Richard Wagner (Die Gartenlaube 1854)
Richard Wagner, der Dichter und Componist des Rienzi – fliegenden Holländer – Tannhäuser und Lohengrin, dessen Bild Euch, liebe Leser, die Gartenlaube diesmal vor die Augen stellt, hat auf seiner Laufbahn glühende Anhänger und kalte Gegner gefunden. Jene sehen den genialsten Kunstreformator, diese nur ein bedeutendes Talent in ihm, ja manche der letzteren erklären ihn für einen musikalischen Herostratus. Jedenfalls ist er eine der hervorragendsten Erscheinungen der Gegenwart, die wir nicht übersehen dürfen.
Von seinem Leben wüßte ich Euch wenig zu erzählen. Er wurde am 22. Mai 1813 in Leipzig geboren, besuchte in Dresden die Kreuz-, später in Leipzig die Thomasschule, und frequentirte kurze Zeit die Universität zu Leipzig. Unterricht in der Composition erhielt er von dem trefflichen Theoretiker Weinlich, Cantor an der Thomasschule.
Dies ist, was mir von den Bildungsmitteln seiner Jugend bekannt geworden. Die ausgebreiteten Kenntnisse, die er in seinen Schriften, die bedeutende Schaffenskraft, die er in seinen Kompositionen zeigt, lassen schließen, daß er sehr fleißig und zumeist durch mannigfaltigstes Selbststudium sein eigener Lehrer gewesen [241] sein muß, wie man das oft an ausgezeichneten Geistern in den Wissenschaften und Künsten gewahrt.
Wagner kam als Kapellmeister an das Theater zu Magdeburg, später nach Riga. In letzterer Stadt begann er seinen Rienzi. Von Riga reiste er zu Schiffe über London nach Paris. Auf dieser Fahrt erlebte er einen Seesturm, der ihm die Idee zu seinem fliegenden Holländer eingab. Beide Opern vollendete er bis Ende des Jahren 1841 unter mancherlei Sorgen und Entbehrungen in Paris. 1843 führte er seinen Rienzi in Dresden auf, und wurde in Folge davon Kapellmeister daselbst. 1845 erschien auf der dortigen Bühne zum ersten Male der Tannhäuser. Seine neueste Oper ist Lohengrin, die 1850 in Weimar durch Liszt zur Aufführung kam. Dieses Werk hat Wagner selbst bis heute noch nicht gehört. Denn in Folge des Dresdner Aufstandes 1848, an dem er sich betheiligte, verlor er seine Stelle, mußte flüchten, und lebt seit der Zeit in Zürich, wo er den Text zu einer neuen Oper „die Niebelungen“ vollendet hat, mit dessen Composition er gegenwärtig beschäftigt ist.
Wagner hat sich in drei geistigen Thätigkeiten zugleich ausgezeichnet: als Schriftsteller, Operndichter und Operncomponist. Bedenkt man, wie Viele den Fleiß eines ganzen Lebens auf eine dieser Branchen richten, ohne etwas Bedeutendes darin leisten zu können, so muß man die Vielseitigkeit seines Talentes aufrichtig bewundern.
In seinen Hauptwerke: „Oper und Drama,“ behauptet Wagner, daß die Oper von Haus aus und bis zu ihm, ein totaler Irrthum gewesen. Der Dichter konnte und durfte keinen Text machen, der eine interessante und vernünftige Handlung hatte, sondern blos ein Ding mit Arien, Duetten, Chören, Finales. Der Komponist konnte und durfte die darin gezeichneten Gefühle und Leidenschaften nicht musikalisch ausdrücken, sondern er mußte sie nur in Noten setzen, um des eitlen Sängers Stimme glänzen zu lassen. Das heißt das Kind mit dem Bade ausschütten.
Freilich giebt es läppische Operntexte, cosi fan tutte, Zauberflöte. [242] Aber kennen wir nicht auch vortreffliche? Den Wasserträger, Joseph in Aegypten, Freischütz, Fidelio? Freilich giebt es Componisten, deren Musik zu ihrem Texte paßt, wie die Faust auf’s Auge. Aber gehören unter diese Componisten auch Gluck, Mozart, Beethoven, C. M. v. Weber, Cherubini, Mehul? Freilich giebt es eitle Sänger, die von dramatischem Ausdruck nichts wissen, und nur ihre Stimme hören lassen wollen. Aber gehören darunter die Schröder-Devrient, Lind, Pasta?
Ihr seht aus diesen wenigen Beispielen schon, liebe Leser, daß Wagner die Dinge dieser Welt anders sieht oder anders zu sehen vorgiebt, als andere Menschen.
Trotzdem hat er eine Anzahl Gläubiger gewonnen, die auf seine Worte schwören wie auf das Evangelium. Die Ursache liegt wahrscheinlich in der Art seiner Darstellung. Er schreibt sehr bestechend und sehr entschieden. Er drückt alle seine Gedanken wie Axiome aus, d. h. wie selbstverständliche unleugbare Grundsätze. Damit gewinnt man aber viele Menschen leicht. Behauptet etwas nur ganz entschieden, und wäre es das Tollste, wenige werden dann zu zweifeln wagen. Wagner duldet keine Einrede. Was er sagt, das muß so und kann gar nicht anders sein. Wer einen Einwurf gegen ihn wagt, den erklärt er im Voraus für einen Schwachkopf und seinen Feind. Er drückt sich nämlich in seinem Vorwort zu seinen „drei Operndichtungen“ ungefähr so aus:
„Wer nicht meiner Meinung ist, versteht mich nicht.“
„Wer mich nicht versteht, ist mein Freund nicht und liebt mich nicht.“
„Wer mein Freund sein und mich lieben soll, muß eine ähnliche Denk- und Gefühlsweise haben, wie ich.“
„Er muß mich nicht mit dem reinen Verstand, sondern mit dem künstlerisch gebildeten Gefühle erfassen.“
Da er nun in seinen Schriften die Ueberzeugung kund giebt, daß er ein besseres Einsehen in die Kunst habe, als irgend ein menschlicher Geist je vor ihm gehabt, so könnt Ihr Euch wohl denken, daß er Leute gefunden, die sich für seine Freunde erklären, die ihn lieben wollen, denn dadurch beweisen diese erstens, daß sie ihn verstehen, zweitens, daß sie eine ähnliche Denk- und Gefühlsweise haben, wie er, drittens, daß sie ein künstlerisch gebildetes Gefühl besitzen, und daß sie demnach viertens die wenigen Glücklichen sind, die sich mit Wagner aus dem Pfuhle der gemeinen, frivolen Sinnlichkeit, in welchem die ganze übrige gegenwärtige Welt watet, emporheben. Wagner selbst räsonnirt aber oft über Andere in einer höchst verächtlichen und bitteren Weise.
Was sagt Ihr zu folgendem Pröbchen?
„Was Mendelssohn und Meyerbeer künstlerisch kundgeben wollen, kann nur das Gleichgültige und Triviale sein. Sie können den frühern Meistern nur sinnlos nachreden, und zwar ganz peinlich genau und täuschend ähnlich, wie Papageien menschliche Worte und Reden nachpapeln. Nur ist bei der nachäffenden Sprache dieser jüdischen Musikmacher eine besondere Eigenthümlichkeit bemerkbar, die der jüdischen Sprach- und Singweise. Den jüdischen Musikern bietet sich, als einziger musikalischer Ausdruck ihres Volkes nur die musikalische Feier ihres Jehovadienstes dar. Ihr einziger Quell, aus dem sie ihre ihnen verständliche, volksthümliche Motive für ihre Kunst schöpfen, ist die Synagoge. So daß uns jüdische Musikwerke oft den Eindruck machen, als wenn z. B. ein Goethe’sches Gedicht in jüdischem Jargon vorgelesen würde.“
Ich brauche kaum zu bemerken, daß in seinen Schriften auch gute Gedanken vorkommen. Die sind zwar geistvoll und blendend ausgedrückt, in ihrem Kern jedoch durchaus nicht neu.
Dieser sonderbare Mann verschließt sein Auge für Alles, was unsere Zeit an Großem und Gutem hervorbringt, und öffnet es nur, wenn das Kleine und Schlechte an ihm vorüberzieht. Er will von seinen Zeitgenossen geliebt sein, und sagt ihnen mit größter Bitterkeit in’s Gesicht, daß er sie haßt und verachtet. Dennoch schreibt, dichtet und componirt er für sie. Freilich sagt er, nicht für sie, sondern für die Zukunft. Darüber wollen wir indessen hinweggehen.
Und doch – sollte er in späteren Jahren seine Irrthümer einsehen, daß er sie gedruckt in die Welt ausgestreut, wird er schwerlich bereuen. Seine Opern lagen lange Zeit wie schwer befrachtete Segelschiffe bei gänzlicher Windstille im Hafen fest gebannt. Da fuhr er mit seinen Schriften auf, und die erregten einen solchen Wind, daß seine kleine dramatische Flotte in Bewegung kam und jetzt mit vollen Segeln auf dem Meere des Ruhmes dahin schwimmt. Er wurde, wie ein Anhänger sich anders ausdrückt, „sein eigener Apostel“ und seitdem setzen seine Jünger das Geschäft unausgesetzt und mit dem besten Erfolge fort. Gewiß ist, daß noch nie über einen Künstler so viel geschrieben worden ist und fortwährend geschrieben wird, und daß ohne diesen die Neugierde immer mehr spannenden und die Aufmerksamkeit stets auf ihn fixirenden Journalrumor, gleichviel ob für oder gegen ihn, seine Opern gewiß ihre relative Bedeutung und Wirkung erhalten und behalten, schwerlich aber das Publikum so angezogen haben würden, als es gegenwärtig der Fall ist. Man kann nicht behaupten, aber man darf vermuthen, daß seine Dichtungen und Compositionen der Macht, der er sie eigentlich gewidmet haben will, der Zukunft nämlich, nicht als die unbedingt vollkommensten Leistungen erscheinen werden.
Wie dem auch sei, wir verlassen jetzt den Schriftsteller Wagner und wenden uns zu
Da wird uns gleich besser zu Muthe. Da treffen wir auf einen Geist von herrlicher dramatisch-poetischer Begabung, die er namentlich in seinen Texten zum Tannhäuser und Lohengrin auf’s Unzweifelhafteste offenbart hat. Nicht daß wir seine Dramen für die unbedingt besten erklären wollten.
Die schwächste Seite an den Wagner’schen beiden Hauptopern scheint mir in den Charakteren seiner Personen zu liegen. Tannhäuser begeht vor unseren Augen fast nur Schlechtigkeiten. Wir erblicken ihn zuerst in den Armen der Venus vulgata, der gemeinen sinnlichen Liebe. Er entflieht ihr zwar, richtet aber, auf die Oberwelt zurückgekehrt, durch sein niedriges Benehmen am Hofe des Landgrafen die edle, reine Elisabeth, seine frühere Geliebte, zu Grunde. Seine Reue kann uns nicht mit ihm versöhnen, da er zuletzt wieder in den Venusberg zurück will. Wir wünschten, daß dieser elende Wollüstling, anstatt plötzlich zu sterben, von den Furien der Reue und der Verachtung aller redlichen Menschen noch einige Zeit gepeinigt würde, denn ein wenig rachsüchtig sind wir alle.
Was Lohengrin thut, ist auch nicht viel werth. Er kämpft für ein unschuldig angeklagtes Weib, doch stehen ihm übernatürliche Kräfte bei. Elsa ist reizend gezeichnet, kann aber in der Brautnacht ihre Neugierde nicht bezwingen, thut die ihr von Lohengrin verbotene Frage, und verliert von diesem Augenblick an unsere Theilnahme.
Sollen wir an den Thaten des Tannhäuser sehen, daß die gemeine Sinnlichkeit zum Verderben, an dem Benehmen Elsa’s, daß die Neugierde in’s Unglück führen kann, so wird gelehrt, was alle Menschen wissen, zurückgeschreckt von diesen Lastern und Fehlern wird durch die dramatische Darstellung derselben keiner, in dem die Neigung dazu vorhanden.
Es giebt aber noch andere Mittel des Interesses in den Dramen. Bedeutende, ungewöhnliche, großartige, rührende, spannende, furchterweckende Situationen.
Wenn Tell gezwungen wird, von dem Haupte seines Söhnchens einen Apfel zu schießen, so ist das eine schrecklicke Lage, und jeder Mensch, der ihr beiwohnt, muß auf das Tiefste davon ergriffen werden. Man braucht gar nichts Besonderes als Charakter dabei zu sehen, es genügt, daß Tell Vater ist. Weiß uns der Dichter nur die Situation, die Lage recht lebendig anschaulich zu machen, so kann eine bedeutende Wirkung nicht ausbleiben.
Diese Dichtergabe besitzt Wagner in hohem Grade. Er bringt seine Hauptpersonen, wenn nicht stets, doch oft in interessante Lagen, und wenn diese, etwa blos kurz und trocken erzählt, nichts Besonderes wären, so versteht er doch, sie durch die dramatische Ausführung so lebendig und wahrscheinlich darzustellen, daß wir im Augenblick der Anschauung wie an wirklich vorgehende Ereignisse glauben müssen.
Ein weiteres Mittel uns theatralisch zu interessiren, liegt in der Schilderung der Leidenschaften und Affekte. Nachdem Tell den Apfel geschossen, ahnt man, was in dem Busen dieses Mannes vorgehen muß. Als er nun nach der Frage des Landvoigts die bekannte Antwort herausdonnert, so empfinden wir den furchtbaren [243] Affect des Vaters, den Wuth- und Racheausdruck mit einem wahren Entzücken mit.
Auch diese Gabe besitzt Wagner in starkem Maße; er weiß die Gefühle und Leidenschaften seiner Personen so natürlich und anschaulich lebendig mit Worten zu zeichnen, daß wir sie mitempfinden und uns in sie versenken müssen.
So kann man von seinen Operntexten sagen: sie sind in Hinsicht der Charaktere schwach, oft psychologisch fehlerhaft, aber in den Situationen und Leidenschaften stark und gehören in letzteren Beziehungen unter die seltensten und allerbesten Opernbücher.
Daß diese beiden letzten Eigenschaften seiner Texte sehr bedeutend sind, kann man aus ihrer Wirkung schließen, da sie in Sagen- und Mythenstoffen erscheinen. Die allermeisten Stücke, in denen übernatürliche Wesen mitwirken, sind für unsere Zeit nur noch läppische Dinge für Kinder. Sie können keine Furcht für die Personen erregen, die wir lieben, denn wir wissen, daß der Zauberer oder die Fee die Gefahr schon zur rechten Zeit mit einer bloßen Handbewegung, oder mit dem Zauberstabe, oder mit irgend einer Beschwörungsformel beseitigen werden. Allerdings wissen wir das auch in Wagner’s Lohengrin. Aber wir kommen vor der wahr und lebendig dargestellten Situation, der Leidenschaft, oder beider zugleich nicht dazu, an jenes zu denken. Und das setzt eine große poetische Dichtungskraft voraus.
Wenn nun aber Wagner und seine Anhänger von einer Reinigung und besseren Richtung in seinen Operntexten sprechen, so kann das nur theilweise zugegeben werden, nämlich hinsichtlich der Situationen und Leidenschaften.
Von einer andern Seite betrachtet, ist er nichts weniger als ein glücklicher Reformator. Hat er etwa den äußeren Spektakel verbannt, und das Drama zu seiner edlen Einfalt zurückgeführt? Keinesweges. Er hat in seinem Rienzi, fliegenden Holländer, Tannhäuser und Lohengrin auf sinnliche Augenweide, blendende Theaterkontraste, Pomp der Aufzüge und Dekoration tüchtig losgearbeitet. Ja, wenn die Nachrichten über sein neuestes dramatisches Gedicht, die Niebelungen, die an drei Abenden hintereinander aufgeführt werden sollen, sich bestätigen, so grenzt das, was er darin an noch nie gesehenem Theaterspektakel aufstellt, an’s Fabelhafte, Unausführbare, und er überbietet also darin alles an Schauprunk bisher auf die Bühne Gebrachte in einer kaum geahneten Uebertreibung. Wer darin eine Reformation der Oper, eine Verbesserung, eine neue glücklichere Richtung der dramatischen Kunst finden will und kann, mit dem, liebe Leser, wollen wir uns in keinen Streit einlassen.
Man wirft ihm von mancher Seite her Mangel an schaffender Phantasie vor; er arbeite mehr mit dem reflektirenden Verstande. Nun, wenn man damit vieles von Dem, was Wagner in seinen Opern geleistet, leisten kann, so wünsche ich allen künftigen Componisten dieses Vermögen Wagner’s. Die Wahrheit scheint mir, daß er so viel Phantasie hat, wie nur irgend ein Sterblicher jemals gehabt und haben kann. Ach nein! Wenn Euch manches so erscheint, so kommt es nicht aus Mangel an schaffender Phantasie, sondern aus gewissen Principien, die er sich leider in den Kopf gesetzt hat, und nach denen er die Gaben seiner überaus feurigen Phantasie annimmt oder abweist. Kein echter Künstler läßt seine Phantasie beim Schaffen eines Kunstwerkes willkürlich walten, nimmt willenlos und ungeprüft alles an, was sie in ihrer Erregtheit bringt, er wählt aus und sichtet was er nach seinen Kunstmaximen und Ansichten für Recht und brauchbar hält. Aber was er für recht und brauchbar hält, darin kann er sich irren, und darin irrt Wagner sich nach der Meinung vieler wirklich, nach seiner und der Meinung Gleichgesinnter auch nicht. Man sagt ferner, er könne keine Melodien schaffen in der Art, wie sie bei Mozart, Beethoven, Weber und vielen andern frühern großen Meistern gefunden und mit großem Vergnügen gehört werden. Auch das ist nicht wahr, liebe Leser. Er kann sie bringen, er hat’s in einzelnen Fällen bewiesen. Wolfram’s Lied im Tannhäuser genügte als Beweis dafür, wenn er auch sonst dergleichen nicht gebracht hätte. Aber nach seinen neuesten Kunstansichten will er solche sogenannte populäre Melodie nicht mehr schaffen. Er hält sie nicht der Zukunft würdig. Er nennt sie absolute Musik, d. h. solche, wo die Melodie nicht mit dem Worte genau und wahr genug übereinstimmt. Das muß man bedauern, aber man darf ihm deshalb das Können dazu nicht absprechen.
Wagner verbannt ferner in seiner neuesten Richtung die gebräuchlichen Formen der Arie, des Duetts u. s. w., wie sie unsre frühern Meister gebraucht haben. Er setzt an deren Stelle meist das Recitativ, das deklamatorische und das Arioso, d. h. kleine melodische Phrasen blos.
Auch das hält Er und seine Jünger für wahrer, wirkungsvoller, der Zukunft würdiger. Ob er sich in letzterer Beziehung täuscht oder nicht, kann weder er noch wir mit Gewißheit behaupten, denn wir wissen nicht, was in der Zukunft Schooße schläft.
Ich denke, wenn Tamino: „Dies Bildniß ist bezaubernd schön“, wenn Max: „Durch die Wälder, durch die Auen“, Agathe: „Leise, leise“, Aennchen: „Kömmt ein schlanker Bursch gezogen“, Joseph: „In einem Thal bei armen Hirten“ u. s. w., u. s. w. singen, so empfinden wir Genuß, Vergnügen, Glück, obgleich diese Sachen Arien und Lieder genannt werden. Wir danken dem Schöpfer, daß er Menschen geschaffen, die uns diese Art von Musik haben machen können.
Was mir zuweilen Zweifel gegen die innerste Ueberzeugung Wagner’s und seiner Freunde hinsichtlich ihrer Prinzipien erregt, sind einige Widersprüche, die sie sich in einzelnen Fällen entwischen lassen.
Wagner will z. B. seine Musik nur für die Bühne berechnet haben, und protestirt gegen jede Aufführung einzelner Stücke daraus in Concerten. Er selbst aber hat Bruchstücke aus seinen Opern in Züricher Concerten vorgeführt, und auch seine Freunde thun es zuweilen.
Einen Hauptdrucker, womit man seiner Musik eine über alle andern Tonmeister hinwegragende Vollkommenheit beimißt, stellt man in der Phrase auf: „Wort und Ton sei in seiner Musik so innig mit einander verbunden, daß die Trennung beider Elemente gar nicht möglich sei, ohne sie zu zerstören. Eines ohne das Andre sei nichts. Beide verbunden das Höchste, was Poesie und Musik zusammen leisten könnten.“
Wenn das der Fall ist, wie kann es Wagner dann einfallen, seine Operntexte für sich drucken zu lassen und der Welt zur Lektüre mitzutheilen. Da ist doch die Musik vollständig von dem Wort getrennt? Und wenn seine Musik, von dem Wort getrennt, für sich nichts ist, wie konnte er dann, um nur ein Beispiel anzuführen, die Ouverture zum Tannhäuser so schreiben, wie er sie geschrieben hat? Sie ist aus lauter Musikgedanken zusammengesetzt, die in der Oper mit dem Wort verbunden waren, und hier, von dem Wort losgelöst und vollständig getrennt, als Musik für sich gelten und wirken sollen?
Daß Wagner Meyerbeer, Berlioz und alle neuen Opernconponisten der falschen Anwendung der Mittel nur um des äußern Effekts willen bitterlich anklagt und verächtlich behandelt, ist bekannt. Und doch wendet Wagner die Orchesterinstrumente in noch viel stärkerer Zahl und Besetzung – es heißt auf dem Theaterzettel: „mit verstärktem Orchester!“ – und in noch weit zahlreichern Momenten seiner Opern an, als irgend einer der geschmähten Componisten vor und neben ihm!
Wer von Euch, liebe Leser, eine Wagner’sche Oper gehört, wird wenigstens das zugeben, daß Meyerbeer keine stärkeren Ansprüche an Eure Nerven macht als Wagner. – Sollten zukünftige Generationen stärkere Nerven und einen robusteren Geschmack als die Gegenwart haben? Sollten jene nach vierstündiger starker Musik, wie sie Lohengrin bietet, nicht auch physisch und geistig ermattet sein, wie die Meisten von uns es sind?
Daß Wagner’s Opernmusik eine Menge Schönheiten erster Art enthält, wäre lächerlich, besonders aussprechen und beweisen zu wollen. Die vollen Häuser, die sie in der Regel macht, reden besser dafür als alle Lobphrasen. Es muß also in seinen Werken viel des Gefallenden und Anziehenden liegen. So erkennen wir das mit Dank an, und suchen wir uns durch immer nähere Bekanntschaft damit anzueignen, was unserer Natur genehm ist. Aber hüten wir uns, über den neuen Künstler die alten zu vergessen, zu vernachlässigen oder gar zu verachten. Die Wagner’sche Musik ist in dem großen Garten der Kunst eine eigenthümliche Pflanze, aber nicht die einzige, die des Beschauens werth wäre. Es giebt noch viele andere. Erhalten wir uns den empfänglichen Sinn für Alle.