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Schulen für die Natur

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Schulen für die Natur
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 464
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Über eine sizilianische weizenähnliche Pflanze
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[464] Schulen für die Natur. Auf der Insel Sicilien wächst eine Art Gras, welches im Herbste, wenn die Samenrispen desselben reif sind, ordentlich gemähet, in Garben gebunden und verbrannt wird, nicht damit es vernichtet werde, sondern Nahrung und Leben spende. Die Flamme läuft knisternd und knatternd rasch durch die leichten Bärte der Samenköpfe hin und läßt diese schwach geröstet, im Innern gesund übrig. In diesem Zustande wird der Same von der ländlichen Bevölkerung Siciliens mit großem Appetit und zu ihrem Gedeihen in großen Massen gegessen. Was die Sicilianer mit ihrem Grase oder „Heusamen“ thun, ließe sich auch mit andern Wiesenähren practiciren, nur daß letztere bei uns zu inhaltlos und kleinköpfig sind, um die Mühe zu bezahlen, womit wir dann den Pferden und Schafen das Futter vor der Nase verbrennen würden, um uns einige Körnchen aus der Asche herauszupicken. Trüge bei uns nur das Gras so große Köpfe, wie Mais oder blos wie Weizen und Gerste, würde das Viergroschenbrot überall für 6 Pfennige zu haben sein. In Zeiten der Noth haben übrigens nicht blos König Nebukadnezar, sondern ganze Völker Gras gefressen und sich so bis zur nächsten Ernte erhalten. Im Allgemeinen enthalten die Samenkörner des Grases dieselben nährenden Bestandtheile wie Korn und Weizen.

Der botanische Name den erwähnten sicilianischen Grases ist Aegilops oder Ziegenauge. Um das ganze mittelländische Meer herum wachsen drei Arten desselben, besonders auf den heißen, trockenen, sandigen Ebenen, selbst auf versengtem, vulkanischen Boden, zu dessen hungriger und verdursteter Unfähigkeit, zu athmen und zu leben, sie oft einen heiter wogenden, duftig erquickenden Gegensatz bilden. Die Aegilops ovata treibt sogar noch mit ihrem Boden und dessen völlig ausgeleerter Kasse Spott und zeigt, daß sie nicht nur sich selbst, sondern auch Schmarotzer ernähren kann. Sie läßt freiwillig aus ihrer Wurzel eine andere Art, die weizenartige Triticoides, hervorschießen, sich nähren, blühen und reifen. Ein merkwürdiger, harter, lustiger Proletarier dieses „Ziegenauge“ und ein Genie, dem so lange nur die Erziehung fehlte, um alle seine Tugenden zu entwickeln und zu verwerthen. Die Natur bedarf der Schule und Erziehung des Menschen; sie sehnt sich darnach. Es ist die Aufgabe und Sehnsucht aller ihrer Kinder, zu Menschen zu werden, die sie dann auch, wenn sie ihr Werk gethan haben, mit Liebe wieder in ihren Schooß aufnimmt, um sie tausendfach wiederzubeleben und an das schöne warme Sonnenlicht empor zu tragen.

H. Heine läßt einen Ritter am öden Meeresstrande entschlummern. Die Meeresgöttinnen und Strandnymphen stellen sich liebend und sehnsüchtig um ihn herum, betrachten und bewundern seine Schönheit, zupfen ihn am Barett, sogar am Barte, die eine zieht sogar sein Schwert heraus, und darauf gestützt, betrachtet und bewundert sie ihn mit besonderer Innigkeit und Hingebung, bis sie, ganz ihrem Herzen folgend, ohne Ziererei ausruft: „O wärst Du doch mein, o wie ich Dich liebe, Du holde Menschenblüthe!“

Um aus dieser poetischen Sphäre wieder in die Praxis und in unsern prosaischen Fall zurückzukehren, sehnt sich auch das Viehfutter Menschenfutter zu werden. Jeder will gern vorwärts und empor und einen bessern Titel, warum nicht auch das Gras? Es haben sich auch einige gute Erzieher und Lehrer für dasselbe gefunden, besonders für diese Aegilops, zunächst M. Fabre, ein gebildeter Pädagog des Grundes und Bodens zu Agde im südlichen Frankreich. Von der Thatsache ausgehend, daß Aegilops zu den Lieblingskindern der Ceres, den Cerealien gehöre, wie Korn und Weizen, nahm er Aegilops ovata in die Schule, um ihre nahrungsspendenden Neigungen und Fähigkeiten auszubilden. Im Jahre 1838 legte er die erste Schule an, ein Stück Boden, durch hohe Wände geschützt und in gehöriger Entfernung von andern Grasarten. Die gesäeten Pflanzen wuchsen bis 24 Zoll hoch und reiften im Juli des folgenden Jahres mit einem Ertrage von 5 zu 1. Im Naturzustande wächst die Pflanze höchstenn 9 Zoll hoch; ihre Stengel krümmen sich und bringt nur zwei Körnchen in jedem Aehrenkopfe zur Reife, oft nur eins. Die Stengel sind ungemein spröde und die reifen Aehren schwärzen sich und fallen ab, wie Blätter vom Baume. Auch in dieser Beziehung bemerkte Fabre schon an seiner ersten Ernte bedeutende Verbesserungen. Der Ertrag so gewonnener Saat war 1840 beinahe schon weizenartig, 1841 traten die Körner schon ganz wie kleiner Weizen auf, mit sehr abgekürzten Bärten. Im Jahre 1843 schossen die Stengel drei Fuß hoch und dabei stärker, als in jedem Jahre vorher; die Körner waren dicker und gehaltvoller. Ein Korn hatte 380, ein anderes sogar 440 Kinder zur Reife gebracht. Im Jahre 1845 erntete Fabre zum ersten Male ganz vollkommen Weizen aus den erzogenen „studirten“ Häuptern seines Grases. Die der Erde anvertrauten Kinder desselben bringen seitdem stets wieder ganz noblen Stoff zu dem feinsten Kuchen.

Wir haben hier eine der merkwürdigsten Phänomene von Naturerziehung vor uns. In sieben Jahren werden die inhaltarmen Graskörnchen zur Fülle und Noblesse des höchsten Adels unter den Cerealien erhoben. Blos der gewöhnliche Gymnasialcursus, der nach sieben Jahren erst ziemlich ungeschliffene Edelsteine von Füchsen und „Kümmeltürken“ an die Universitäten abliefert. Die fabre’sche Schule ist auch insofern interessant, als sie den Zweifel über den Ursprung unseres Weizens gelöst haben wird. Botaniker haben oft behauptet, unser Weizen sei einst ein armer, roher Bewohner heißer Ebenen Siciliens, Persiens und Babyloniens gewesen. Wir haben jetzt die Bestätigung. Wir brauchen keine ursprünglichen Varietäten mehr anzunehmen. Der Weizen ist ein erzogener, cultivirter Sohn der Wildniß und stammt aus dem niedern Volke, wie oft unser höchster Standes- und Geistesadel. In Frankreich gilt unter den gelehrten Agriculturisten schon allgemein die Theorie, daß alle Weizenarten Kinder des mittelländischen, sicilischen Aegilops seien.

Von 1845 an säete Fabre seine gebildeten Ziegenaugen in’s offene Feld und zwar zwischen Weinberge an Landstraßen hin, mit einem durchschnittlichen achtfachen Ertrage, ohne Verschlechterung und ohne irgend eine Neigung der Pflanze, in den rohen Naturzustand zurückzukehren. Die Stämme blieben stark und grade, die Aehren rund und bartlos, vollkommen mehlhaltig und gesund. Wer kann nach einem solchen Experimente noch behaupten, daß Bauern in der Schule nicht noch viel lernen könnten und müßten, damit wir alle gut und wohlfeil leben und die zerlumpte, bettelnde, verhungernde Noth mit dem Schrecklichsten des Lächerlichen, mit dem Lächerlichsten des Schrecklichen, der schandbarsten Satire auf unsere Civilisation, der Kartoffel-Revolution verschwinde? Der bärtige Weizen Egyptens läßt sich rasiren, sobald er in England einheimisch wird, und statt sich, wie die englischen Gentlemen vom reinsten Wasser, täglich zweimal zu rasiren, läßt er sich lieber gar keinen Bart mehr wachsen, um die so gesparte Kraft zu Mehl zu verwenden. Unter dem gemeinen Volke findet man die Sage, daß Weizen in nassen Jahren zu Riedgras werde. Das ist nicht wahr, aber richtig ist’s, daß, wenn man die gebildete Natur minder roh, tyrannisch oder gar nicht zu behandeln anfängt, sie in ihre Rohheit wieder zurückfällt, was auch Menschen nicht abwehren können, wenn Rohheit und Ungerechtigkeit das Scepter über ihnen schwingen.

Fabre hat seinen Bericht über die Gras-in-Weizen-Verwandlungsschule mit dem Rathe geschlossen, man solle den gewöhnlichen Weizen durchweg biennal, zweijährig, behandeln, d. h. im Herbste säen und im nächsten Frühherbste ernten. Diese Behandlung lohne mit reichlicherem Ertrage und besserer Qualität. Letzterer Rath ist durchaus Sache der Herren vom Fache und hängt wohl mehr vom Klima und Boden ab, so daß er hier gut und dort schlecht sein kann.

Wir begnügen uns mit dem Falle im Allgemeinen und seiner Moral. Natur und Menschen müssen gegenseitig bei einander in die Schule gehen.