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Spähte sorgend in die Ferne.
Sieh! Auf weißem Nebelpfade
Stieg das Liebespaar gerade
Nieder zu der dunkeln Erde.

Fest umschlungen hielt der falsche
Mond die schöne Sonnentochter,
Die sich willig des Verführers
Süßer Überredung hingab.

Zornesbebend sprang Frau Sonne,
Blutig leuchtend jetzt vom Lager,
Rief mit Klagen, rief mit Fluchen
Pehrkons Rat und Hilfe an.

Und der Donnrer schwang aufs graue
Wolkenroß die mächtigen Glieder,
Schwang ums Haupt sein großes Schlachtschwert
Blitze sprühend auf die Erde,
Ritt im Sturme, sausend, brausend.
Den verliebten Flücht’gen nach.

Furchtbar traf den Mond das Schlachtschwert.
Spaltet’ ihn, daß seine Scheibe
Ward entstellt zur schmalen Sichel,
Furchtbar traf die Sonuentochter
Pehrkons Fluch: „Sei ausgestoßen
Aus dem Kreis der sel’gen Götter.
Die du Pflicht und Scham vergessen!

Auf die arme Erde bann’ ich,
Falsche, dich, – dort magst dein Leben
Du in Feuersflammen fristen.
Brennen in des Knechtes Stube,
Auf dem Herd des Ackerpflügers!“

Seit dem Tage sehn als Sichel
Wir den Mond am Himmel droben,
Seit dem Tag irrt Sonnentochter
Unten auf der armen Erde. …

(Nach einem lettischen Märchen.)
Empfohlene Zitierweise:
Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/46&oldid=- (Version vom 4.9.2016)