhr hochmüthig messend über die verblüffte Gouvernante hin – „wie kommen Sie auf die Idee, Ihren Instructionen schnurstracks entgegen, die Gräfin mit einem Mal gewissermaßen in die Oeffentlichkeit zu bringen und ihr eine Rolle aufzudrängen, die weder ihr, noch uns erwünscht sein kann? … Unser armes, krankes Kindchen,“ setzte sie weich hinzu, „das wir bisher vor jedem Zuglüftchen aus der schlimmen Welt da draußen sorgfältig bewahrt haben! … Siehst Du, Gisela,“ unterbrach sie sich plötzlich und fixirte das Gesicht der Stieftochter mit einem tiefbewegten Blick, – „daß Du noch lange nicht so weit hergestellt bist, wie Du denkst? … Da ist er ja, der erschreckend jähe Farbenwechsel, der Deinen Anfällen stets vorauszugehen pflegt!“

Das junge-Mädchen erwiderte kein Wort. Man sah, daß sie einen Moment mit einem heftigen Unwillen kämpfte; aber dann wandte sie sich achselzuckend ab und schritt weiter – mit dieser einen Bewegung sagte sie: „Ich bin viel zu stolz, um das, was ich einmal fest versichert, nochmals zu betheuern – glaube, was Du willst!“

Eine Zeitlang wandelten Alle schweigend weiter. Frau von Herbeck war sehr betreten; sie hielt sich consequent einige Schritte hinter dem Minister und vermied es augenscheinlich, in sein Gesicht zu sehen, das allerdings nicht die rosigste Laune verrieth. Am Thor des Schloßgartens blieb er stehen, während die Baronin und Gisela in die Allee eintraten; er sah über die Schulter noch einmal nach Neuenfeld zurück, dessen rothe Dächer im Sonnenschein [163] funkelten – nur eine First ragte dunkelbläulich schimmernd über sie hinweg – es war das vollständig renovirte, neu mit Schiefer gedeckte Pfarrhaus.

Der Minister zeigte mit dem Finger nach der dunklen Linie – ein kaltes Lächeln theilte seine bleichen Lippen und ließ die scharfgespitzten Zähne sehen.

„Mit dem dort wären wir fertig!“ sagte er.

„Excellenz – der Pfarrer?“ – rief Frau von Herbeck freudig erschrocken.

„Ist pensionirt. … Hm, wir geben dem Mann einfach Gelegenheit, zu erproben, wo er sein Brod leichter findet: in Gottes Wort, oder in Gottes Werken. … Der Mensch ist in der That ungeschickt genug gewesen, seine astronomische Gelehrsamkeit gerade jetzt in einem Buch der Welt zu präsentiren.“

„Gott sei Dank!“ rief Frau von Herbeck tief befriedigt. „Excellenz mögen nun darüber denken wie Sie wollen, aber den hat der Herr selbst verblendet und seiner gerechten Strafe entgegengeführt! … Excellenz sollten diesen Mann nur ein einziges Mal auf der Kanzel hören! Das wimmelt von Freigeistereien, von Blumen und Sternen, Frühlingshimmel und Sonnenschein – man glaubt jeden Augenblick, er will Verse machen. … Er war mein entschiedenster Widersacher, er hat mir meine erhabene Mission furchtbar erschwert – ich triumphire!“

Mittlerweile schritten die zwei Damen langsam durch die Allee.

Während Gisela’s Augen so tief nachdenklich am Boden hingen, als wolle sie die kleinen, weißgebleichten Kiesel zu ihren Füßen zählen, glitt der Blick ihrer Stiefmutter unermüdlich, mit einer Art von finsterer Forschung über sie hin. … Sie mußte jetzt aufsehen zu der Gestalt, die sie, verkümmert und jeglichen Jugendreizes entbehrend, bis noch vor einer halben Stunde in der Erinnerung festgehalten, der sie noch vor wenigen Wochen von Paris aus eine höchst elegante Haustoilette geschickt hatte mit dem stillmitleidsvollen Gedanken, wie entsetzlich wohl die kleine gelbe Vogelscheuche darin aussehen würde! … Waren Frau von Herbeck und der Arzt blind, daß sie nie auch nur, mit einer Silbe über diese merkwürdige Entpuppung berichtet hatten? … Die elegante, graciöse Frau von dreißig Jahren, hinter deren Stirn diese Betrachtungen fast fieberhaft kreisten, war noch blendend schön – allein die Jutta von Zweiflingen mit dem Duft und Schmelz der ersten Jugend war sie doch nicht mehr. Bei Abendbeleuchtung mochte dieser Kopf immerhin noch für achtzehnjährig gelten, jetzt aber, unter dem klaren Tageslicht, trat ein Verlust unerbittlich hervor – weiß war der Teint noch, allein nicht mehr frisch, er sah aus wie ein leicht zerknittertes, weißes Blumenblatt. … Vielleicht dachte die schöne Frau, indem ihr Blick so starr finster auf dem marmorglatten jungen Gesicht neben ihr haftete, an die rastlos nagende Sorge, die ihr dies beginnende leise Verwelken verursachte. …

Am Ende der Allee kam ein ziemlich bejahrter Lakai – er schien sehr erhitzt aus seiner geballten Hand, die er mit ängstlicher Vorsicht beobachtete, guckte ein munteres Vogelköpfchen. Er bog den alten Rücken fast bis zur Erde vor den Damen.

„Gnädige Gräfin haben heute Morgen einen guten Buchfinken gewünscht,“ sagte er zu Gisela; „der Greinsfelder Leineweber hat die besten Schläger auf dem ganzen Walde – und da bin ich gleich heute Nachmittag ’nübergelaufen. … Billig werden gnädige Gräfin das Thierchen freilich nicht haben – ’s ist dem Leineweber sein schönster Sänger. … Um ein Haar wär’ mir das kleine Ding unterwegs entwischt – ein Stäbchen am Bauer war zerbrochen.“

Er sagte das mit einem erleichternden Aufathmen – man sah, der Mann hatte Angst und Mühe gehabt bei dem Transport des kostbaren Vogels.

Die junge Gräfin strich zärtlich und behutsam mit der feinen Fingerspitze über das Köpfchen, das sich ängstlich duckte.

„Es ist gut, Braun,“ sagte sie. „Thun Sie das Thierchen in die Volière – Frau von Herbeck wird sorgen, daß der Mann seine Bezahlung erhält.“

In diesem Augenblick hätte der strengste Ceremonienmeister auch nicht den leisesten Tadel an ihrer Haltung finden können – das war die gebietende Herrin, die Hochgeborene, die nur Winke und Worte von der lakonischsten Kürze für ihre Untergebenen haben durfte – es war die Gräfin Völdern vom Kopf bis zur Zehe. … Die junge Dame hatte kein Wort des Dankes für den greisen Mann – er war in der glühenden Nachmittagssonne stundenweit gelaufen, um ihren lebhaft ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen, der Schweiß perlte von seiner Stirn, und die alten Füße waren sicher todtmüde aber, das war ja der Lakai Braun, dem die Gliedmaßen dazu gegeben waren, sie zu bedienen – so lange sie denken konnte, setzten sich diese Arme und Füße für sie in Bewegung, diese Augen durften nicht lachen, nicht weinen in ihrer Gegenwart; der Mund nicht eher sprechen, als bis sie befahl – sie kannte keine Hebung, keine Senkung seiner Stimme, Alles ging unter in dem vorgeschriebenen devoten, halben Flüsterton. … Hatte dieser Mann innere Freuden und Leiden? Dachte und fühlte er? Das hatte die kleine Gräfin, die über die Möglichkeit eines Seelenlebens in ihrem Puß stundenlang gegrübelt, nie in das Bereich ihrer Betrachtungen gezogen – diese in ein und dieselbe Form gekneteten Menschen regten sie dazu nicht an.

Der Lakai verbeugte sich so tief, als sei ihm mittels der Versicherung, daß der Vogel bezahlt werden solle, eine unverdiente Gnade widerfahren, und entfernte sich auf leisen Sohlen.

Im Vestibüle trafen die beiden Damen mit dem Minister und der Gouvernante wieder zusammen. Seine Excellenz zog sich für einen Moment zurück, um seinen Anzug mit einem bequemeren zu vertauschen, und die junge Gräfin ging, ihrer Kammerfrau einen Auftrag zu geben, während die Baronin und Frau von Herbeck die Treppe hinaufstiegen.

„Haben Sie den Kaffee bestellt, Frau von Herbeck?“ fragte die Baronin.

„Er steht bereit, Excellenz,“ antwortete die Gouvernante und deutete einladend in einen Gang, der sich seitwärts vom Hauptcorridor abzweigte.

Die Baronin stutzte und zögerte, die niedrige Stufe zu betreten, die hinauf führte. In demselben Augenblick wurde die am gegenüberliegenden Ende des Ganges sichtbare Thür geöffnet – ein Bedienter trat heraus, und als er die Damen erblickte, schlug er beide Thürflügel zurück.

In einem weiten Saal, nahe an ein hohes Bogenfenster gerückt, stand der Kaffeetisch. Rubinrothe und feurigblaue Lichter guckten über das blinkende Silbergeräth und streckten sich riesig und gestaltlos auf das dunkle Getäfel des Fußbodens hin – der Fensterbogen umschloß eine uralte, prachtvolle Glasmosaik, und hinter den funkelnden Gewändern der durchsichtigen Heiligen erblühte das ehrliche Stückchen Thüringer Gegend draußen zu einem feenhaft bunten Wunderreich des Orients.

Ohne ein Wort zu sagen, aber mit dem Ausdruck eines mißfälligen Befremdens, durchschritt die Baronin rasch den Corridor und betrat den Saal. Es war derselbe an die Schlosskirche stoßende Raum, der für das Kind Gisela einst ein Gegenstand sehnsüchtiger Wünsche gewesen – und von den Wänden herab schauten die überlebensgroßen, tiefsinnig verkörperten Gestalten aus der biblischen Geschichte, um deren willen ehemals die Weltdame, Frau von Herbeck, consequent und mit Abscheu den Saal gemieden hatte, weil „sie stets schreckhaft davon träumte“.

Der Bediente war mit eingetreten; er rückte die altväterischen, gestickten, hochbeinigen Lehnstühle um den Tisch, zog vor eines der Eckfenster den Laden, weil die Sonne zudringlich und sengend in den kühlen, mit einer Art von Kirchenluft erfüllten Raum fiel, und wischte von einer Tischplatte den feinen Staubanhauch, der sich ohne Zweifel in einigen Minuten wieder erneuerte – diese uralten Wände, dieses fast schwarz gewordene Holzgetäfel des Fußbodens predigten wie die Wandgemälde dringend und rastlos das Ende alles Zeitlichen: „Staub, Staub!“

Die Baronin stand neben einem Lehnstuhl, auf dessen hohen Rücken sie ihren Arm stützte – sie hatte weder Hut noch Mantille abgenommen und wartete scheinbar ruhig, bis der Lakai fertig war, dann winkte sie ihm, sich zu entfernen.

„Meine beste Frau von Herbeck,“ unterbrach sie das peinliche Schweigen eiskalt und ohne ihre Stellung im mindesten zu verändern, „wollen Sie mir nicht erklären, wie Sie auf den Einfall kommen, mich hierher gleichsam zu dirigiren?“

„O mein Gott, wie mögen Excellenz eine harmlose Anordnung in der Weise deuten!“ rief die Gouvernante. „Die Gräfin ist sehr gern in diesem Saal – wir speisen hier, und ernst und beschaulich, wie mein ganzes jetziges Leben und auch das unserer [164] Gräfin ist, weiß ich für uns Beide nichts Lieberes als diesen Aufenthalt … verzeihen Excellenz, wenn meine Vorliebe mich zu weit führte!“

Mit wenigen Schritten stand sie vor einer Flügelthür der nördlichen Saalwand und schlug sie zurück – die Schloßkirche that sich in ihrer ganzen Tiefe auf. Trotz des Sonnenglanzes und der Juligluth draußen webte ein graues, kaltes Halbdunkel unter der mächtigen Kuppel; die schwer vergoldete, fast überreiche Ornamentirung schimmerte bleich herüber, und unten, neben dem Altar, hob sich das blendend weiße Marmor-Monument des Prinzen Heinrich gespenstig aus dem Dunkel.… Ein wahrer Grabesodem wehte hinein in den Saal – die Baronin zog die Mantille fester um die Schultern und hielt das Taschentuch an die Lippen.

„Sagen Excellenz selbst, ob das nicht ganz wundervoll ist!“ fuhr Frau von Herbeck fort. „Ich meide geflissentlich die Neuenfelder Kirche, so lange der Antichrist da drüben von der Kanzel herab gegen unsere Bestrebungen intriguirt. … Es bleibt mir mithin nur die eine Erquickung, mir wöchentlich einige Mal den Greinsfelder Schulmeister herüber kommen zu lassen – er ist streng bibelgläubig und spielt mir Choräle auf der Orgel.“

Ein flüchtiges, aber sehr boshaftes Lächeln zuckte um die schönen Lippen der Baronin – vielleicht gedachte sie jenes Momentes, wo diese kleine, fette Frau da im Eckstübchen der Neuenfelder Pfarre majestätisch auf- und abgerauscht war, maßlos empört, daß man ihr zugemuthet hatte, einen Choral anhören zu müssen.

Der Gouvernante entging dies fatale Lächeln nicht – ein stechender Blick sprühte aus den schwimmenden Augen.

„Ich bin übrigens nicht so egoistisch,“ fügte sie nicht ohne eine Beimischung von Schärfe hinzu, „bei Benutzung dieser Räume lediglich an das Bedürfniß und das Heil meiner Seele zu denken – das gesammte Schloßpersonal und die Gutsangehörigen sind gezwungen, hier mit mir zu verkehren. … Excellenz, ich arbeite nicht allein im Weinberge des Herrn, sondern auch –“

„O bitte“ – unterbrach sie die Baronin, indem sie ihr abwehrend die Hand entgegenstreckte – „glauben Sie, ich wisse nicht, was uns gegenwärtig noth thut? … Ich begreife genau so gut, wie Sie, meine verehrte Frau von Herbeck, wo der Zügel straff anzuziehen ist, und so weit meine Machtvollkommenheit irgend reicht, sehe ich unerbittlich streng darauf, daß man nicht anders denkt und – glaubt, als ich es wünsche. … Deshalb aber werden Sie mir doch nicht im Ernst zumuthen wollen, das, was ich mit Recht von meinen Untergebenen verlange, in eigener Person zu vertreten? … Wenn es Ihnen Vergnügen macht, sich zu kasteien, ei, so thun Sie es doch – aber für sich ganz allein, wenn ich bitten darf! … Daß Sie mich hierhergeführt haben, sieht ein ganz klein wenig aus wie – die bekannte Herrschsucht der Gläubigen, und deshalb, meine liebe Frau von Herbeck, werde ich den Kaffee nicht hier trinken in diesen Räumen, wo uns der Staub in die Sahne fällt und alle die gequälten und heiligen Augen an den Wänden den Appetit verderben.“

Wie das beißend klang von den feinen Lippen, wie diese wundervollen schwarzen Augen funkelten in dem Gemisch von beleidigtem Stolz und eisigem Hohn! … Selbst in der graciösen Bewegung, mit welcher sie abstäubend über den Arm fuhr, der die Stuhllehne berührt hätte, lag eine ironische Demonstration. Sie nahm ihr Kleid auf und verließ den Saal.

„Der Kaffee wird im weißen Zimmer, unten bei Seiner Excellenz getrunken!“ befahl sie im Vorübergehen dem Bedienten, der im Corridor wartete.

Frau von Herbeck folgte ihr schweigend und widerspruchslos, aber ihre Wangen glühten, und die Blicke, welche sie auf die vor ihr hinschwebende schöne Frauengestalt warf, sprühten nun auch in unverhehlter Bosheit. Möglicherweise gedachte auch sie der Vergangenheit und vielleicht gerade des blauen Sammetmantels, den sie einst barmherziger Weise um jene schwellenden Glieder geworfen, damit die jetzige Herrin des weißen Schlosses wenigstens „einigermaßen anständig“ ihren Einzug halten konnte.

[177]
12.

Am anderen Tage waren die Jalousieen vor den Fenstern der Gemächer, welche die Baronin Fleury bewohnte, festgeschlossen – die Dame litt an heftigen Nervenkopfschmerzen in Folge der gestrigen Fahrt und Sonnenhitze. Sie ließ Niemand vor sich; in den naheliegenden Corridors herrschte Todtenstille, und daß nichts, nicht einmal das leise Geräusch einer knarrenden Sohle die Leidende störe, dafür sorgte schon der Minister, der, wie man sich erzählte, seine schöne Gemahlin noch ebenso abgöttisch liebte wie am Hochzeitstage.

In dem gegenüberliegenden Schloßflügel, der die Fremdenzimmer enthielt, ging es um so geräuschvoller zu. Am frühen Morgen schon kamen Handwerker aus A. in Begleitung eines großen Möbelwagens. Die seit Prinz Heinrich’s Zeiten nicht erneuerten und deshalb sehr verblaßten seidenen Bett- und Fenstergardinen wurden abgenommen – man riß die veralteten Tapeten von den Wänden, um sie neu, und zwar in sehr kostbarer Weise zu ersetzen, vertauschte die unmodernen Krystallkronleuchter mit Bronzelüstren und schaffte die, wenn auch immer noch werthvollen, aber doch altmodisch gewordenen Möbel in entlegene Räume.

Seine Excellenz leitete dies Alles selbst mit peinlicher Sorgfalt und Genauigkeit – es handelte sich aber auch um nichts Geringeres als einen fürstlichen Besuch. … In dem prachtvollen, von königsblauem Seidenstoff umrauschten Bett sollte der Landesherr schlafen, die aus Paris mitgebrachten herrlichen Spiegel sollten sein fürstliches Antlitz widerstrahlen und die Statuetten und Gemälde, die halb ausgepackt umherstanden, seine verwöhnten Augen ergötzen.

Dem Fürsten waren auf seiner jüngsten Reise zufällig einige das Regiment seines Ministers in sehr greller Weise beleuchtende Zeitungen in die Hand gefallen – er war tiefempört gewesen über diese „Schmähartikel“ und das „Lügengewebe“, und um seinem so gehässig angegriffenen Liebling eine eclatante Genugthuung vor aller Welt zu geben, hatte er sich als Gast auf dem Landsitz des Ministers angemeldet.

Das war eine Auszeichnung, deren sich auch nicht eine adelige Familie des Kindes rühmen konnte – es mußte mithin Alles geschehen, um durch möglichste Glanzentfaltung der seltenen Gnadenbezeigung würdig zu werden … wie leicht wurde das Seiner Excellenz – er brauchte ja nur in seinen französischen Säckel zu greifen! … Uebrigens schüttelten die Schloßleute die Köpfe – er hatte bei seiner Ankunft außergewöhnlich heiter ausgesehen, und nun war er über Nacht mürrisch und über alle Begriffe übellaunig geworden – ein sorgfältiger Beobachter hätte sogar einen neuen Zug in dem sonst so streng beherrschten Gesicht finden können: den der geheimen Sorge. … Mit der jungen Gräfin und Frau von Herbeck war er nur beim Diner zusammengekommen, und er, der sich sonst bei seinen Besuchen auf Greinsfeld und Arnsberg in Sorgfalt und Aufmerksamkeiten für sein kranke Stieftöchterchen förmlich erschöpfte, er hatte ihr zerstreut und einsilbig gegenüber gesessen, während Frau von Herbeck an sich selbst die traurige Erfahrung machen mußte, daß die beißende Satire Seiner Excellenz während des letzten Pariser Aufenthaltes bedeutend an Schärfe gewonnen hatte.

So war der erste Tag verstrichen. Nun lag ein prachtvoller Morgenhimmel über dem Thüringer Wald. Das junge Sonnengold und der leise vorüberziehende, frische Morgenwind sogen die letzten Thaureste von den Baumwipfeln; unten aber, im Waldesdunkel, auf den Erdbeerblättern und Farnkräutern rollten noch die hellen Thränentropfen der Nacht und klammerten sich an die kleinen Moose, um nicht in die schwarze, durstige Erde zu versinken.

Das weiße Schloß lag glitzernd inmitten seiner Springbrunnen, Bosquets und Alleen. Es hatte seine sämmtlichen Jalousieen aufgeschlagen – auch die vor den Fenstern der Baronin. Die Dame war vollkommen erholt und erfrischt aufgestanden und hatte befohlen, daß im Walde gefrühstückt werden solle. Nun wandelte sie allein durch den Schloßgarten; ihr Gemahl war im Fremdenflügel beschäftigt und wollte nachkommen, und Frau von Herbeck saß noch bei der Toilette, ohne sie aber sollte die junge Gräfin nach dem vorgestern ganz besonders aufgefrischten Princip das Schloß nicht verlassen.

Die schöne Frau hatte eine Morgentoilette gemacht, die im Boulogner Hölzchen weit eher am Platze gewesen sein würde, als hier unter den ehrlichen deutschen Eichen und Buchen, zwischen deren einsamen Stämmen höchstens die verdutzten Augen eines beerensuchenden Kindes erschienen. … Die Dame sah aus wie eine sechszehnjährige Schäferin à la Watteau in dem hochgeschürzten Rock aus milchweißem, weich niederfallendem Stoff, den ein himbeerfarbener Streifen umsäumte. Tief in die Stirn gedrückt, lag ein helles Strohhütchen auf dem blauschwarzen Haar, das nicht, wie ehemals, in prachtvollen Ringeln auf die Brust fiel – Pariser Zofenhände hatten diese wuchtigen Strähne am Hinterkopf [178] zu jenem abscheulichen Monstrum aufgenestelt, das die Welt „Chignon“ nennt. … Trotz dieser entstellenden Haartracht war es doch ein verführerisch schönes Weib, das leichten Fußes durch die thaufrischen Gebüsche schritt.

Der Platz im Walde, wo gefrühstückt werden sollte, lag nicht weit vom See – ein schmaler Durchhau umfaßte ein Stück - seines Spiegels und ließ es hinüberleuchten auf die engbegrenzte, von Buchen beschattete Waldwiese. Diese kleine Oase hatte Prinz Heinrich sehr geliebt zierlich gemeißelte steinerne Tische und Bänke standen umher, und unter dem Lieblingsbaum des fürstlichen Herrn, einer prachtvollen Rothbuche, erhob sich auf einem Sockel von Sandstein seine lebensgroße, in Erz gegossene Büste. … Auch hier lief die Grenze des Zweiflingen’schen Forstes ziemlich nahe vorüber – einzelne eingestreute Weißbirken blinkten fernher durch das Unterholz und bezeichneten gleichsam die Scheidelinie, und bei stillem Wetter drang das Dohlengeschrei von den Thürmen des Waldhauses, herüber.

Die Baronin Fleury beschleunigte ihre Schritte, als sie in den Wald eintrat. Ihr schönes Gesicht zeigte nichts von jenem stillbehaglichen Genuß, den ein Spaziergang im morgenfrischen Wald gewährt – es lag vielmehr ein Ausdruck von Spannung und Neugier in den schwarzen Augen. … Sie umschritt den See und betrat den Holzweg, an dessen Mündung die junge Gräfin vorgestern den Kahn angelegt hatte, während die Kinder sangen. Durch das Gebüsch schimmerte unfern das weiße Tuch, welches die Lakaien über den Frühstückstisch gebreitet hatten, aber die Dame huschte mit einem scheuen Blick nach den hantirenden Domestiken weiter auf dem Weg, der direct in das alte Zweiflingen’sche Revier lief. … Bis zu einer gewissen Stelle, die gleichsam den Knotenpunkt zweier sich abzweigender Pfade bildete, war sie auch früher gar manches Mal gewandelt, weiter aber nicht – diese schmalen Schlangenlinien mündeten ja in der Nähe des Waldhauses. Die hochgestiegene letzte Zweiflingen gestattete weder ihrem Gedächtniß, noch ihrer Umgebung, sie je an die Zeit des Mangels und der Erniedrigung zu erinnern, und aus dem Grunde hatte sie nie wieder die Schwelle des alten Jagdhauses betreten.

Heute aber wurde der Rubicon überschritten. Die Vögel, die im Dickicht brüteten, schwirrten aufgescheucht in die Baumkronen und schrieen mit vorgestreckten Hälsen auf die Frauengestalt nieder, die geschmeidig zwischen den feuchten Zweigen hineilte, ohne daß ein Thautropfen ihr helles Gewand benetzte. … Die Weißbirken lagen längst hinter ihr, und nun wurde allmählich der Weg breiter, die Bäume traten auseinander, und hinter dem Gebüsch, das schleierartig zerstoß, erschien das graue Gemäuer des Waldhauses.

Die Baronin trat hinter einen Strauch, bog die Zweige auseinander und sah hinüber – sie hatte die Façade vor sich.

In A. war dies alte Schlößchen mit seinem neuen fremdartigen Bewohner das Tagesgespräch. Man erzählte sich Wunderdinge von den fabelhaften Reichthümern des Portugiesen… : Dieser Herr von Oliveira – die Deutschen können sich nun einmal keinen hervorragenden Menschen ohne das „von“ oder einen Titel denken – hatte ja das schönste Haus in A. für eine Unsumme gemiethet; man wußte ganz genau, daß er den Winter in der Residenz zubringen und sich bei Hofe vorstellen lassen wolle, und wer so bevorzugt gewesen war, ihn einmal von fern zu sehen, der schwur, daß er dem schönsten Cavalier, den das Fürstenthum je gesehen, dem verstorbenen Major von Zweiflingen an Ritterlichkeit und aristokratischer Würde in der äußeren Erscheinung völlig gleichzustellen sei – das Waldhaus aber sollte er in einen wahren Feensitz umgewandelt haben.

Das konnte die schöne Lauscherin nun zwar nicht finden, allein ein originelles Gepräge hatte der alte Bau jedenfalls erhalten.

Der schmale Wiesenfleck, der sich ehemals vor seiner Fronte hinstreckte, beschrieb jetzt einen weiten Bogen, er war mit Kies bestreut, nur in seiner Mitte dehnte sich ein geschorenes Rasenrund. Früher hatte hier ein Brunnen primitivster Art gestanden, ein Steintrog, in welchen das perlende, frische Quellwasser aus hölzerner Röhre floß – jetzt lag auf der Grasfläche ein kolossales Granitbecken, aus dessen Mitte ein mächtiger Wasserstrahl hoch in die Lüfte stieg. Diese unmittelbar aus dem Herzen des Waldes emporschießende krystallhelle Säule mit ihrem buntfarbigen Aufsprühen, Rauschen und Plätschern inmitten der vielhundertjährigen Eichenwipfel hauchte einen wahren Märchenzauber in das Stück Waldeinsamkeit. … Der unwillkürliche Gedanke an Verzauberung wurde befestigt durch das undurchdringliche Gespinnst der Aristolochia, deren dünne, grüne, in’s Unendliche wachsende Arme sich fast dämonisch gewaltsam des grauen Gemäuers bemächtigten – da standen die zwei in’s Horn stoßenden Edelknaben zu beiden Seiten der Treppe, wie die im hundertjährigen Schlaf erstarrten Gestalten des Märchens; die grünen Schlangen umstrickten die schlanken Glieder und ließen ihre riesigen Blätter von den steinernen Schultern flattern. Bis hinauf über die Thurmzinnen krochen sie, um muthwillig in das uralte Dohlengeniste zu gucken, und streckten sich von dort aus - begehrlich nach den Eichenwipfeln – es sah aus, als sollten allmählich Wald und Haus und der springende Wasserstrahl in eine grüne Dämmerung zusammengesponnen worden.

Die Fenster jedoch hatten sich der gefährlichen Umarmung entzogen – der neue Besitzer schien Luft und Licht zu lieben. Statt der erblindeten in Blei gefaßten, runden Glastafeln umschloß der steinerne Fensterrahmen jetzt ungeheure Spiegelscheiben; durch sie fiel das Licht von zwei Seiten in die Halle, deren beide sich gegenüberliegende Thüren weit zurückgeschlagen waren.

Der schönen Frau kam auch nicht das leiseste Gefühl der Wehmuth, als ihre Blicke über die mit Holztapeten bekleideten Wände hinglitten, die Jahrhunderte hindurch die Ahnenbilder der Zweiflingen auf ihrer Fläche getragen hatte sie doch mit froher Hast die Erlaubnis zum Verkauf des „alten Nestes“ gegeben, und der Erlös das ganze Erbtheil der letzten Zweiflingen – war gerade hinreichend gewesen, zwei brillante Pariser Hoftoiletten zu bezahlen.

Auf den Steinfließen der Halle lagen Tiger- und Bärenfelle; schwere, ziemlich derb gearbeitete Stühle und Tische von Eichenholz standen gruppenweise in der Mitte und in den vier Ecken, und am Plafond hing ein prachtvoller, aus Waffen zusammengesetzter Kronleuchter. Verweichlicht schien der neue Bewohner nicht zu sein; da sah man weder Polster, noch Vorhänge, und auch nicht eine Spur jener zierlichen Nippes und Gerätschaften ohne Zweck, mit denen sich die Elegants unserer Tage umgeben – wohl aber bezeugten die am Boden liegenden Thierfelle und eine auserlesene Waffensammlung an der südlichen Wand, daß der Mann es liebe, seine Kraft im Kampfe mit den grimmigsten Feinden des Menschen zu erproben.

Auf der Terrasse stand ein gedeckter Tisch, und das sämmtliche auf demselben befindliche Trinkgeräth bestand aus gediegenem Silber, das erkannte das geübte und verwöhnte Auge der vornehmen Dame sofort. Der Herr des Hauses hatte ohne Zweifel hier gefrühstückt, in diesem Augenblick jedoch stand sein Stuhl leer, und diese Abwesenheit nutzte ein Papagei weidlich aus, indem er das liegengebliebene Weißbrod auf dem Tische umherzerrte. Nach jedem Bissen, der ihm vortrefflich zu schmecken schien, schrie er aus Leibeskräften: „Rache ist süß!“ lief auch wohl bis an den Rand des Tisches, so weit seine Kette reichte, und belferte nach einem der steinernen Edelknaben, auf dessen Schulter ein allerliebstes Löwenäffchen kauerte – es saß bewegungslos und starrte melancholisch in den deutschen Wald hinein.

Plötzlich fuhr die lauschende Dame auf, und ein finsterer, gehässiger Zug entstellte die feinen Lippen – wie kam der widerwärtige Mensch hierher? … Mußten denn das Waldhaus und diese verhaßte Erscheinung immer und ewig mit einander verknüpft sein? …

Es war der alte Sievert, der aus der Halle trat. Auch ihn hatte die Baronin nicht wiedergesehen. … Das war noch dasselbe dunkle Gesicht mit den harten, grobzugehauenen Zügen, welches einst so frech gewesen, der unwiderstehlichen Jutta von Zweiflingen stets und immer eine unerbittliche Strenge entgegenzuhalten – aber gealtert hatte der Mann nicht, und jetzt, wo ein Sonnenstrahl über seinen Kopf hinlief, sah man die helle, frische Röthe einer gekräftigten Gesundheit auf seinen Wangen leuchten.

Er schalt den Papagei und klopfte ihn mit einem silbernen Löffel auf den Rücken, worauf sich das Thier schreiend aus dem Staube machte und schleunigst auf seinen Ring zurückkletterte. Der alte Soldat räumte das Geschirr zusammen, nahm einige auf den Stühlen umherliegende aufgeschlagene Bücher, um sie sorgfältig auf dem Tische zu ordnen, rückte einen Cigarrenkasten [179] daneben und trat dann, die Platte mit dem Silber auf dem Arm, in die Halle zurück.

Dieser Anblick genügte, um der schönen Frau sofort eine Fluch verhaßter Erinnerungen aufzudrängen. … Der schreckliche Mensch dort hatte sie einst gezwungen, hie und da den schwarzen Kochtopf in die Hand zu nehmen, in die Hand, die jetzt den Ehering des mächtigsten Mannes im Lande trug – der Gedanke, daß diese weißen Finger ein Verbrechen begangen, hätte die Dame nicht mehr aufregen können, als die Erinnerung an die schändenden Rußflecken. … Ferner hatte sie recht gut gewußt, daß der alte Soldat zu Ende des Quartals stets den Unterhalt für sie und ihre Mutter aus seiner Tasche bestritten – die Baronin Fleury, Excellenz, hatte somit Bettelbrod gegessen – und dort in dem Thurmzimmer war die alte, blinde, eigensinnige Frau gestorben mit den furchtbarsten Anklagen auf den Lippen gegen den, dessen stolzen Namen die Tochter jetzt führte – auf jener Terrasse aber hatte einst in einer lauen Sommernacht ein Mann gestanden, der hohe, schöne Mann mit dem prächtigen, blonden Vollbart, dem schweigsamen Mund und melancholischen Gesicht, und an seine Brust hatte sich ein junges Mädchen geschmiegt, auf seinen ungestümen Herzschlag lauschend – über die Waldwipfel aber war der Mond gekommen, groß und voll, und das junge Mädchen hatte geschworen, geschworen – die Frau hinter dem Strauch fuhr in die Höhe wie von Furien aufgejagt – fort, fort! … welcher dämonisch heimtückische Zug hatte sie hierhergeführt! …

Ihr verfinstertes Gesicht war todtenbleich geworden, aber nicht unter den Schmerzen fruchtloser Reue – das war Grimm, unauslöschlicher Haß, mit welchem die schwarzen Augen noch einmal zurückblickten nach dem unseligen Hause, das die letzte Zweiflingen so „entwürdigt, kindisch und thöricht“ gesehen hatte – und doch haftete ihr flüchtiger Fuß plötzlich wieder am Boden, denn aus der Halle trat in diesem Augenblick auch eine Männergestalt.

Unser Pygmäengeschlecht steht heutigen Tages voll ungläubiger Verwunderung in den alten Rüstkammern und sinnt, was das wohl für Gestalten gewesen, die einst unter dieser Wehr- und Waffenlast sich so gewandt und unbeschwert bewegt hatten, als schritten sie leichtbeschuht über die Fließen des Banketsaales – dort stand eine solche Reckenerscheinung – dieses schöne braune Gesicht würde sicher unter dem wuchtigsten Helm trotzig gelächelt haben, und die mächtige, kraftvolle Gestalt mit der breiten Brust und dem stolzgetragenen Haupte, die nach Frau von Herbeck’s Aussage „wie ein Gott“ zu Pferde sitzen sollte, hätte wohl auch im klirrenden Eisenpanzer die südliche Geschmeidigkeit der Bewegungen nicht verleugnet.

Heute konnte die Baronin den Fremden mit mehr Ruhe und Muße beobachten; ein breitrandiger Pflanzerhut hatte vorgestern sein Gesicht halb beschattet; nun sah sie tiefgebräunte Züge mit der tadellosen Linie des Römerprofils – kein Bart verdeckte die klassische Rundung des Kinnes und der Wangen. Die braune Haut verdankte er offenbar mehr der Einwirkung des tropischen Himmels und seinen muthmaßlichen Strapazen und Streifzügen unter demselben, als seiner südlichen Abkunft – denn die Stirn, die der Hut beschützt hatte, war bleich wie Alabaster, aber, seltsam – sie leuchtete förmlich, und doch gab gerade sie dem jungen Gesicht – der Mann mochte vielleicht dreißig Jahre zählen – den Ausdruck eines gereisten, finsteren Ernstes, ja, die zwei einschneidenden Furchen zwischen den stark entwickelten Brauen trugen entschieden das Gepräge des tiefsten Mißtrauens, einer förmlichen feindseligen Protestation gegenüber dem gesammten Menschengeschlecht.

Mit einer eigenthümlich sanften Bewegung, die an dieser hünenhaften Erscheinung doppelt auffiel, streckte der Portugiese seinen linken Arm aus – das Aeffchen sprang hinüber und legte die kleinen Arme mit der Zärtlichkeit eines Kindes um den Hals seines Herrn – der lauschenden Dame kam plötzlich die rätselhafte Empfindung, als müsse sie das unschöne Thier von ihm wegschleudern … hatte dieser heiß und jäh aufsteigende Gedanke die Eigenschaft eines fortspringenden elektrischen Funkens? … der Portugiese schüttelte in diesem Augenblick das kleine Geschöpfchen ziemlich unsanft ab, trat an die erste Treppenstufe und sah gespannt und aufmerksam nach der Richtung, wo die Baronin stand sie erkannte jedoch sofort, daß der Blick nicht ihr galt.

Schon einmal war der Neufoundländer, der vorgestern dem Töchterchen des Neuenfelder Pfarrers das Leben gerettet, an ihrem Versteck vorübergekommen – das Thier war rasch, mit keuchendem Athem gelaufen, hatte, als werde es gejagt, den ganzen Kiesplatz durchmessen und war dann hinter dem Waldhause verschwunden – jetzt kam es wieder.

„Hero, hierher!“ rief sein Herr hinüber.

Der Hund lief weiter, als habe er auch nicht einen Laut gehört; er beschrieb in seinem Lauf abermals den weiten Bogen um das Haus.

Der Mann dort war jedenfalls furchtbar jähzornig und heftig – seine braunen Wangen waren bleich geworden vor Grimm – er sprang die Stufen herab und erwartete das lautkeuchende Thier, das eben in gestrecktem Lauf wieder hinter dem Haus vorkam – ein erneuter, drohender Zuruf blieb ebenso erfolglos, wie der erste.

Mit zwei Sätzen sprang der Portugiese auf die Terrasse zurück, verschwand im Hause und kam sofort mit einem Terzerol in der Hand wieder heraus.

Das widerspenstige Thier schien zu ahnen, daß ihm eine Gefahr drohe – dahin rasend, so daß sein Leib fast die Erde berührte, verließ es den Kiesplatz und bog in einen der Waldwege ein, die nach dem See führten – sein Herr, der es noch im Verschwinden sah, sprang ihm nach.

Nun floh aber auch die entsetzte Frau. … Sie lief auf dem Wege zurück, den sie gekommen – den Sonnenschirm fortwerfend, hielt sie beide Hände auf die Ohren, um den Schuß aus der Waffe des erzürnten Mannes nicht zu hören. …

Der Weg, den der Hund eingeschlagen, beschrieb weit mehr Schlangenwindungen, als der, auf welchem die Baronin flüchtete, und doch, als sie athemlos die Waldwiese erreichte, umkreiste das Thier dieselbe bereits ebenso, wie den Kiesplatz – wohl streckte es die Zunge lechzend aus dem Rachen, allein die flüchtigen Füße zeigten keine Spur von Ermattung, es sah aus, als werde es von einer unsichtbaren Macht vorwärts geschleudert.

Die Lakaien hatten sich schützend vor den vollständig arrangirten Frühstückstisch gestellt, der jeden Augenblick in Gefahr war, umgerissen zu werden – aber keiner von ihnen wagte, sich an dem riesigen Thier zu vergreifen, oder es fortzuscheuchen.

Fast mit der Baronin zugleich, nur von einer anderen Seite, trat der Portugiese aus dem Walde, und in demselben Augenblick kam auch Gisela in Frau von Herbeck’s Begleitung vom See her – die schöne Frau stürzte auf die beiden Damen zu.

„Er ist ein Wütherich! … Er will den Hund erschießen, weil er ihm nicht gehorcht!“ flüsterte sie mit vibrirender Stimme und deutete nach dem Mann, der mit heftig arbeitender Brust und bleichem Gesicht dort stand – trotz der sichtlichen, tiefen, inneren Erregung hob er doch mit einer ruhigen, beherrschten Bewegung den Arm –

„O mein Herr, der Hund hat einem Kinde das Leben gerettet!“ rief Gisela – sie flog über die Wiese und warf sich zwischen den eben heranrasenden Hund und seinen tieferbitterten Herrn – sie fühlte sich plötzlich von einem Arm umfaßt und hinweggerissen, zugleich krachte ein Schuß, und das prächtige Thier brach dicht vor ihren Füßen zusammen. … Das junge Mädchen, das nie auch nur die leiseste Berührung einer anderen Hand duldete und infolge dieser seltsamen Scheu selbst Lena’s Dienstleistungen consequent zurückwies – es wurde jäh an ein heftig klopfendes Herz gepreßt, sie fühlte den Athem eines Menschen über ihre Stirn hinstreichen – entsetzt schlug sie die Augen auf – sie sah in das tief herabgebeugte Gesicht des Portugiesen, dessen dunkle Augen mit einem räthselhaften Ausdruck auf ihr ruhten. … Die gräfliche Waise hatte in ihrem Leben unzählige Mal die Besorgniß um ihren leidenden Zustand aussprechen hören – immer dieselben Phrasen, die ihr gesundes Gefühl abstießen und sie schließlich zu einem fast rauhen Widerspruch herausforderten – ein Blick voll wirklicher zärtlicher Angst läßt sich nicht heucheln, ihn hatte sie nie kennen gelernt, und deshalb begegneten ihre Augen verständnißlos denen des Portugiesen. …

Dagegen begriff sie sofort, daß er sie nur hinweg gerissen hatte, weil sie ihm im Wege gewesen, und daß Frau von Herbeck’s Ausspruch: „er suche etwas darin, sie zu beleidigen“, begründet sei – denn er zog urplötzlich seinen Arm an sich und trat jäh zurück, als habe er den kalten Leib einer Schlange berührt.

Dies Alles hatte sich in wenige Augenblicke zusammengedrängt. Der Portugiese warf das Terzerol von sich und bog [180] sich über den Hund, der, unmittelbar in’s Herz geschossen, ohne Laut verendete. … Wie tief gruben sich in dem Moment die verhängnißvollen Linien in die weiße Stirn des Mannes, aber im Verein mit den fest aufeinander gepreßten Lippen machten sie nur den Eindruck eines finsteren Schmerzes.

Er sah nicht auf, als auch jetzt die Baronin und Frau von Herbeck herübereilten.

„Aber, theuerste Gräfin, wie unvorsichtig! Welchen Schrecken haben Sie uns gemacht! – mir zittern alle Glieder vor Alteration!“ rief die Gouvernante mit fliegendem Athem und breitete die Arme aus, als wolle sie das auffallend bleich gewordene junge Mädchen schützend an ihre Brust ziehen – ein finsterer Blick aus den braunen Augen machte jedoch die gehobenen Arme sofort sinken. Ihr emphatischer Ausruf war verunglückt – es schien sich Niemand dafür zu interessiren, daß sie sich alterirt hatte. Sie trat dicht an den Hund heran.

„Armes Thier – daß es hat sterben müssen!“ sagte sie mitleidig – aber diese Frau verstand sich meisterhaft auf die Modulation ihrer Stimme – der Vorwurf in diesen Tönen klang förmlich beleidigend.

Der Portugiese richtete sich empor und sah auf die Gouvernante nieder – sie meinte, unter diesem Blick versteinern zu müssen.

„Glauben Sie denn, meine Dame, ich habe das Thier zu meinem Vergnügen niedergeschossen?“ fragte er mit einem seltsamen Gemisch von Zürnen, Sarkasmus und Schmerz – der Mann sprach ein schönes, reines Deutsch.

Er streckte einem der herzugetretenen Lakaien, welcher sich niederbog, um das Fell des Thieres zu streicheln, abwehrend die Hand entgegen.

„Seien Sie vorsichtig – der Hund war toll!“ warnte er.

Jetzt schnellte Frau von Herbeck mit einem lauten Aufschrei zurück – ihr Fuß hatte fast die Schnauze des todten Thieres berührt. Die Baronin dagegen trat furchtlos näher – sie hatte sich bis dahin mehr seitwärts gehalten.

„Dann haben wir ja alle Ursache, Ihnen für die Errettung aus großer Gefahr zu danken, mein Herr!“ sagte sie – nur dieser Frauenmund konnte so hinreißend und zugleich so vornehm unnahbar lächeln – „Ich wohl ganz speciell,“ fuhr sie fort; „denn ich promenirte eben noch mutterseelenallein im Walde.“ .

Es war nur eine ganz banale Phrase, die diese rothen Lippen aussprachen, und doch schien sie den Eindruck eines tiefsinnigen, schwer zu begreifenden Orakels zu machen – denn der Fremde stand, Auge in Auge, wortlos vor der schönen Frau. Sie kannte genau den Zauber ihrer blendenden Erscheinung, ihrer bestrickenden Stimme, allein diese blitzähnliche Wirkung war ihr neu. … Der Mann rang offenbar mit sich selbst, um den Eindruck zu bekämpfen – vergebens, nicht einmal eine linkische Verbeugung brachte die so elegante, ritterlich gewandte Gestalt fertig.

Die Baronin lächelte und wandte sich ab – ihre Augen fielen auf die junge Gräfin, die mit fest aufeinander gepreßten Lippen diese seltsame Bewegung beobachtete.

„Kind, wie siehst Du aus?“ rief sie erschrocken – ihre Besorgniß ließ sie offenbar Alles um sich her vergessen – „Jetzt werde ich auch wie Frau von Herbeck schelten müssen! … Es war unverantwortlich von Dir, hierher zu laufen, wo Dir der Schuß und der schreckliche Anblick die Nerven erschüttern mußten! … Wie magst Du nur daran denken, jemals gesund zu werden, bei der Nonchalance, mit der Du Dein Leiden behandelst?“

Dieses Alles sollte der Ausdruck zärtlicher Sorge sein, und doch – wie unpassend klangen die Vorwürfe, welche ebenso gut an ein zehnjähriges Kind gerichtet sein konnten, dem Mädchen gegenüber, das so jungfräulich und so stolz dort stand! … Ueber ein heißes Erröthen, das jäh über ihr weißes Gesicht bis an das mattblinkende Haar hinauflief, hatte sie keine Macht, wohl aber über ihre Lippen, die nicht ein Wort erwiderten. Sie hatte eine eigentümliche Art zu schweigen – das war weder das Verstummen blöder Verlegenheit, noch eines trotzigen Verstocktseins – so mild und ausdrucksvoll schweigt die geistige Ueberlegenheit, die jedes unnütze Wort geflissentlich vermeidet.

Frau von Herbeck nannte das „den gräflich Völdern’schen Dickkopf in ausgeprägtester Form“, eine Auffassung, die sie auch jetzt veranschaulichte durch maliciös zugespitzte Lippen und ein mißbilligendes Kopfschütteln.

Niemand beobachtete den raschen Blick, den der Fremde bei dem besorgten Ausruf der Baronin auf Gisela warf – wer ihn aber gesehen hätte, wie er unter den tiefgefalteten Brauen hervor die hohe, unnahbar stolze Mädchenerscheinung streifte, der würde für jenes junge Wesen gezittert haben, das unbewußt der Gegenstand einer wahrhaft fanatischen Erbitterung war. …

Der Portugiese trat geräuschlos in das Gebüsch zurück und war verschwunden, als die Damen sich wieder nach ihm umwandten.

[193]
13.

Frau von Herbeck lachte spöttisch auf und deutete nach dem Dickicht, von wo noch einmal der helle Sommeranzug des Portugiesen herüberschimmerte.

„Da geht er hin ohne Sang und Klang!“ sagte sie. „Excellenz haben sich nun selbst überzeugen können, was das weiße Schloß für eine saubere Nachbarschaft hat! … Unverschämt! … Dies edle Portugiesenblut hält es nicht der Mühe Werth, vor einer deutschen Dame den Rücken zu beugen! … Excellenz, ich war außer mir über die Art und Weise, wie er Ihre Liebenswürdigkeit hinnahm!“

„Ich bezweifle sehr, daß es Hochmuth war,“ entgegnete die schöne Frau mit Achselzucken und einem flüchtigen, aber vielsagenden Lächeln.

Die zärtlich schwimmenden Augen der Gouvernante glitzerten für einen Moment wahrhaft katzenartig – ihr Widersacher hatte einen mächtigen Verbündeten; die weibliche Eitelkeit.

„Aber sein Benehmen gegen unsere Gräfin – entschuldigen Excellenz das auch?“ fragte sie nach einem momentanen Stillschweigen erbittert. „Zuerst umfaßt er sie sans façon und reißt sie auf die Seite –“

„Das hat mein Töchterchen sich selbst zuzuschreiben,“ warf die Baronin lächelnd ein und strich mit dem Zeigefinger leicht über Gisela’s Wange. „Dieser heroische Versuch, den Hund zu retten, war ein wenig – kindisch, meine Kleine!“

„Und dann stößt er sie plötzlich von sich“ – fuhr die Gouvernante mit erhöhter Stimme fort – „wollen Excellenz auch in Abrede stellen, daß er sie mit Ingrimm, ja, ich sage nicht zu viel, mit einem wahren Haß von sich gestoßen hat?“

„Das leugne ich ganz und gar nicht, meine beste Frau von Herbeck – denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen – allein ich kann Ihre Schlagwörter, wie Haß und dergleichen, trotzdem nicht billigen. Warum, in aller Welt soll denn dieser Mann die Gräfin hassen? Er kennt sie ja gar nicht! … So wie ich die Sache ansehe, war es nichts als ein augenblicklicher, fast unbewußter Widerwille, mit welchem er zurückwich – und sehen Sie, da berühren wir einen Punkt, den wir, mein Gemahl sowohl, wie ich, Ihnen stets dringend an’s Herz gelegt haben – es ist nun einmal für unser Kindchen unumgänglich nöthig, daß seine einsame, abgeschiedene Lebensweise festgehalten wird.“

Sie schob ihren reizenden, mit einem Stiefelchen von Goldkäferleder bekleideten Fuß vor und ließ die Augen wie in qualvoller Verlegenheit darauf ruhen.

„Es ist mir zu peinlich, dieses zarte Thema nochmals zu erörtern,“ sagte sie endlich zu Gisela, „und doch muß es gesagt sein – um so mehr, als Du, mein Kind, die größte Lust zeigst, Dich zu emancipiren. … Viele Menschen, Männer und Frauen, haben eine Aversion gegen Alles, was ‚Nervenzufälle‘ heißt – Dein Uebel ist leider bekannt, meine liebe Gisela – im Verkehr mit der Welt würden Dich zahllose Rücksichtslosigkeiten verwunden – wir haben eben einen eclatanten Beweis gehabt!“

Sie deutete nach der Richtung, wo der Portugiese verschwunden war.

„Närrchen Du,“ begütigte sie, als sie sah, daß sich die Lippen der jungen Dame plötzlich wie infolge eines tödtlichen Schreckens schneeweiß färbten. „Das wird Dich doch nicht alteriren? … Hast Du denn nicht uns, die wir Dich auf den Händen tragen? Und hoffen wir denn nicht Alle, daß es allmählich besser mit Dir werden wird?“

Wie alle diplomatisch gewandten Menschen, die, wenn sie einen Pfeil mit Erfolg abgeschossen, das Thema sofort wechseln, brach auch sie das Gespräch ab. Sie befahl einem der Lakaien, den weggeworfenen Sonnenschirm zu suchen und gestand den Damen lachend ein, daß sie sich „entsetzlich gefürchtet“ habe.

„Kein Wunder!“ sagte, sie. „Ich habe das Waldhaus gesehen – es macht Einem den Eindruck, wie sein Herr selber – halb ist es der Wohnsitz eines Märchenprinzen und zur anderen großen Hälfte der eines nordischen Barbaren. … Wer weiß, was der Mann für eine Vergangenheit hat – selbst sein Papagei schnaubt Rache.“

Sie schwieg – es kamen Leute vom Waldhause her, die den Hund wegschafften und sorgfältig die Stelle säuberten, wo er gelegen. Sie faßten das todte Thier so schonend und behutsam an, als sei es ein verunglückter Menschenkörper.

„Den hat der Herr so lieb gehabt wie einen guten Cameraden,“ sagte einer der Männer zu dem Lakaien, der dabei stand. „Er hat ihn einmal ’rausgebissen, wie er unter die Räuber gefallen ist – das verwindet der Herr sobald nicht – er kam kreideweiß nach Hause. … Und der alte brummige Sievert heult gar – er hat sich in den paar Wochen so an den Hero gewöhnt!“

Die Damen standen unfern und hörten jedes Wort: bei Sievert’s Namen aber wandte sich die Baronin verächtlich ab und [194] schritt nach dem Frühstückstisch, wo sie sich niederließ. Sie nahm die Lorgnette vor die Augen und fixirte ihre Stieftochter, die mit Frau von Herbeck langsam herüberkam, während die Männer mit der Trage in den Wald zurückkehrten.

„Apropos, Gisela – laß Dir Eines sagen!“ rief sie dem jungen Mädchen entgegen. „Nimm mir’s nicht übel, aber Du machst eine zu absonderliche Toilette – so über alle Begriffe pauvre –“

Die junge Gräfin trug ein Kleid genau von demselben Schnitt, wie das vorgestrige, nur war es von zartblauer Farbe. Ohne jedwede Verzierung, sah es fast aus wie ein Talar mit weiten, offenen Aermeln, dessen Falten nur um die Taille mittels eines Gürtels zusammengezogen waren. Aber diese durchsichtigen Muslinfalten legten sich knapp um die zartgeformte Büste und ließen das rosige Weiß der Schultern durchscheinen – ein schwarzes Sammetband nahm heute das blonde, offene Haar von der Stirn zurück. Das war freilich keine Pariser Toilette à la Watteau, aber das Mädchen sah aus wie eine Elfe.

„Ach, das ist ja immer Lena’s Jammer, Excellenz!“ klagte die Gouvernante. „Ich sage schon lange kein Wort mehr –“

„Das dürfen Sie auch nicht, Frau von Herbeck!“ unterbrach sie Gisela ernst. „Haben Sie nicht erst gestern einem unserer Küchenmädchen versichert, sie sei verstoßen vor Gottes Angesicht, weil der Eitelkeitsteufel in ihr stecke?“

Ein frivoles Lächeln kräuselte die Lippen der Baronin – die Gouvernante aber erglühte in der Erinnerung an jenen Moment abermals in heiligem Zorn.

„Und das mit allem Recht!“ fuhr sie empor. „Hat sich doch das einfältige, gottvergessene Ding einen runden Strohhut gekauft, genau von der Form wie mein neuer! … Aber, liebste Gräfin, eine solche Parallele zu ziehen! … es ist unverantwortlich – ja, ja, das ist wieder einmal eine Ihrer liebenswürdigen, kleinen Bosheiten!“

„Ich hatte gehofft, Dich in dem reizenden Hausanzug zu sehen, den ich Dir von Paris aus geschickt habe, mein Kind!“ sagte die Baronin, unbekümmert um Frau von Herbeck’s Jammer.

„Er war mir viel zu kurz und zu eng – ich bin gewachsen, Mama.“

Ein lauernder Blick aus den dunklen Augen der Stiefmutter fuhr über das Mädchengesicht.

„Er ist genau nach dem Maße gemacht, das Lena mir bei unserer Abreise eingehändigt hat,“ sagte sie gedehnt und scharf zugleich, „und Du willst mir doch nicht weismachen, Kindchen, daß Du Dich in den paar Monaten so gewaltig verändert habest?“ …

„Ich habe Dir niemals etwas weismachen wollen, Mama, und deshalb muß ich Dir auch bekennen, daß ich den Anzug nie getragen haben würde, selbst wenn er passend gewesen wäre – ich hasse alle schreienden Farben – das weißt Du ja, Mama – ich habe die rothe Jacke Lena geschenkt.“

Die Baronin fuhr tiefgereizt auf – aber sie faßte sich rasch.

„Nun, da wird sich ja das Kammerkätzchen recht wohl befinden in dem feinen Cachemir!“ meinte sie spöttisch lächelnd. „Und ich werde mich künftig hüten, ohne die allerhöchste Genehmigung meines Töchterchens zu wählen. … Uebrigens kann ich mir nicht helfen – ich betrachte die gesuchte Einfachheit bei solch’ kleinen Backfischchen, wie Du eben eines bist, immer mit schwerem Mißtrauen – es sieht mir aus wie ein ganz klein wenig – Heuchelei.“

Gisela’s Mundwinkel bogen sich leicht abwärts in einem leise verächtlichen Zug.

„Ich heucheln? – Nein – dazu bin ich zu stolz!“ sagte sie gelassen.

Diese seltene Ruhe in dem Wesen des jungen Mädchens ließ den, der sie beobachtete, fortwährend im Zweifel, ob sie angeborener Sanftmuth, oder einem überwiegend vorherrschenden Verstand entspringe.

„Ich bilde mir sehr viel darauf ein, Gottes Ebenbild zu sein,“ sagte sie weiter. „Mögen Andere ihren Körper mit allen möglichen Modeartikeln behängen und verunstalten – ich thue es nicht!“

„Ah, meine liebe, kleine Bescheidenheit – da bist Du also überzeugt, so am schönsten zu sein?“ rief die Baronin. Sie maß die Stieftochter durch die Lorgnette von Kopf bis zu Füßen – ein wahrhaft satanischer Zug zuckte um ihren Mund.

„Ja,“ antwortete Gisela unbefangen, ohne Zögern. „Mein Schönheitsgefühl sagt mir, daß wir die einfach edlen Linien festhalten sollen.“

Die Baronin lachte laut auf.

„Nun, Frau von Herbeck,“ sagte sie mit beißender Ironie zu der Gouvernante, „dies Kind hat ja in seiner Einsamkeit recht interessante Studien gemacht – wir werden Ihnen sehr dankbar dafür sein! … Schade, mein Herz, daß Du nicht hübscher bist!“ fügte sie zu Gisela gewendet hinzu.

„Mein Gott, Excellenz,“ rief Frau von Herbeck erschrocken, „ich habe keine Ahnung, wie die Gräfin dazu kommt, sich plötzlich von einer so koketten Seite zu zeigen! … Nie, ich kann es beschwören, habe ich bemerkt, daß sie auch nur einmal in einen Spiegel sieht –“

Die Baronin winkte ihr, zu schweigen – der Minister kam eben vom See her.

Seine Excellenz sah nichts weniger als morgenfrisch und gutgelaunt aus. Unter dem tief in die Stirn gedrückten Strohhut hervor fuhr sein Blick über die Damengruppe und blieb an der jungen Gräfin hängen. Sie stand noch – während des Gesprächs hatte sie mechanisch einen etwas hochhängenden Zweig ergriffen und hielt ihn mit ausgestrecktem Arme fest – der weite Aermel hing flügelartig herab – es war eine charakteristische Stellung voll edler, keuscher Ruhe.

„Ah sieh da – eine Opferpriesterin im Druidenhaine!“ rief er sarkastisch hinüber, als er näher kam. „Phantastisch genug siehst Du aus, meine Tochter!“

Für gewöhnlich begleitete er dergleichen Scherze mit einem feinen, satirischen Lächeln, das sein Gesicht sehr pikant und anziehend machte – augenblicklich aber erlosch es in einem Ausdruck von Verdrossenheit. Er küßte seiner Gemahlin die Hand und setzte sich neben sie.

Während Frau von Herbeck die Chocolade einschenkte, erzählte die Baronin ihrem Gemahl das Abenteuer mit dem Besitzer des Hüttenwerks – sie beschränkte ihre Mittheilung lediglich auf das Erschießen des Hundes und berührte Gisela’s Betheiligung dabei mit keinem Wort.

„Der Mann versteht es, sich mit einem romanhaften Nimbus zu umgeben,“ meinte der Minister, indem er die dargebotene Chocolade zurückwies und sich eine Cigarre anbrannte. „Er scheint den Sonderling spielen zu wollen und läßt sich mit seinen Millionen suchen – nun, das wird aufhören, wenn der Fürst kommt; er will sich ja vorstellen lassen, wie man sagt, und dann werden wir ihn uns näher besehen.“

Er sah sehr zerstreut aus, als er das sagte – seine Gedanken waren offenbar nach einer anderen Seite hin lebhaft beschäftigt.

„Da hat mir doch der Tölpel von Tapezirer vorhin beim Aufstellen eine der neuen Vasen zerbrochen!“ sagte er nach einer Pause, während die Damen schweigend frühstückten.

„O weh!“ rief die Baronin. „Aber das sollte Dich doch nicht so verstimmen, mein Freund! Der Schaden ist leicht wieder gut zu machen – das Ding hat höchstens fünfzig Thaler gekostet!“

Der Minister schnellte die Asche von seiner Cigarre – in der Bewegung, mit welcher er sich wegwandte, lag viel heimliche Ungeduld.

„In dem Augenblick, als ich das weiße Schloß verließ,“ hob er nach einem momentanen Schweigen wieder an, „nahm Mademoiselle Cecile eine Kiste in Empfang, die Dein Pariser Schneider geschickt hat, Jutta.“

„O, das ist mir eine sehr angenehme Neuigkeit!“ rief die Dame. „Cecile hat schon gejammert, weil die Sachen so lange ausblieben, und ich selbst hatte Angst, à la Aschenputtel vor dem Fürsten erscheinen zu müssen!“

„Der Narr hat fünftausend Franken Werth angegeben,“ bemerkte der Minister.

Die Baronin sah verwundert auf.

„Der Mann hat ganz Recht,“ sagte sie. „Ich habe für fünftausend Franken Bestellung gemacht.“

„Aber, liebes Kind, wenn ich nicht irre, hast Du ja eben so und so viele Toiletten im Werth von achttausend Franken aus Paris mitgebracht?“ …

[195] „Allerdings, mein Freund,“ lächelte sie, „und es waren nicht acht-, sondern zehntausend Franken – ich habe sie aus meiner Tasche bezahlt und da vergißt es sich nicht so leicht. … Uebrigens bin ich sehr erstaunt, daß Du Dir nicht selbst sagst, wie es ein Ding der Unmöglichkeit für mich ist, Anzüge, die speciell für A. bestimmt waren, hier auf dem Lande zu tragen – eine so grenzenlose Geschmacklosigkeit wirst Du mir hoffentlich nicht Zutrauen!“

Während dieser Auseinandersetzung brockte sie sich mit großer Gemüthsruhe ein geröstetes Weißbrodschnittchen in die Chocolade. Ihr Blick schlüpfte einigemal seitwärts nach ihrem Gemahl, aber wenn auch die Lippen lächelten – ihre Augen, sonst so feurig und von wahrhaft dämonischer Gewalt, glitten mit einer eigenthümlichen Starrheit über das Profil und die tiefgesenkten Lider des Mannes. … Da war auch nicht der letzte Abglanz mehr von dem, was die schöne Braut einst in der Schloßcapelle zu A. mit ihrem Ja besiegelt hatte.

„Seit wann aber, liebster Fleury, controlirst Du meine Pariser Sendungen?“ fragte sie scherzhaft weiter. „Das ist Dir ja nie im Leben eingefallen! … Und dazu dies misanthropische Gesicht! … Ich will doch nicht hoffen, daß mit Deinem neulichen Geburtstag die Grämlichkeit eingezogen ist? … O pfui, liebster Mann, nur nicht alt werden!“

Das Alles klang neckend und wurde bezaubernd naiv hingeworfen, aber es enthielt scharfe Dolchstiche für den weit über zwei Decennien älteren Mann, der seiner vergötterten jungen Frau gegenüber um keinen Preis alt werden wollte.

Ueber sein unbewegliches Gesicht flackerte eine fahle Röthe, und ein halbes Lächeln theilte seine bleichen Lippen.

„Ich bin ein wenig verstimmt,“ gab er zu, „aber durchaus nicht über Deine Pariser Lappalien, mein Kind – dort sitzt die Missethäterin!“

Er zeigte auf Gisela.

Diese hob die nachdenklich gesenkten Wimpern und sah ihren Stiefvater befremdet, doch fest und erwartungsvoll an. Sein scharfer Ton würde Alle, die ihn näher kannten, erschreckt haben, auf dem Mädchengesicht aber zeigte sich keine Spur von Besorgniß oder Verlegenheit – und das reizte Seine Excellenz offenbar noch mehr.

„Dein Arzt war eben bei mir und da habe ich schöne Dinge hören müssen,“ sagte er mit schwerer Betonung. „Du widersetzest Dich seinen Anordnungen!“

„Ich bin gesund, seit ich seine Medikamente wegschütte.“

Der Minister fuhr empor – seine Augen öffneten sich weit und funkelten in maßlosem Zorn. „Wie, Du wagst es –“

„Ja, Papa – es ist das eine Art Nothwehr von meiner Seite. Der Mann hat mich zu allen Jahreszeiten im verschlossenen Wagen spazieren fahren lassen – er hat nie geduldet, daß ich auf meinen eigenen Füßen auch nur einmal durch den Schloßgarten gehen durfte – ein Trunk frischen Wassers war mir verboten wie tödtliches Gift. … Als aber Lena vor einem halben Jahr zu kränkeln anfing, da verordnete er ihr vor Allem frisches Wasser, Luft und Bewegung – nun, Papa, nach frischem Wasser, Luft und Bewegung lechzte auch ich – und da der Medicinalrath auf alle meine Bitten nur ein mitleidiges Lächeln hatte, so half ich mir selber!“

„Begreifen Excellenz nun die Schwierigkeit meiner jetzigen Stellung?“ fragte Frau von Herbeck, die während Gisela’s Bekenntnissen ihre Chocolade hatte kalt werden lassen.

Der Minister war längst Herr seiner Aufregung geworden.

„Du hast Dir auch ein Reitpferd angeschafft?“ frug er sehr gelassen, ohne die Bemerkung der Gouvernante zu beachten. Seine Cigarre, die er von allen Seiten betrachtete, schien ihn augenblicklich mehr zu interessiren, als die Antwort seiner Stieftochter.

„Ja wohl, Papa, von meinem Nadelgeld,“ entgegnete das junge Mädchen. „Ich kann nicht gerade sagen, daß ich das Reiten der Damen sehr liebe – allein ich will stark und kräftig werden, und solch’ ein Ritt in der frischen Morgenluft stählt Muskeln und Nerven.“

„Und darf man wissen, weshalb Gräfin Sturm sich à tout prix zur Walkyre ausbilden will?“ examinirte der Minister weiter – das satirische, anziehende Lächeln umspielte seine Lippen.

Gisela’s schöne braune Augen sprühten auf.

„Weshalb?“ wiederholte sie. „Weil gesund sein ,leben’ heißt – weil es mich beleidigt und verletzt, ewig der Gegenstand des allgemeinen Mitleids zu sein – weil ich die letzte Sturm bin! Ich will nicht, daß dies hohe Geschlecht in einem elenden, gebrechlichen Geschöpf endet. … Wenn ich in die Welt eintrete –“

Die Baronin hatte bis dahin Frage und Antwort spöttisch lächelnd, doch vollkommen ruhig mit angehört – in diesem Augenblick aber überflammte eine Scharlachröthe ihr Gesicht.

„Ah – Du willst zu Hofe gehen?“ unterbrach sie das junge Mädchen.

„Sicher, Mama,“ antwortete Gisela ohne Zögern. „Ich muß ja, schon um der Großmama willen – sie ist ja auch zu Hofe gegangen. … Ich sehe sie noch, wenn sie, mit Brillanten bedeckt, Abends in mein Zimmer kam, um mir Adieu zu sagen. … Aber ich habe auch einmal gesehen, wie ihr das Diadem einen tiefen, rothen Streifen in die Stirne gedrückt hatte – ich habe einen wahren Abscheu vor den kalten, schweren Steinen, und es macht mir Angst, zu denken, meine Stellung könnte mich einmal zwingen, Großmama’s Brillanten zu tragen.“

Sie fuhr wie unwillkürlich mit beiden Händen nach dem warmen, weißen Halse, als fühle sie dort bereits das eiskalte, gleißende Diamantencollier.

So sehr auch der Minister seine Züge in der Gewalt hatte, über ein fahles Erbleichen, das bei Erwähnung der Brillanten seine Wangen bedeckte, vermochte er doch nicht zu gebieten. Er schleuderte seine Cigarre als unbrauchbar weit hin über die Wiese und beschäftigte sich angelegentlich damit, eine bessere in seinem Etui zu suchen.

Das schöne Gesicht seiner Gemahlin aber versteinte förmlich in dem Ausdruck finsteren Nachsinnens. Sie rührte unablässig mit dem Löffel in der Chocolade – diese strahlenden Augen senkten sich sonst nie – innere Beschaulichkeit war nicht Sache Ihrer Excellenz – jetzt aber breiteten sich die langen Wimpern wie ein unheimlicher Schatten über die weißen Wangen.

Als ob er nicht eine Silbe von dem Wortwechsel der beiden Damen gehört, sagte der Minister nach einer Pause ganz in dem gütig nachgiebigen Tone, den er früher dem kranken Kinde gegenüber stets festgehalten hatte:

„Ich sehe schon, daß ich unserem guten alten Medicinalrath werde den Laufpaß geben müssen – er imponirt seiner kleinen, eigensinnigen Patientin nicht mehr – und Dich zu irgend etwas zwingen zu wollen, kann mir nicht einfallen, Gisela. … Vielleicht convenirt Dir Doctor Arndt in A. – ich werde ihn kommen lassen, denn, Kind – so himmelstürmende Begriffe Du auch von Deinem Gesundheitszustand hast – Du bist noch lange nicht hergestellt – im Gegentheil, der Medicinalrath prophezeit für die allernächste Zeit einen um so heftigeren Ausbruch Deiner Anfälle, als –“

Er hielt inne und blickte mit gerunzelter Stirne nach der entgegengesetzten Seite des Waldes.

„Gehen Sie doch einmal dort hinüber – ich glaube, es kommen Leute,“ sagte er zu einem herbeigerufenen Lakai.

„Excellenz, der nächste Fußweg nach Greinsfeld geht hier vorüber,“ wagte der Mann vorzustellen.

„Sehr weise bemerkt, lieber Braun – so viel weiß ich auch – will aber nicht, daß die Leute vorbeigehen, wenn ich da bin – es führen noch andere Wege nach Greinsfeld,“ sagte der Minister scharf.


14.

Währenddem war das Menschenkind, dessen Gewand hell durch das Dickicht schimmerte, auf die Wiese herausgetreten – es war das Töchterchen des Neuenfelder Pfarrers.

Gisela sah das Kind daher kommen – einen Moment überschlich sie dasselbe Gefühl, infolge dessen sie vorgestern, wenn auch nur während der Dauer eines Pulsschlags, überlegt hatte, wie sie wohl die Kinder im Kahn beseitigen könne: die Scheu, im Verkehr mit Niedrigerstehenden von Standesgenossen betroffen und von ihnen verurtheilt zu werden – eine feige, erbärmliche Empfindung, welche die Menschenseele entwürdigt und die, seit die menschliche Gesellschaft durch selbsterfundene Schranken sich trennt und zersplittert, zahllose Thränen schwergekränkter und beleidigter Herzen verschuldet hat. …

Aber auch jetzt siegte die ursprüngliche Charakteranlage über [196] die Resultate der Erziehung bei der jungen Gräfin. Sie erhob sich rasch und streckte dem nun pflichtschuldigst vorschreitenden Lakaien abwehrend die Hand entgegen.

„Das Kind darfst Du mir nicht wegschicken, Papa!“ sagte sie sehr entschieden zu dem Minister. „Es ist die Kleine, die vorgestern durch meine Schuld beinahe ertrunken wäre.“

Sie nahm das Kind, das auf sie zulief, bei der Hand und küßte es auf die Stirn. Das allerliebste Geschöpfchen hatte genau das Kindergesicht, wie es der Leser vor zwölf Jahren unter dem Christbaum des Neuenfelder Pfarrhauses in siebenfacher Wiederholung gesehen – rund und rosig weiß wie die Apfelblüthe, und mit einem Paar strahlender Blauaugen, die glückselig zu der jungen Gräfin aufsahen.

„Ich danke auch schön für die vielen, vielen Apfelsinen, die Sie mir geschickt haben!“ sagte die Kleine. „Ach, die riechen so gut! … Und meine blaue Orleansschürze hat die Mama ausgebügelt, und sie ist wieder wie neu! … Die Mama kommt auch – wir gehen nach Greinsfeld; ich bin vorausgelaufen und habe für die Muhme Röder Erdbeeren im Walde gesucht – aber Ihnen geb’ ich sie doch viel lieber als der Muhme.“

Sie hob den Deckel von ihrem Körbchen, das voll duftender Erdbeeren war.

„Ah liebe Gräfin – Ihr sauberes kleines Protegé plaudert ja seltsame Dinge aus!“ rief Frau von Herbeck erbittert herüber. „Ich werde die Südfrüchte für die Zukunft wieder unter meinen Verschluß nehmen – für das gottverlassene Neuenfelder Pfarrhaus sind sie doch wahrhaftig nicht gewachsen! …“

Gisela, die bei dem Verrath der Kleinen ein wenig erschrocken nach der Gouvernante hinübergesehen hatte, wurde glühendroth – trotzdem richtete sie ihre Gestalt hoch auf und maß die kleine, fette, erboste Frau mit einem stolzen Blick.

„Wie thöricht ist es doch, aus Rücksicht auf die Meinung Anderer, es zu verschweigen, wenn man recht handelt!“ sagte sie. „Es war meine Pflicht, mich nach dem Befinden des Kindes erkundigen zu lassen und ihm für den Schreck eine kleine Freude zu machen! … Weil ich aber Ihren Haß gegen das Pfarrhaus kenne, war ich schwach genug, Ihnen den Schritt nicht mitzutheilen. Ich bin bestraft dafür – ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben tief gedemüthigt, denn der Schein der Unwahrheit fällt auf mich! Ohne daß ich eigentlich Böses gewollt oder gethan habe, muß ich mich schämen!“ – abermals ergoß sich die Purpurröthe über ihr Gesicht – „pfui, welch’ eine häßliche Empfindung! … Das soll mir eine Lehre sein, Frau von Herbeck! Ich werde diese feige Rücksicht fallen lassen und künftig vor aller Welt handeln, wie es meinem Verstand und Herzen gut und recht erscheint!“

Damit war der Gouvernante der Fehdehandschuh hingeworfen, aber sie nahm ihn nicht auf. Wortlos, mit bebenden Lippen richtete sie ihre wehmüthig schwimmenden Augen hülfesuchend auf den Minister. Es blieb zweifelhaft, auf welche Seite er neigte – wohl zuckte ein feindseliger Blick unter den halbzugesunkenen Lidern hervor nach der aufrührerischen Stieftochter – allein im freien, offenen Walde waren leidenschaftliche Erörterungen nicht am Platze, um so weniger, als auch jetzt eine Frau auf der Wiese erschien.

Sie trat zwischen zwei Eichen hervor – hoch und gewaltig – das Urbild eines germanischen Weibes. Den runden Hut am Arm, ließ sie den starkgebauten Kopf mit der breiten Stirn und dem blonden, schlichten Scheitel von Luft und Sonnenlicht umfließen.

Einen Moment stutzte sie, als sie die vornehme Gesellschaft um den Frühstückstisch gruppirt sah, allein über die Wiese weg lief ja der schmal niedergetretene Weg, der Gemeingut war, und die scharfe Verwahrung Seiner Excellenz gegen jegliche Störung hatte die Frau nicht hören können.

Sie schritt demzufolge rüstig vorwärts, die Pfarrerin von Neuenfeld.

Ein Zeitraum von über zwölf Jahren lag zwischen heute und jenem verhängnißvollen Weihnachtsabend in der Pfarre. … Die mit jener Stunde auseinander gerissene Kluft zwischen Schloß und Pfarrhaus war seitens der tiefgereizten, feudalen Partei unerbittlich offen erhalten worden – auf der kleinen Waldwiese standen sich die drei Frauen zum ersten Mal wieder gegenüber.

Zeit, Mühen und Sorgen hatten wohl einzelne feine Linien in das helle Gesicht der Pfarrerin gezeichnet, aber das Wangenroth war nicht verlöscht, und die edelkräftigen Bewegungen der Glieder hatten nichts eingebüßt an Elasticität und Festigkeit – kein Wunder! War doch die kerngesunde Seele, die sie leitete und beherrschte, dieselbe geblieben! Am Charakter der Gesammterscheinung waren die zwölf Jahre ebenso spurlos hingeglitten, wie an jenem jungen, schönen, frivolen Weibe, dessen schwarze brennende Augen unersättlich begehrend in die Welt hineinleuchteten.

Das waren zwei Gestalten, die in der Frauenwelt zu allen Zeiten vertreten sein werden – jene Dritte aber, die kleine, fette Frau dort mit den tiefgesenkten Mundwinkeln und den andächtig schwimmenden Augen, gehörte zu den Erscheinungen, welche nur periodisch wiederkehren – ein Typus, der eben nur möglich ist, wenn Kirche und Politik zusammengehen.

Die eingefleischte Weltdame, die vierzig Jahre lang das Bibellesen lediglich als Privilegium beschränkter Frauen und der Armuth angesehen, die den Choral als etwas „Ueberschwängliches“ verachtet hatte und einen gewissen Höhepunkt der Tugend unausstehlich finden konnte – sie hatte einen wahren Harrassprung im äußeren Bekenntniß gemacht. – Dazu gehörte allerdings viel edle Dreistigkeit, aber die Freunde der „Erweckten“ nennen das Inspiration.

Eine Frauenseele kann abirren, kann fallen, ohne ganz den Hort der Religion aus ihrer Brust zu verlieren – und dann ist auch sie nicht die Verlorene – aber ein Weib, das um äußerer Vortheile willen diesen Hort heuchelt, verfällt dem strengsten Richterspruch, denn es treibt frechen Handel mit dem Heiligsten! …

„Mama, das ist die liebe, schöne Gräfin, die schuld ist, daß ich in’s Wasser gefallen bin!“ rief das kleine Mädchen seiner Mutter entgegen.

Gisela lachte wie ein Kind und auch aus den Augen der Pfarrerin strahlte der Humor und die Belustigung über ihr naives Töchterchen – aber sie blieb einen Moment wie angewurzelt vor der jungen Gräfin stehen. Wohl hatte sie das bleiche Gesichtchen des hochgeborenen Kindes zu verschiedenen Zeiten hinter den Glasscheiben des Wagens flüchtig an sich vorüberhuschen sehen – stets hatte sie gemeint, es sei das letzte Mal – und nun hatte ein einziges Jahr die gebrechliche Hülle zu einer lieblichen Mädchenblume umgewandelt.

„Mein Gott, liebe Gräfin,“ rief sie, „Sie sind ja die leibhaftige“ – nein, und wenn auch die Ähnlichkeit zwischen Großmutter und Enkelin eine wahrhaft staunenerregende war – sie konnte unmöglich dieses jungfräulich holdselige Geschöpf, das so liebreich ihr Kind an der Hand hielt, mit jenem Weibe vergleichen, welches einst als Gräfin Völdern in schrankenlosem Uebermuth, bar aller Zucht und Sitte, taub für die Klage der Nothleidenden und unerbittlich und erbarmungslos über zertretene Herzen hinschreitend, auf Erden gewandelt war!

[209] Die Pfarrerin hielt demnach inne und verbesserte sich, indem sie sagte: „Sie sehen ja aus wie die Gesundheit selbst!“

„Mein Kind, es ist Zeit, aufzubrechen!“ rief die Baronin hinüber.

Gisela’s Augen verfinsterten sich – die Stimme der Stiefmutter ging ihr durch Mark und Bein. Die stattliche Frau da vor ihr mit den guten, treuherzigen Augen sollte ja mittels dieser schneidend hochmüthigen Töne fortgescheucht werden.

„Ich nehme die Erdbeeren mit nach Hause, Röschen,“ sagte sie zu dem Kinde, „und morgen kommst Du selbst zu mir und holst das Körbchen, nicht wahr?“

„Im weißen Schlosse?“ fragte die Kleine und schlug die unschuldigen Augen groß auf – sie schüttelte energisch das blonde Köpfchen. „Nein, dahin kann ich nicht kommen,“ entgegnete sie sehr entschieden; „Bruder Fritz sagt, im weißen Schlosse hätten sie den Papa nicht lieb!“

Darauf ließ sich nichts erwidern – Frau von Herbeck haßte in der That den Mann, und Gisela kannte ihn nicht. Das Gesicht der Pfarrerin aber war plötzlich sehr ernst geworden, wenn auch ihr Blick noch mit unverkennbarer Innigkeit an der jungen Dame hing, deren Mund betroffen schwieg.

Sie nahm ihr Kind an die Hand, um ihren Weg fortzusetzen – die Damen da drüben zogen die Handschuhe an, und Frau von Herbeck ließ sich von einem der Lakaien mit großer Ostentation den Spitzenshawl um die Schultern legen. …

Und wenn auch die schöne, junge, hochgestellte Dame dort einst ihr Brod gegessen und unter ihrem Dache Schutz gefunden hatte, die einfache Frau war doch stolz und tactvoll genug, sie nicht mehr zu kennen, da die zwei schwarzen Augen alles Andere, nur sie nicht zu sehen schienen.

Der schräglaufende Weg führte ziemlich hart am Frühstückstisch hin – die Pfarrerin neigte sich höflich im Vorüberschreiten; die Damen erwiderten den Gruß mit einem leichten Kopfnicken, und der Minister lüftete den Hut. … Sei es nun, daß der Sonnenstrahl, der dabei auf seine Stirn fiel, das Steingesicht freundlich belebte, oder blickten die halbgeschlossenen Augen in der That nicht so streng und zurückweisend wie gewöhnlich – genug, die Frau blieb plötzlich wie angewurzelt vor ihm stehen.

„Excellenz,“ sagte sie bescheiden, aber ohne die geringste Furcht oder Befangenheit, das hörte man an ihrer festen, sonoren Stimme – „der Zufall führt mich da vorüber – in’s weiße Schloß wär’ ich nicht gekommen; aber hier im weiten Walde, wo die Luft uns Allen gehört, kommt Einem auch ein Wort leichter auf die Lippen. … Sie dürfen ja nicht denken, daß ich um etwas bitten will – arm sind wir, aber arbeiten können wir auch Alle – Gott sei Dank – rechtschaffen. … Ich will nur fragen, weshalb mein Mann pensionirt worden ist?“ …

„Das fragen Sie am besten Ihren Mann selbst, Frau Pfarrerin!“ entgegnete der Minister spitz.

„Ei, Excellenz, da gehe ich lieber gleich vor die rechte Schmiede und antworte mir selber! … Ich kann es meinem Mann unmöglich zumuthen; denn wenn er der Wahrheit die Ehre geben will, da muß er fügen: ,Ich bin ein Mann, wie er sein soll – demüthig vor Gott und furchtlos vor den Menschen, eifrig und streng in meiner Pflichterfüllung und goldtreu von Gemüth – und muß mich nur wundern Uber die verkehrte Welt, wo bestraft wird, wer nicht gesündigt hat –’“

„Hüten Sie Ihre Zunge, Frau!“ fiel der Minister mit kalter Stimme ein und hob drohend den Zeigefinger – Frau von Herbeck aber kicherte unbeschreiblich maliciös auf – „eifrig und streng in der Pflichterfüllung!“ wiederholte sie, wenn auch mehr wie für sich – eine direkte Einmischung war doch zu sehr gegen die Etikette.

Das satanische Hohngelächter traf das Herz der Pfarrerin wie ein Messerstich; die rebellischen Blutwellen schossen ihr in’s Gesicht und die blonden, starken Brauen falteten sich finster – allein diese Frau ließ sich niemals fortreißen.

„Gnädige Frau,“ sagte sie, gelassen den Kopf nach der Dame umwendend, „Sie sollten nicht so lachen – ich mein’ sonst wirklich, die Neuenfelder Leute haben Recht, wenn sie sagen, Sie hauptsächlich hätten meinen Mann um’s Amt gebracht – einer Frau steht das Verfolgen gar nicht schön an!“

Jetzt war es um die letzte Etikettenrücksicht der Gouvernante geschehen! Den andächtigen Augen stand im Dienst des Herrn noch weit mehr verächtlicher Grimm zu Gebote, als ehemals der feudalen Weltdame.

„Was liegt mir an Ihrer Meinung?“ rief sie. „Denken Sie immerhin, was Sie wollen – das soll mich durchaus nicht abhalten, Nattern zu zertreten, wo ich sie treffe!“

„Sie vergessen sich, Frau von Herbeck!“ rief der Minister. Er streckte ihr Schweigen gebietend die bleiche Hand entgegen.

„Liebe Frau, die langen Auseinandersetzungen sind gegen mein Princip,“ wandte er sich mit der ganzen vernichtenden Kälte des gereizten Gewalthabers an die Pfarrerin zurück. „Ich hätte [210] viel zu thun, wenn ich meine Maßregeln den Betreffenden stets in eigener Person erschöpfend motiviren wollte. … So viel will ich Ihnen aber sagen, daß die gerühmte Pflichterfüllung sehr, sehr viel zu wünschen übrig gelassen hat. Wir haben Alles gethan, den Mann aus seinem alten Schlendrian aufzurütteln – es war verlorene Mühe. Er hat sich jeder heilsamen Reform auf kirchlichem Gebiet mit konsequentem Starrsinn widersetzt – jetzt ist es freilich offenbar geworden, weshalb: das Observiren des Sternenhimmels war ihm interessanter, als das gewissenhafte Studium der alten Kirchenväter – wir können aber keinen Pfarrer brauchen, der ein solches Steckenpferd reitet, liebe Frau –“

„Und der Pfarrer in Bodenbach, der von seinem Bienenstand weggeholt werden muß, wenn er predigen soll?“ warf die Pfarrerin fragend ein, und ihr durchdringendes, kluges blaues Auge wich nicht von dem Marmorgesicht Seiner Excellenz.

Er stand auf und klopfte die Frau mit einem impertinenten Lächeln auf die Schulter.

„Ei, meine liebe Frau Pfarrerin,“ sagte er, „der Pfarrer von Bodenbach hat stündlich das Bild der Kirche in seinem Bienenstand vor Augen – die einmal gegebenen Satzungen werden herrschen, so lange es eben Bienen giebt, und Königin wie Arbeiter unterwerfen sich widerspruchslos allen ihren Forderungen … Ich kann Ihnen versichern, der Pfarrer von Bodenbach ist der wackerste Seelsorger weit und breit, er bleibt – bei seinem Leisten!“

„O du grundgütiger Gott, also ist’s doch wahr!“ rief die Pfarrerin und schlug die Hände zusammen. „Weil es da droben in den Sternen nicht ganz so aussieht, wie es die heilige Schrift besagt, so sollen nun auch die Menschen nicht mehr hinaufsehen! Sie sollen denken, der große allmächtige Gott mache sich die Kurzweil, am Abend bunte Lichterchen am Himmel lediglich für seine kleinen Erdenwürmer anzuzünden! Sie sollen sich auf einmal einbläuen, weiß sei schwarz und zweimal zwei fünf! … Und wenn sie dies Alles thun wollten, hat es etwas zu schaffen mit der Lehre unseres Herrn und Heilandes? Schlagen sie die Lehre von Gottes Allmacht und Weisheit nicht selbst in’s Gesicht, wenn sie seine Werke verkleinern und mangelhaft machen, nur um des Buchstabenglaubens willen?“

Sie schöpfte tief Athem, dann fuhr sie fort:

„Wird die Bibel nicht der lebendige Quell des Trostes und Segens für alle Zeiten bleiben, wenn ihr auch hie und da menschliche Irrthümer ankleben? … Wer auch nur ein einziges Mal im Kummer nach ihr gegriffen hat, der weiß, daß sie ewig ist. Die also um des angefochtenen Buchstabens willen für sie zittern, die kennen ihren Geist nicht! … Excellenz, ich bin eine schlichte Frau, aber so viel hab’ ich stets begriffen, daß sich das Gleichniß vom Hirten und der Heerde nur auf die Zusammengehörigkeit in der christlichen Liebe bezieht – niemals aber auf den Stock des Hirten und auf den Pferch, in welchem die Schafe zusammengehalten werden sollen. … Und in dem Sinne steht mein Mann auf der Kanzel und in seiner Gemeinde, und sie haben ihn Alle herzlich lieb; die Kirche ist immer gefüllt, und wenn er auf Gottes Wunderwerke zu reden kommt, die er selbst erforscht in der tiefen, stillen Nacht, da kann man eine Stecknadel fallen hören in der ganzen, weiten Kirche –“

Bis dahin hatten Alle die Frau schweigend gewähren lassen, jetzt aber lachte Frau von Herbeck laut auf.

„Und bei diesen Forschungen in der tiefen, stillen Nacht secundirt ihm der alte Knasterbart, der Freigeist, der Soldat Sievert! Schöne Gesellschaft für einen Diener des Herrn!“ rief sie mit einer Art von wildem Triumph. „Excellenz, die Frau hat sich selbst gerichtet – sie ist Rationalistin durch und durch!“

„Den alten Sievert dürfen Sie mir nicht antasten, gnädige Frau!“ entgegnete die Pfarrerin stirnrunzelnd und hob protestirend die Hand gegen die Dame – den boshaften Angriff auf sie selbst ignorirte sie völlig. „Das ist ein braver Mann, der sich sein Leben lang aufgeopfert hat für Andere – er hat somit mehr Religion im Herzen, als Manche, die sie auf der Stirn und auf den Lippen tragen! … Kennt ihn Eines, so bin ich’s – er hat in meinem Hause gelebt, seit der wackere Hüttenmeister verunglückt ist. Damals kam er wie wahnsinnig vor Schmerz und suchte und fand Trost in der Pfarre. Und jetzt noch, nach elf Jahren, wo Niemand mehr an das schreckliche Unglück denkt –“

Das Gesicht der Baronin überflog eine momentane Blässe, und der Löffel, mit welchem ihre Hand mechanisch gespielt hatte, fiel klirrend auf die Tasse zurück – die schwarzen, funkelnden Augen aber hefteten sich drohend auf die Sprecherin – der Minister kam ihr zu Hülfe.

„Gute Frau, Sie haben vorhin gesprochen wie ein Buch!“ unterbrach er, als habe er gar kein Verständniß für ihre letzten Worte, mit beißender Ironie die Pfarrerin. Er zuckte die Achseln. „Es thut mir leid um die verlorene Mühe,“ fuhr er fort, „aber ich kann gar nichts thun und muß der Sache ihren Lauf lassen!“

„Ich verlange auch nichts, Excellenz, gar nichts!“ antwortete sie, indem sie das Händchen ihres Kindes wieder fest in die ihre nahm. „Es wird uns Allen zwar sehr schwer ankommen, den Stab weiter zu setzen und fortzugehen aus dem Neuenfelder Thal, wo wir einundzwanzig Jahre lang Glück und Unglück, Freud und Leid mit vielen guten Menschen redlich getragen haben –“

„Nein, Sie sollen nicht fortgehen!“ rief Gisela und trat neben die Frau. Ihre braunen Augen brannten – sie erschienen in diesem Moment fast dunkler, als die schönen, schwarzen der Stiefmutter, die sich in wortlosem Grimm starr auf ihr Gesicht hefteten – „Kommen Sie zu mir nach Greinsfeld!“ sagte sie fest.

„Gräfin!“ rief Frau von Herbeck und sank, die Hände zusammenschlagend, an die Stuhllehne zurück.

„Seien Sie ohne Sorge, gnädige Frau,“ sagte die Pfarrerin mildlächelnd zu der entsetzten Gouvernante, während sie Gisela’s dargebotene Hand herzlich drückte. „Ich nehm’ es nicht an, schon um der Gräfin selbst willen nicht! … Gott segne ihr gutes Herz! Sie soll nie eine trübe Stunde haben, am allerwenigsten aber um meinetwillen! … Aber Ihnen, Frau von Herbeck, sage ich noch Eines,“ fügte sie tiefernst hinzu und hob fast feierlich den Zeigefinger. „Der Mann geht, den Sie ,wie eine Natter zertreten’ haben. Sein Beruf ist ihm genommen worden, und das trifft ihn tausendmal härter, als wenn er Mangel leiden müßte. … Es ist eben eine Zeit, wo Sie Alles wagen können, denn Sie werden beschützt! … Aber glauben Sie ja nicht, weil Sie jetzt die Wahrheit unter den Füßen haben, daß es auch so bleibt! … Sehen Sie sich Neuenfeld an! Da wächst der Geist, den Sie niedertreten wollen, mit jeder Stunde! Und wenn Sie mit Keulen d’rauf schlagen, Sie bringen ihn nicht unter, er verschlingt Sie doch zuletzt, denn er hat das ewige Leben – er geht ja mit der Liebe zusammen, die das Christenthum zu allererst predigt. … Setzen Sie immerhin den alten Teufel mit seiner Hölle wieder ein, stellen Sie ihn vermessen dem lieben Gott gegenüber, bauen Sie ihm einen Thron, höher als den, auf welchem der Allmächtige sitzt – es hilft Ihnen Alles nichts – Sie machen eine Leiche nicht wieder lebendig!“

Sie verbeugte sich gegen den Minister und die junge Gräfin und ging.

Seine Excellenz sah ihr sprachlos nach – diese Kühnheit überstieg alle Grenzen; und er hatte nicht einmal Gelegenheit, die Frau zu strafen – er konnte ihren Mann doch nicht zweimal pensioniren. … Das sah einer Niederlage sehr ähnlich – in solchen Fällen aber hatte Seine Excellenz nie anders gewollt. Er setzte sich demnach sehr gelassen nieder und zündete seine erloschene Cigarre aufs Neue an.

Frau von Herbeck, deren bleichgewordene Lippen im tiefsten Zorn bebten, warf ihm einen heimlichen Blick voll Gift und Galle zu – in diesem Augenblick war doch die berühmte diplomatische Ruhe wahrhaftig nicht am Platze!

„Ein unverschämtes Weib!“ stieß die Baronin heftig hervor. „Und das wirst Du ungestraft hingehen lassen, Fleury?“

„Ei was – laß sie laufen!“ entgegnete er verächtlich.

Er lehnte sich behaglich zurück und ließ einige blaue Duftringel seinen Lippen entschweben, während er mit einem sarkastischen Blick seine Stieftochter von Kopf bis zu Füßen musterte – sie stand noch mit allen Zeichen tiefster Erregung vor ihm.

„Nun, meine Tochter,“ sagte er ironisch lächelnd, „Du warst ja eben im Begriff, Dein altes Greinsfelder Patronatsrecht zum Besten des fortgeschickten Pfarrers aufzufrischen! … Toleranz ist eine schöne Sache, aber neu und pikant wäre es doch, wenn sich die katholische Gräfin Sturm von einem protestantischen Geistlichen die Messe lesen ließe!“

Gisela hielt die gefalteten Hände fest gegen die Brust gedrückt, als wolle sie das Klopfen ihres Herzens beschwichtigen.

„Das ist mir nicht eingefallen, Papa!“ entgegnete sie mit [211] gepreßter Stimme. „Ich wollte den armen Vertriebenen - eine Heimath geben und ihr Leben sorgenfrei machen!“ –

„Sehr großmüthig, meine Tochter,“ spottete der Minister, „wenn auch ein wenig tactlos, da ich es bin, der sie ‚vertrieben‘ hat, wie Du beliebst Dich auszudrücken.“

„O liebe Gräfin, haben Sie sich wirklich durch das Lügengewebe bethören lassen?“ rief Frau von Herbeck.

Bei diesen Tönen voll Hohn und Haß brach die mühsam behauptete Fassung des jungen Mädchens zusammen.

„Das Lügengewebe?“ wiederholte sie, und ihre Augen flammten. „Die Frau sprach die Wahrheit!“ fuhr sie entschieden fort. „Da war auch nicht ein Wort, das mich nicht bis in’s innerste Herz getroffen hätte! … Wie kindisch lenksam und unerfahren bin ich bis jetzt gewesen! Ich habe Menschen und Dinge mit Ihren Augen angesehen, Frau von Herbeck – ich war denkfaul und blind! Das ist ein bitterer Vorwurf, den ich mir machen muß! –“

Sie schwieg plötzlich, ihre Lippen legten sich fest aufeinander. Sie hatte einen tiefen Abscheu vor aller aufbrausenden Heftigkeit – und jetzt strömten ihr die Worte über die Lippen, ihr Klang fiel zündend auf ihr Herz zurück und riß sie fort – das durfte nicht sein. Sie preßte einen Moment die schmalen Hände gegen die Schläfe, dann ergriff sie ihren Hut.

„Papa, ich fühle, daß ich aufgeregt bin,“ sagte sie mit ihrer süßen Stimme, in welcher bereits der sanfte Klang wieder vorherrschte. „Darf ich mich ein wenig in den Wald zurückziehen?“

Der Minister schien mit der „gereizten“ Stieftochter dieselbe Nachsicht zu haben, wie einst mit dem kranken Kind. Er hatte sie mit keinem Wort, keiner Bewegung unterbrochen, und jetzt winkte er ihr väterlich gütig und gewährend mit der Hand.

Sie schritt über die Wiese in den Wald hinein.

„Sie sind alt geworden, Frau von Herbeck!“ sagte Seine Excellenz beißend und schonungslos zu der erbleichenden Gouvernante, als das blaue Kleid hinter dem Gebüsch verschwunden war. „Da machen sich andere Zügel nöthig! …“


15.

Gisela schritt am Seeufer hin. Sie hielt den Strohhut in der rechten, während ihre linke Hand mechanisch das niedrige, elastische Ufergebüsch durch die Finger gleiten ließ. Der schwache Morgenwind, der das blonde Haar der jungen Dame leise hob, kräuselte auch die sonnenfunkelnde Wasserfläche – sie schien besä’t mit zahllosen, flatternden und pickenden goldenen Vögeln.

Droben huschte der scheue, gelbglänzende Kirschpirol durch die Aeste und flötete einzelne abgebrochene Cadenzen – auch ein erschrockener Frosch, der seinen fleckigen Leib auf einem der weißgebleichten Uferkiesel gesonnt hatte, plumpte klatschend in’s Wasser – sonst war es lautlos ruhig auf dem See und in den Wipfeln, und nur die schwarze Hummel, den kleinen, zottigen Pelz voll gelben Blüthenstaubes, zog durch das hohe, geschonte Ufergras, und ihr monotones Surren und Summen machte die Waldstille noch traumhafter.

Die braunen Augen der jungen Dame blickten finster – sie hielt Einkehr in sich selbst. Die einfache Pfarrersfrau hätte kräftig an dem Boden gerüttelt, auf dem sie bis jetzt selbstbewußt, mit festem Fuß gestanden. … Sie hatte, so lange, sie denken konnte, nur mit dem kalten, erwägenden Verstande gelebt. War ja einmal das Herz zum Durchbruch gekommen, dann hatten die drei Menschen, die sie eben auf der Waldwiese verlassen, sofort den Schatten der Großmama heraufbeschworen, und mit der Erziehungsdevise: „Es schickt sich nicht für Dich!“ war der Riegel vor die aufbrechende Gefühlswelt geschoben worden.

„Der Geist in Neuenfeld geht mit der Liebe zusammen, die das Christenthum zu allererst predigt!“ hatte die Pfarrerin gesagt – das war’s! … Nahezu achtzehn Jahre hatte das junge Mädchen gelebt und nie einen Menschen lieb gehabt! In ihrer Großmutter hatte sie zu allen Zeiten den Inbegriff der Erhabenheit verehrt, aber niemals war ihr als Kind das Verlangen gekommen, die kleinen Arme um den schönen, weißen Hals der stolzen Frau zu legen – jetzt noch schlug ihr das Herz ängstlich bei dem Gedanken, wie wohl eine solche „Zudringlichkeit“ würde aufgenommen worden sein. … Und wie sie sie der Reihe nach musterte, mit denen sie ausschließlich ihr junges Leben verbringen mußte – Seine Excellenz mit dem eiskalten Gesicht und undurchdringlichen Blick, die schöne Stiefmutter, die kleine, fette, fromme Frau, den Arzt, Lena – da schauerte sie selbst unter der tödtlichen Kälte und Feindseligkeit, mit denen sie ihnen stets und immer gegenüber gestanden – und das wurde nie anders! …

Denkfaul und blind hatte sie sich selbst genannt, und mit allem Recht. … Sie hatte ihren Puß zärtlich geliebt, sie konnte eine schöne Blume inbrünstig an ihre Lippen drücken – nie aber war die Betrachtung in ihr aufgestiegen, ob es wohl auch Menschen gäbe, die man so lieb haben könne … Ganz von selbst, fast zu ihrem eigenen Erschrecken, war die unbekannte Knospe in ihrem Gemüth vor wenig Augenblicken gesprungen – sie hätte an das Herz der kraftvollen, muthigen Frau flüchten und sie bitten mögen: „Habe mich auch lieb!“

In Neuenfeld waltete die Liebe. Sie baute den Bedürftigen Häuser, gab ihnen geistige und leibliche Nahrung und machte ihr Leben sonnenlicht; sie nahm die Verwaisten schützend in ihre Arme und ersetzte ihnen Vater und Mutter – und der diese Liebeswerke auf deutschem Boden schuf, er war ein Fremder – und sie, die reiche Erbin, fuhr täglich an den elenden Baracken ihrer Greinsfelder Gutsangehörigen, an den zerlumpten, verwilderten Kindern der letzteren vorüber, ungerührt, in der von Kindesbeinen an fest eingeprägten Ueberzeugung, daß es so und nicht anders sein müsse.

Der Mann im Waldhause mit der finsteren Stirn und den räthselhaften Augen hatte Recht, wenn er sie verachtete, wenn er das durch die Gouvernante in ihrem Namen hochmüthig gebotene winzige Scherflein mit dem Fuße fortgestoßen.

Gisela blieb einen Moment wie athemlos stehen – eine Feuerflamme schlug über ihr Gesicht, und ihr Herz klopfte so stürmisch, daß sie meinte, es hören zu können. … Sie dachte an jenen Augenblick, wo er scheu vor ihr zurückgewichen war, um ihres vermeintlichen Gebrechens willen – sie dachte an die sprachlose Bewunderung, mit der sein Auge an dem schönen Gesicht der Stiefmutter gehangen hatte. …

Sie schritt längst nicht mehr am Ufer hin – die tiefe Waldesnacht hatte sie umfangen. Der Pirol schwieg, und die surrenden Hummeln waren an den Blüthenkelchen des sonnigen Ufers hängen geblieben. Weit, weit, da drüben lag die kleine Lichtung mit dem silberschimmernden Frühstückstisch und den Menschen, die jedenfalls noch zu Gericht saßen über das unschickliche Benehmen der Gräfin Sturm.

Plötzlich hob das junge Mädchen den nachdenklich gesenkten Kopf und horchte – das Weinen eines kleinen Kindes drang, wenn auch aus ziemlich weiter Entfernung, zu ihr herüber. Es klang so verlassen und hülflos, so ununterbrochen, als fehle eine beschwichtigende Stimme gänzlich.

Gisela nahm ohne Weiteres ihr Kleid zusammen und drang quer durch das Dickicht, dem Schalle nach. Sie kam an den Holzweg, der von Neuenfeld nach A. führte – und da kauerte ein Weib mit geschlossenen Augen, in todtenähnlichem Zustande, am Stamm einer Buche.

Es war eine jener armen sogenannten Porcellanfrauen, die Jahr aus, Jahr ein nach Brod gehen müssen. Sie kaufen den Ausschuß in den Porcellanfabriken hoch auf dem Thüringerwald um ein Billiges und schleppen die Last oft viele Meilen weit in’s Land hinab, um sie unten gegen kärglichen Gewinn wieder zu verhandeln. Den schweren Korb, auf dem Rücken, das kleinste Kind auf dem Arm, und öfter auch noch ein größeres an der, Hand, wandern die armen Kreuzträgerinnen mit wunden Füßen durch Wind und Wetter – elender noch als das Lastthier; denn sie leiden nicht allein sie sehen ihre Kinder frieren und hungern. …

Die Frau war offenbar aus Erschöpfung ohnmächtig geworden. Der Korb mit dem Geschirr stand neben ihr, und der kleine Schreihals, ein Bübchen von vielleicht acht Monaten, hockte auf ihrem Schooße. Die Augen des Kindes waren vom Weinen dick verschwollen, aber seine heiser geschrieene Stimme schwieg sofort, als Gisela neben die Frau trat.

Die junge Dame sah mit angstvollen Augen auf die Bewußtlose und nahm bebend die kalten, schlaffen Hände zwischen die ihrigen. … Hier sollte und mußte sie Hülfe schaffen – aber wie? … Da stand kein vielseitiger, gewandter Lakai in der Nähe, [212] der pflichtschuldigst in allen möglichen Lagen Rath wissen mußte; weit und breit war keine menschliche Stimme, kein Fußtritt zu hören – keine stärkende Essenz, nicht einmal ein Glas frischen Wassers stand der rathlosen jungen Dame zu Gebote. Dabei befand, sie sich auf völlig fremdem Terrain – ihre eigenmächtigen, einsamen Waldwanderungen hatten immer nur den See zum Ziel gehabt. Es half nichts, sie mußte nach der weitentlegenen Waldwiese zurücklaufen.

Zu demselben Augenblick war es ihr, als höre sie das Plätschern eines Brunnens. Sie schritt sofort den Holzweg entlang und kam dem Geräusch immer näher. Rechts zweigte sich ein schmaler Weg durch das Unterholz ab; sie betrat ihn ohne Zögern – er führte sicher in Menschennähe.

Hinter ihr schrie das Kind jäh auf, als sie seinen Augen entschwunden war – sie beschleunigte angstvoll ihre Schritte und stand plötzlich der hochaufspringenden Fontaine des Waldhauses gegenüber. Sie fuhr heftig zusammen und trat unwillkürlich in’s Gebüsch zurück.

In diesem grünumsponnenen, alterthümlichen, grauen Hause, „halb der Wohnsitz eines Märchenprinzen und halb der eines nordischen Barbaren“, wie sich die schöne Stiefmutter ausgedrückt hatte, wohnte der Portugiese – er konnte jeden Augenblick dort in die weitoffene Thür treten. … Um Alles mochte sie den zwei Augen nicht wieder begegnen, die vorgestern so finster und kalt strafend auf ihr geruht und heute wieder scheu, in Abneigung sich von ihr gewendet hatten. …

Dort quoll das belebende Naß, das sie so angstvoll suchte, aber aus dem Murmeln und Plätschern schollen ihr dunkle, strenge, zurückweisende Stimmen entgegen – jeder der funkelnden Tropfen schien kältend auf ihr Herz zu fallen – sie schauerte in sich zusammen – und dennoch mußte sie das schützende Dickicht verlassen; das ferne klägliche Weinen des Kindes trieb sie unwiderstehlich vorwärts.

Sie verließ den Waldboden und erschrak auf’s Neue über den Kies, der unter ihren leichten Tritten knirschte. … Todtenstille herrschte um das Haus – auf den Spiegelscheiben glitzerte die höher emporsteigende Sonne, und die losen Ranken der Aristolochia bewegten sich leise hin und her im schwachen Windhauch – kein Menschenantlitz ließ sich hinter den Fenstern sehen. Vielleicht war der Herr des Hauses in Neuenfeld – er sollte ja unermüdlich thätig sein. Irgend einer von der Dienerschaft aber verstand sich gewiß dazu, sie zu begleiten und dem armen Weibe beizustehen.

Ermuthigt schritt sie bis an den Fuß der Treppe, die auf die Terrasse führte, doch mit einem leisen Aufschrei fuhr sie zurück – der Papagei, der sich bis dahin mäuschenstill verhalten hatte, stieß ein mißtönendes Krächzen aus, und der kleine Affe sprang zähnefletschend, mit einem ungeheuren Satze von seinem Lieblingsplatz herab – es wurde unheimlich lebendig um das junge Mädchen her.

Ihr Schrei mußte im Hause gehört worden sein – ein alter Mann trat mit forschenden Augen aus der Halle, blieb aber bei Gisela’s Anblick, als sähe er ein Gespenst, wie festgewurzelt auf der Terrasse stehen.

Die junge Dame hatte wenig Gelegenheit gehabt, physiognomische Studien zu machen, allein das wußte sie sofort – der Mann dort stand ihr gegenüber wie ein ergrimmter Feind. Haß und schreckhafte Ueberraschung spiegelten sich auf dem dunklen, harten Gesicht. Er streckte ihr abwehrend die großen, knochigen Hände entgegen und rief rauh hinab:

„Was wollen Sie? … In dem Hause hier haben Sie gar Nichts zu suchen! Es hat mit den Zweiflingen und dem Fleury nichts, mehr zu schaffen!“ – Er zeigte nach einem der schmalen Waldpfade zur linken Hand. „Dorthin führt der Weg in’s Arnsberger Holz!“ fügte er hinzu, als gehe er von dem Wahn aus, sie habe sich verirrt.

Wie zu Stein erstarrt blickte das junge Mädchen mit entsetzten Augen zu dem unheimlichen Mann auf. Eine dunkle Erinnerung aus ihrer Kinderzeit stieg in ihr empor – sie wurde in diesem Augenblick zum zweiten Mal von der Schwelle des Waldhauses fortgewiesen. … Eine unsägliche Furcht überschlich Ihr Herz, aber das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern kreiste nicht umsonst in ihren Adern – es schoß ihr siedend nach dem Kopfe; und wenn sie auch am liebsten spornstreichs in den schützenden Wald zurückgeflüchtet wäre, so fand sie doch den Muth, die äußere Ruhe zu behaupten.

Sie maß den alten Mann mit einem stolzen Blick, und ihre Mundwinkel senkten sich genau in jener hochmüthig verächtlichen Weise, mit welcher einst die Gräfin Völdern manchem Herzen den Todesstoß versetzt hatte.

„Ich habe nicht daran gedacht, dieses Haus zu betreten!“ sagte sie schneidend und wandte ihm den Rücken – sie wollte sich langsam entfernen – aber durfte sie gehen, ohne Hülfe mitzubringen? … Es kostete ihr eine unsägliche Ueberwindung, noch einmal zurück in das Gesicht des schrecklichen Mannes zu sehen – aber sie that es – die Lehre von der Liebe, die sie heute in ihr Herz aufgenommen, ließ sich nicht wieder verlöschen.

„Ich lasse Ihre Herrschaft um ein Glas bitten, damit ich dort Wasser schöpfen kann!“ sagte sie in demselben gebieterischen Ton, mit welchem sie im weißen Schlosse zu befehlen gewohnt war, und deutete nach dem Springbrunnen.

„Holla, Frau Berger!“ rief der Mann in das Haus zurück, ohne jedoch seine Stellung im Mindesten zu verändern – er stand dort, als gelte es, die Schwelle mit dem feurigen Schwerte zu hüten.

Eine stattliche Frau mit weißer Haube und Schürze jedenfalls die Haushälterin – erschien im Hintergrund der Halle.

„Ein Trinkglas!“ rief ihr der Alte zu.

Sie verschwand wieder.

„Was giebt es, Sievert?“ fragte plötzlich in der Halle die Stimme des Portugiesen.

Der alte Soldat erschrak sichtlich – fast schien es, als hüte er die Thür so ängstlich wegen des Mannes da drinnen. Er streckte hastig und abwehrend die Hand gegen das Haus, aber da stand der Portugiese bereits auf der Schwelle.

Er sah bleich aus – „kreideweiß vor Schmerz um den erschossenen Hero“ hatte vorhin der Diener auf der Waldwiese gesagt. Als jedoch seine Augen auf Gisela fielen, die noch, mit Stolz und Hochmuth umgürtet, am Fuß der Treppe stand, da flog eine tiefe Gluth über das braune, männliche Gesicht. In diesem Moment jäher Ueberraschung zeigten seine Züge nichts weniger als Abscheu und Verachtung – das dunkle, menschenfeindliche Gepräge der Stirn freilich schien unverwischbar, aber die Augen leuchteten, wenn auch nur meteorartig, in einem eigenthümlichen Glanze auf.

Unter diesem Blick verwandelte sich Gisela’s Haltung sofort. Sie verlor fast unbewußt den Schild des Trotzes und der Entrüstung und stand plötzlich wieder dort, wie sie gekommen – als junges, scheues, hülfeheischendes Mädchen. … Wie infolge einer Eingebung hob sie die Hände zu ihm empor.

Diese eine Bewegung brachte den alten Soldaten völlig außer sich.

[225] „Hüten Sie sich, Herr!“ rief Sievert und legte seine Hand ohne Weiteres warnend und zurückhaltend auf den Arm des Portugiesen. „Das ist sie, wie sie leibt und lebt! … Es fehlt nur die kleine rothe Schlange am Halse – sonst steht sie wieder da mit dem weißen Gesicht und den langen Haaren, die elende Erbschleicherin! …. So hob sie auch die Hände, und – mein Herr war ein verlorener Mann! … Sie freilich modert, und ihre fluchwürdigen Hände können kein Unheil mehr anrichten – aber ihre Brut lebt fort!“ – Er zeigte auf das todtenbleiche junge Mädchen – wie eine der alttestamentlichen Gestalten, die den Fluch ihres Gottes herabbeschwören, stand der alte Mann mit dem finster dräuenden Gesicht auf der Terrasse. „Sie ist nicht um ein Haar besser,“ fuhr er mit erhobener Stimme fort; „ihr Herz ist kieselhart! Sie ist gefühllos wie ein Stein gegen ihre Leute und fragt den Henker danach, ob die Menschen um sie her vor Hunger wie die Mücken umfallen! … In Greinsfeld und Arnsberg wird für die Armen gebetet, aber sie satt zu machen, das fällt Niemand ein! … Herr, lassen Sie sie nicht über die Schwelle! Wo das Geschlecht seinen Fuß hinsetzt, da geht Unheil auf!“

Die junge Gräfin schlug die zitternden Hände vor das Gesicht und floh, aber schon nach wenigen Schritten fühlte sie sich zurückgehalten – der Portugiese stand vor ihr und nahm ihr die Hände sanft vom Gesicht.

Er schrak zurück vor dem blutlosen Mädchengesicht, das die Augen in Schmerz und Entsetzen zu ihm aufschlug. Vielleicht fühlte er für einen Augenblick Erbarmen – er hielt ihre Hände mit pressendem Drucke fest und zog sie jäh gegen sich, als wolle er sie schützend an seine Brust nehmen – aber genau mit demselben scheuen Zurückweichen, wie vorhin auf der Waldwiese, ließ er sie rasch wieder sinken.

„Sie hatten einen Wunsch, Gräfin; ich sah es an Ihrem Gesicht!“ sagte er mit unsicherer Stimme. „Darf ich ihn nicht mehr hören?“

Gisela hüllte ängstlich die verabscheuten Hände in die Falten ihres Muslinkleides.

„Im Walde liegt eine arme Frau,“ flüsterte sie tonlos. „Sie ist wahrscheinlich vor Erschöpfung umgesunken – ich kam an dies Haus, um Hülfe für sie zu suchen.“

Dann schritt sie mit niedergeschlagenen Augen an ihm vorüber – dem Walde zu. … Sie war vernichtet – die Beschuldigungen des alten Mannes hatten sie wie Keulenschläge[WS 1] getroffen …

War das dieselbe junge Dame, die vorgestern mit stolzem Nachdruck alle ihre hohen Titel hergezählt und mit ihnen betont hatte, daß sie unter allen Umständen die Hochgeborene bleibe? … Wo war das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern, das ihr eben noch überwältigend nach den Schläfen gebraust war und ihrem Gesicht den Ausdruck hochmüthiger Verachtung ausgeprägt hatte? – Seine Elemente bestanden aus Ehrbegier, Herrschsucht und Egoismus – es bäumte sich gegen jegliche äußere Verletzung seiner Hauptthesen – aber der edlen Sprache des Gewissens gegenüber schwieg es und sank mit all’ seinem hohlen Phrasenthum kläglich zusammen.

Die arme Frau war während Gisela’s Abwesenheit zum Bewußtsein gekommen; sie sah die zurückkehrende junge Dame mit vollem Verständniß an, aber sprechen konnte sie noch nicht und war außer Stande, sich zu erheben. Den kleinen Jungen hatte es jedenfalls beschwichtigt, die Augen der Mutter offen zu sehen – er schrie nicht mehr, sondern streichelte lallend und unbeholfen mit den dicken Händchen das blasse Gesicht des Weibes.

Gisela hörte Männerschritte vom Waldhause herkommen – sie wußte die Hülfe nahe, und nun wollte sie, ohne noch einmal den Kopf umzuwenden, weitergehen; denn bei aller Zerknirschung kam jetzt doch auch ein anderes Gefühl mächtig zum Durchbruch: der weibliche Stolz. … Und wenn auch der Neuenfelder Wohlthäter, der Menschenfreund, allen Grund hatte, sie zu verurteilen – er durfte doch nicht gestatten, daß sein Diener sie beleidigte. … Aber er hatte das furchtbare Anathem des schrecklichen alten Mannes mit keiner Silbe gerügt – es war offenbar zu sehr im Einklang mit seiner eigenen Anschauung gewesen, und obgleich ihn ein momentanes Bedauern überschlichen, er hatte doch die bittere Lehre für die hartherzige Gräfin Sturm ganz am Platze gefunden und sie in keiner Weise zu mildern gesucht.

Jetzt schwoll das Herz des jungen Mädchens in Bitterkeit, und von diesem Gefühl überwältigt, verließ es die Unglückliche in dem Moment, wo der Portugiese in Sievert’s Begleitung herzutrat. Der alte Soldat trug verschiedene Erquickungen auf einer Platte, aber kaum hatte das Kind das alte, finstere, bärtige Gesicht erblickt, als es auch gellend aufschrie und zitternd vor Furcht das Köpfchen an die Brust seiner Mutter drückte.

Gisela blieb erschrocken stehen – die Augen des hülflosen Weibes ruhten angstvoll auf ihr; sie verstand die stumme Bitte sofort und kehrte zurück. Einige Erdbeeren, die am Wege standen, pflückte sie und hielt sie dem Kinde hin – es lachte unter Thränen und ließ sich gutwillig von ihr auf den Arm nehmen. … Dieser [226] eine Augenblick entsühnte ihre ganze liebeleere Vergangenheit, ohne daß sie es wußte – sie gab das tiefbefriedigende Recht der Wiedervergeltung auf gegenüber dem Mitleiden, der Barmherzigkeit.

Der Portugiese schien es anders aufzufassen – er griff rasch nach dem Kind, um es von ihrem Arm zu nehmen. Seine dunklen Augen hefteten sich durchdringend auf ihr Gesicht.

„Das schickt sich nicht für Sie, Gräfin Sturm!“ sagte er – wie schneidend klang die so oft gehörte Phrase aus diesem Munde! Seine Stimme hatte genau jenen eiskalten Klang mit der Beimischung von Hohn, wie vorgestern. „Sie halten Ihr Wort schlecht!“ fuhr er fort. „Ich hörte, wie Sie vorgestern versprachen, sich nie mehr in der Weise vergessen zu wollen. … Sie sind auf dem gefährlichen Weg der Verheimlichung – denn Sie können doch unmöglich im weißen Schlosse erzählen, daß Sie das Kind auf dem Arme gehabt haben!“

Er erinnerte sie an jenen schwachen Moment, wo sie sich der kleinen unschuldigen Gesellschaft im Kahn geschämt und mit ihrem Versprechen zugegeben hatte, daß sie die lieblosen Gesinnungen ihrer Standesgenossen theile. Er war ungesehener Zeuge gewesen; in der rücksichtslosen Art und Weise aber, wie er sie darauf zurückführte, trat seine ganze, von Frau von Herbeck betonte Feindseligkeit zu Tage, und das reizte die eben erst beschwichtigte Mädchenseele abermals zum Trotz.

„Ich werde meine Handlung zu verantworten wissen!“ entgegnete sie stolz und legte nun auch ihren linken Arm fest um das Kind.

Er trat zurück und bog sich wieder über die Frau. Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg; er flößte ihr wiederholt Madeira ein und rieb ihre Hände und Schläfe mit einer starken Essenz, aber sie hatte jedenfalls zu lange Mangel gelitten – sie war unfähig sich aufzurichten und konnte noch immer vor Schwäche nicht sprechen.

Langes Besinnen schien nicht Sache dieses Mannes zu sein – er hob plötzlich die Leidende wie eine Feder vorn Boden auf und trug sie auf seinen Armen nach dem Waldhause.

Wie gewaltig, und doch wie leicht die majestätische Gestalt dahinschritt! Welch’ ein Unterschied zwischen ihm, der das Elend mit starkem Arm stützte und es barmherzig an seine Brust nahm, und dem Mann im weißen Schlosse! … Seine Excellenz sprengte ganze Salven luftreinigender Essenzen um sich her, wenn ja einmal ein „Individuum“ mit dem Stempel der Dürftigkeit in seine Nähe gerathen war.


16.

Nun stand Gisela doch wieder auf derselben Stelle, die sie vorhin entsetzt fliehend verlassen hatte. Sie war den voranschreitenden Männern stillschweigend gefolgt, gleichsam magnetisch angezogen durch die Augen der Frau, die zurückgewendet während der ganzen Wegstrecke unablässig auf ihr und dem Kinde geruht hatten. Die Leidende war in’s Haus getragen worden, und nun wartete die junge Dame unter ängstlichem Herzklopfen, bis Jemand kommen und ihr den Kleinen abnehmen würde.

Wie vortrefflich hatte sie sich in ihre Rolle gefunden! Sie zeigte dem Kinde das Aeffchen, den Papagei und trug es nach der Fontaine. … Das junge Mädchen mit dem durchsichtig herabfließenden, seeblauen Gewande, mit dem langwallenden, blonden Haar stand in seiner hinreißenden Lieblichkeit neben der funkelnden Wassergarbe wie die verlockende Brunnennixe selbst – erst mit dieser Erscheinung vollendete sich der Märchenzauber, der um das alte Waldhaus webte und wehte.

Endlich trat der Portugiese wieder auf die Terrasse, und die Haushälterin folgte ihm. Die Frau hatte offenbar keine Ahnung, bei wem sich das Kind befand, das sie holen sollte, und sprang bei Gisela’s Anblick ganz erschrocken die Treppe herab. Sie knixte tief und ehrerbietig.

„Aber, gnädige Gräfin, das ist doch wahrhaftig kein Geschäft für Sie! … Der schwere, schmutzige, kleine Kerl!“ rief sie in halbem Entsetzen und reichte hastig nach dem Kinde. Aber da kam sie schlimm an. Der Kleine schlug beide Aermchen um Gisela’s Hals und warf den Kopf abwehrend und schreiend zurück.

„Still, still, kleiner Schreihals!“ beschwichtigte die gute, dicke Frau ängstlich. „Deine arme Mutter erschreckt sich!“

Alle Bemühungen, das Kind vom Arme der jungen Dame zu locken, scheiterten. Der Portugiese war inzwischen auch die Treppe herabgesprungen – ihn schien das Wehren und Sträuben des Knaben in eine seltsame Aufregung zu versetzen – seine Augen loderten und hafteten selbstvergessen in leidenschaftlicher Unruhe, ja, mit einer Art von Ingrimm auf den kleinen Armen, die beharrlich und immer fester den zarten, weißen Hals umschlangen, während das Köpfchen sich tief in die blonden Haarmassen der jungen Dame wühlte.

Das südliche, jähzornige Naturell des Mannes kam plötzlich erschreckend zum Durchbruch – er stampfte leise mit dem Fuße auf und hob wiederholt die Rechte, als wolle er den kleinen Trotzkopf von dem jungen Mädchen fortschleudern und ihn wie einen Wurm zertreten.

Ueber Gisela’s Gesicht lief eine jähe Purpurröthe – sie sah mit einem schweren Blick nach dem Hause – es war unverkennbar, sie kämpfte mit sich selbst. Bei der heftigen Bewegung des Portugiesen jedoch drückte sie den Knaben beruhigend an sich.

„Still, mein Kind – ich bringe Dich zu Deiner Mutter!“ sagte sie mit entschlossener und doch so süß beschwichtigender Stimme und ging festen Schrittes über den Kiesplatz und die Treppe hinauf.

Sievert hatte den Auftritt von der Thür aus mit angesehen.

Als Gisela auf die Schwelle trat, blieb sie einen Moment vor ihm stehen. Sie hatte sich hoch und stolz aufgerichtet, aber in der Art und Weise, wie sie das schöne Haupt zu ihm hinneigte, kam die ganze kindliche Unschuld, das Jungfräuliche in ihrer Erscheinung hinreißend zum Ausdruck.

„Seien Sie unbesorgt,“ redete sie ihn mit leise zuckenden Lippen an. „Wenn mir auch das Unheil auf dem Fuße folgt, wie Sie sagen – in dem Augenblick hat es gewiß keine Macht, denn ich gehe den Weg der Barmherzigkeit.“

Der alte Soldat schlug, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben vor einem Menschen, die Augen nieder, während die junge Gräfin in die Halle trat.

Die nachfolgende Haushälterin öffnete eine Thür, die in das südliche Thurmzimmer führte. Da lag auf einem Feldbett, in sauberen, weichen Hüllen das arme Weib und streckte seinem Kinde angstvoll die Hände entgegen – es hatte jedenfalls sein Schreien gehört. Gisela setzte den Kleinen auf das Bett; dabei wurde ihre Hand mit schwachem Druck festgehalten – die Leidende zog sie an ihre müden, bleichen Lippen. Welch schweres Opfer ihr, dem armen, verachteten Weibe, in diesem Augenblick von der stolzen Hochgeborenen gebracht wurde, ahnte sie darum nicht.

Die junge Gräfin hatte von jener Sturmnacht, wo sie mit ihrem Stiefvater Zuflucht im Waldhause suchte, nur noch dunkle, unklare Vorstellungen – hatte man doch auch Alles gethan, die Erinnerung an den Vorfall in ihrer Seele zu unterdrücken. Sie erkannte das Zimmer nicht wieder – sie wußte nicht, daß sie in diesem Augenblick auf derselben Stelle stand, wo einst die unheimliche blinde Frau ihre kleine Hand ingrimmig von sich geschleudert hatte. Jener furchtbare Moment hatte mithin keine Gewalt mehr über sie. Gleichwohl fühlte sie das Herz von einer unerklärlichen Bangigkeit zusammengeschnürt.

Ihre Augen glitten scheu durch das Zimmer – es machte einen so düsteren, freudlosen Eindruck mit seinen tiefen, in klafterdicke Mauern eingebrochenen Fensternischen. … Alte, abgenutzte Möbel, wie sie im weißen Schloß kaum die Domestikenstuben aufzuweisen hatten, standen an den Wänden, und darüber hingen verblichene Pastellbilder in schwarzen Holzrahmen, Portraits mit schlichtem Ausdruck und in anspruchsloser, bürgerlicher Kleidung. … Hier hauste sicherlich der unheimliche alte Mann – dieser augenblicklichen Annahme widersprach jedoch eine sehr elegante goldene Uhr, die auf einer Kommode pickte, wie auch ein kleiner Tisch in einer der Fensternischen, der mit zierlichem Schreibgeräth bedeckt war.

Ueber dem Kopfende des Feldbettes wallte ein dunkler Vorhang, und er war es hauptsächlich, der so geheimnißvoll beklemmend auf das junge Mädchengemüth wirkte. Er schien offenbar mehr dazu bestimmt, profane Augen, als das verderbliche Sonnenlicht abzuwehren – bis in diese Ecke vermochte kein Strahl zu dringen. … Bei den Bemühungen um die Kranke war ohne Zweifel unabsichtlich an der niederhängenden Schnur des Vorhanges gezogen worden, er zeigte sich in der Mitte getheilt – es war ein schmaler Spalt, aber er genügte gerade, um zwei Augen in die Welt sehen zu lassen – zwei melancholische, von dunklen, [227] über der Nasenwurzel zusammenstoßenden Brauen beschattete Augen, bei denen der Beschauer unwillkürlich an ein tragisches Menschenschicksal denken, mußte.

Gisela hatte dieses wunderschöne, schwermüthige Männergesicht mit dem blond niederwallenden, vollen Bart vor langen Zeilen gesehen – „vielleicht in einem der colorirten Heldensagen-Bücher, die sie als Kind so unbeschreiblich geliebt hatte.“. Es lag etwas Unirdisches in dem Gesammtausdruck der Züge – entweder der Mann war nie auf Erden gewandelt, oder die Malerhand hatte in diesem Kopf eins Lebens- und Leidensgeschichte meisterhaft verklärt.

Dieses halbverhüllte Oelbild im Verein mit den Gerätschaften aus längstvergangener Zeit machten das düstere Zimmer zu einer Art von Reliquienschrein. Gisela meinte, mit der Luft auch den Hauch und Staub vertrockneter Blumenreste einzuathmen, ihr war, als müsse man hier in einsamen Stunden ein leises Geflüster aus dunkler Vergangenheit herüber hören können.

Sie nahm hastig alles Geld, das sie bei sich trug, legte es auf das Bett der Kranken und forderte sie auf, nach ihrer Genesung sofort nach Arnsberg zu kommen – sie wolle für das Kind sorgen; dann verließ sie das Zimmer.

In der Halle schrak sie zusammen vor einem ausgestopften Tiger, der am Boden kauerte und, den Kopf aus die Vorderpfoten gelegt, tückisch nach ihr hinüber stierte; die zottigen Felle unter ihren Füßen, die gleißenden Waffen an den Wänden, auf denen das Sonnenlicht funkelte, – das Alles erschien ihr wildfremdartig wie der Herr des Hauses selber. … Und dort in einer halboffenen, gegenüberliegenden Zimmerthür stand der alte Mann, mit finsteren Augen, in sichtlicher Spannung des Moments wartend, wo die Eingedrungene, „der das Unheil auf dem Fuß folgte“, das Haus verlassen würde.

Sie floh hinaus auf die Terrasse und legte draußen tiefaufathmend die Hand auf ihr heftig klopfendes Herz.

„Sie haben sich gefürchtet in meinem Hause?“ fragte die Stimme des Portugiesen neben ihr – er hatte, so lange sie im Waldhause war, dasselbe nicht betreten.

„Ja,“ flüsterte sie scheu weggewendet und schritt an ihm vorüber. „Ich fürchte mich vor dem alten Mann, und auch –“ sie schwieg.

„Und auch vor mir, Gräfin,“ vollendete er in eigenthümlich bedeckten Tönen.

„Ja, auch vor Ihnen!“ bestätigte sie muthiger, indem sie sich langsam auf der obersten Treppenstufe nach ihm zurückwandte und mädchenhaft schüchtern, aber doch mit dem Ausdruck ernster Aufrichtigkeit in seine Augen sah.

Dann stieg sie die Stufen hinab und schritt über den Kiesplatz. Am Springbrunnen blieb sie einen Augenblick stehen, hielt ihre weißen Hände in den niederfallenden Sprühregen und legte sie an die klopfenden Schläfe.

„Rache ist süß!“ schnarrte droben auf der Terrasse der Papagei und schwang sich wild auf seinem Ring. Die erschrockene junge Dame sah, wie der Portugiese, der ihr offenbar folgen wollte, einer Bildsäule gleich am Fuß der Treppe stehen blieb und mit bleichem Gesicht zu dem Thier hinaufstarrte.

„Wer weiß, was der Mann für eine Vergangenheit hat – selbst sein Papagei schnaubt Rache!“ hatte die schöne Stiefmutter gesagt. Und in der That, in seiner Erscheinung lag, wenn auch nur augenblicklich, etwas Wildes, Ungebändigtes. … Das war sicher ein Charakter, der nicht vergab, noch vergaß, der das Wort: ,Aug’ um Auge, Zahn um Zahn’ unerbittlich zur Geltung brachte und auf seinem Schilde trug!

Die Aeußerung der Mama hatte sehr verdächtigend gelautet – seltsam – die junge Dame wußte, daß der Mann ihr ausgesprochener Widersacher war, und dennoch, in dem Augenblick, wo er ihr sein edelschönes Antlitz wieder zuwandte, kam ihr ein Gefühl der Beschämung, fast ein stechendes Weh darüber, daß die zweideutige Bemerkung in ihrer Seele wiedergeklungen hatte.

Er stand mit wenigen Schritten neben ihr. Mittels einer leichten Bewegung seiner Hand fing auch er einige der niederfallenden Tropfen auf.

„Schönes, klares Wasser – nicht wahr, Gräfin?“ fragte er. Vorhin war seine bedeckte Stimme weich und wohllautend gewesen – jetzt mit dem häßlichen Rachegeschrei des buntgefiederten Thieres war der finstere Geist wieder über ihn gekommen. „Was für Wunder stecken doch in solch’ einem köstlichen Waldquell!“ fuhr er fort. „Die Gräfin Sturm läßt sich Stirn und Hände benetzen, und – weggespült ist das Werk der Barmherzigkeit, die Berührung mit einer Welt, außerhalb der sie steht! … Sie kann getrost in’s weiße Schloß zurückkehren und unter strenge Augen treten – es haftet nichts mehr an ihr!“

Gisela erblaßte und wich unwillkürlich einen Schritt von ihm zurück.

„Nun, fürchten Sie sich abermals, Gräfin?“

„Nein, mein Herr – in diesem Augenblick sind Sie nur feindselig – nicht jähzornig wie vorhin. … Ich bebe nur vor der blinden Heftigkeit.“

„Sie haben mich jähzornig gesehen?“ Es lag viel Betroffenheit in seinem Ton.

„Würde ich wohl je in das Haus dort getreten sein, wenn ich nicht für das hülflose, unvernünftige Geschöpfchen auf meinem Arme gezittert hätte?“ fragte sie. Jetzt brach auch ihr tief beleidigter weiblicher Stolz in Blick und Stimme durch.

Die zwei verhängnißvollen Linien auf der Stirn des Portugiesen vertieften sich und ein leichtes Roth trat in die braunen Wangen – seine Lippen aber zückten spöttisch.

„Sie haben wirklich geglaubt, ich würde mich an dem armen, kleinen, eigensinnigen Tropf vergreifen?“ sagte er.

„Ja, mein Herr,“ entgegnete das junge Mädchen und sah, trotz ihrer energischen Haltung, mit den weitaufgeschlagenen braunen Augen fast kindlich unschuldig zu dem hohen, gewaltigen Mann empor. „Ich bin noch sehr unerfahren – ich verstehe gar nicht, in den Gesichtszügen Anderer zu lesen, denn mein Leben ist ein sehr einsames –“

„Aber den Jähzorn im menschlichen Auge kennen Sie?“

„Ja – und ich weiß auch, daß die Hand keiner Leidenschaft so schnell gehorcht, wie ihm.“

Sein Blick hing an ihrem Gesicht.

„Wie mag Ihnen dieses Stück Nachtseite der Menschenseele nahe gekommen sein!“ murmelte er mehr wie für sich. … Und in der That, sie stand da vor ihm mit der keuschen Stirn und den leidenschaftslosen Zügen, wie eine jener Gestalten, denen die Maler den Palmzweig in die Hand drücken. „Und so wild und unbeherrscht wollen Sie auch mich gesehen haben?“ fügte er nach einem augenblicklichen Schweigen hinzu.

Ein leises Erröthen lief über ihr Gesicht. „Ich habe diese Ausdrücke nicht gebraucht,“ versetzte sie, abermals scheu zurückweichend. „Aber ich mußte vorhin bei Ihren Augen denken, daß ich sie früher schon einmal gesehen habe.“

Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, wandte der Portugiese plötzlich sein Gesicht nach der entgegengesetzten Richtung, so daß die junge Dame nicht einmal die Linie seines Profils sehen konnte.

„Sie waren in Brasilien, Gräfin? … Denn wo sonst könnten Ihnen meine Augen begegnet sein?“ fragte er in erzwungen leichtem Ton, wobei er angelegentlich die niederfallenden Tropfen der Fontaine zu zählen schien.

Diese Art Nonchalance von Seiten eines Mannes, der in seiner ganzen majestätischen Erscheinung ihr so gewaltig imponirte, dessen Handlungsweise, gegenüber den Menschen, sie bewunderte, verletzte sie tief.

„Ich kann begreiflicherweise nur von einer Aehnlichkeit sprechen,“ sagte sie kühl zurückhaltend, „von einer Aehnlichkeit, die vielleicht nur im augenblicklichen Ausdruck liegt. … Ich wurde als Kind von einem Mann im heftigsten Jähzorn thätlich gemißhandelt – an diesen Moment dachte ich, als ich mich vorhin – überwand und den Knaben in das Haus, unter den Schutz seiner Mutter trug.“

„Hatten Sie den Mann gereizt?“

„Nein, mein Herr – absichtlich gewiß nicht! … Ich war vor das weiße Schloß gelaufen, um meine neuen, schönen Kupferdreier“ – ein flüchtiges Lächeln glitt im Rückblick auf diesen opfermuthigen Kindergedanken um ihre Lippen – „den Neuenfelder Armen als Unterstützung zu schicken. … Der Mann, den ich vorher nie gesehen hatte, schleuderte mich weit hin – ich glaubte, er wolle mich tödten. Er nannte mich ein häßliches, gebrechliches Menschenkind – und dann hatte er Recht – ich muß wohl ein sehr schwaches Geschöpf gewesen sein, denn der eine Augenblick des Schreckens und Entsetzens machte mich krank und [228] elend für viele Jahre – er hat mich von allem Glück, allen Freuden der Kindheit ausgeschlossen.“

Wie ergreifend klang die leise Klage und Trauer in der kinderklaren Stimme des jungen Mädchens!

Der Portugiese hatte ihr längst wieder sein Gesicht zugewendet – auf seiner sonst so bleichen Stirn lag beharrlich ein dunkelrother Streifen – innere Bewegung schien alles Blut auf diese eine Stelle zu concentriren.

„Kein Wunder dann, daß der Moment so unverwischbar in Ihrer Seele hängen geblieben ist!“ sagte er in jenen bedeckten Tönen, die vorhin schon so eigenthümlich beklemmend das Herz der jungen Dame berührt hatten. Es kam ihr vor, als bebten seine Lippen, als er frug: „Aber wissen Sie auch genau, daß der Mann lediglich im Zorn handelte? … Wer weiß, vielleicht litt seine Seele tausend Schmerzen.“

Gisela senkte nachdenklich die Stirn.

„Wer weiß es!“ wiederholte sie betroffen. „Man hat mir erzählt, er sei ein bösartiger Mensch gewesen, ein Mensch, der sich nicht gescheut haben würde, uns das Haus über dem Kopfe anzuzünden – so behauptet Frau von Herbeck. … Er soll auch dem Papa sehr schlimme Dinge gesagt haben –“

„Der Vermessene!“ unterbrach sie der Portugiese heiser auflachend. „Ich hoffe doch, Seine Excellenz, der Minister, wird bei seiner entschiedenen Vorliebe für die gesetzliche Ordnung nicht einen Augenblick gezögert haben, jenen Menschen auf die eclatanteste Weise zur Rechenschaft zu ziehen?“

Die junge Gräfin sah erstaunt empor – ein wahrhaft dämonischer Zug entstellte seinen schöngeschwungenen Mund – sie sah zum ersten Mal die weißen, festen Zähne hinter den höhnisch geschürzten Lippen.

„Nun, Gräfin,“ fuhr er fort, „wurde er nicht vor strenge Richter gestellt? … Man weiß ja, daß sie hier zu Lande mit den Ohren Seiner Excellenz hören und mit seiner Zunge sprechen – lauter brave, wackere Leute, die ihre Stellung mit beneidenswerthem Tact begreifen! … Wie, sitzt er noch in Ketten und Banden, der freche Attentäter, muthmaßliche Brandstifter –“

„O mein Herr, nicht ein Wort weiter über ihn! Ich kann es nicht hören!“ unterbrach ihn das junge Mädchen und streckte ihm abwehrend die Rechte entgegen. „Sie haben eben selbst in Zweifel gezogen, ob er allein der Schuldige war!“ – Ein leises Beben lief durch ihre Glieder. – „Der Unglückliche ist noch in derselben Nacht ertrunken!“

„Er ist ertrunken,“ wiederholte der Portugiese mit sinkender Stimme – der rothe Streifen auf seiner Stirn war plötzlich wie weggelöscht; selbst die Lippen erschienen bleich. „Wie, Gräfin, Sie fühlen Mitleiden für ihn?“

„Ein tiefes.“

„Sie haben nie gewünscht, ihn bestraft zu sehen?“

„Niemals.“

„Aber er hat Ihnen das Glück, die Freuden der Kindheit geraubt – Sie wären in der That im Stande, das zu verzeihen?“

„Die schlimme Zeit liegt hinter mir,“ sagte sie mit einem sanften Lächeln – es flog wie ein Schein der Verklärung über ihr Gesicht. „Ich habe seit meinen Kinderjahren nie mehr über jenes Ereigniß gesprochen, und wenn ich’s heute that, so geschah es nur, um meine Furcht und meine Besorgniß um meinen kleinen Schützling zu motiviren.“

Sie wußte nicht, wie ihr geschah – sie fühlte ihre Hand ergriffen und von zwei heißen, zuckenden Lippen berührt – dann stand sie plötzlich allein neben dem rauschenden Wasserstrahl – der Portugiese kehrte mit raschen Schritten, ohne sich auch nur einmal umzuwenden, in das Waldhaus zurück.

Fast unmittelbar darauf erschien der alte Soldat auf der Terrasse und trug den Papagei hinein in das Haus. Gisela sah, wie er die ganze Länge der Halle durchschritt und dieselbe durch die entgegengesetzte Thür wieder verließ. Er schaffte das schreiende Thier offenbar in ein Hintergebäude – wahrscheinlicherweise aus Rücksicht für die leidende Frau.

(Fortsetzung folgt.)



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Keulenschäge