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der kreatürlichen Gottesgaben in Wissenschaft und Kunst auseinandergefallen wären, das alles wurde warhaft überwunden durch den alles beherrschenden Satz der Harleß’schen Ethik, dass das ware Christentum das ware Menschentum sei. So kann ich sagen, dass ich nicht auf dogmatischem, sondern auf ethischem Wege Lutheraner geworden bin. „„Das ist Warheit““: dies war jedesmal der tiefste Eindruck, den ich hatte, wenn ich aus dem Kolleg von Harleß ging“.

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 Doch Harleß wirkte in Leipzig nicht bloß als akademischer Lehrer, sondern auch als Prediger. Einer seiner Kollegen soll in der Anfangszeit auf die Frage eines Bekannten, welches denn Harleß’ Stellung in Leipzig sei, geantwortet haben: Mit seinen Vorlesungen findet er wenig Eingang, desto mehr mit seinen Predigten. Harleß sollte in Leipzig zu einem der kräftigsten, glänzendsten und gesegnetsten Prediger unserer Zeit reifen, derselbe Mann, der, als er endlich für die Theologie sich entschieden hatte, alsbald den Entschluss fasste, sich dem Katheder zu widmen, weil er vor dem Predigen eine unüberwindliche, ihm selbst unerklärliche Scheu hatte. Als Harleß in Erlangen ordentlicher Professor geworden war, sollte er auch die Universitätspredigerstelle übernehmen; er bat damals Gott unter Tränen, er möge ihm diese Last nicht auflegen; nur ungern hat er sie sechs Jare später auf die Schultern von Thomasius gelegt; sie war ihm längst Freude und Erquickung geworden. In Leipzig predigte Harleß zuerst nur von Zeit zu Zeit in der Universitätskirche nach dem Rechte eines theologischen Ordinarius. Es gehört zu den merkwürdigsten Fürungen seines Lebens, dass er schon nach kaum zwei Jaren auf Grund dieser Predigten von der Vertretung der Stadt, in welcher er in dem ersten von ihm besuchten Gottesdienst, einer Reformationsfestfeier, den Deutschkatholizismus als eine feurige Wagenburg um die protestantische Kirche hatte rühmen hören, zum Pastor an St. Nikolai gewält wurde. Harleß nahm nach ernster Überlegung die Wal an und bekleidete von nun an ein Doppelamt, wie es von gleichem Gewicht und Umfang nur selten in diesem Jarhundert von Theologen innegehabt wurde. Wie providenziell war es widerum, dass Harless vierundzwanzig Stunden später, als er die Vokation zu

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Adolf von Stählin: Löhe, Thomasius, Harleß. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1887, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_L%C3%B6he,_Thomasius,_Harle%C3%9F.pdf/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)