„Und besteht dieses nicht aus lauter einzelnen Menschen?“
„Mein Kind, ein Reich, ein Staat lebt ein längeres und wichtigeres Leben, als die Individuen. Diese schwinden, Generation um Generation, und das Reich entfaltet sich weiter; wächst zu Ruhm, Größe und Macht, oder sinkt und schrumpft zusammen und verschwindet, wenn es sich von anderen Reichen besiegen läßt. Darum ist das Wichtigste und Höchste, was jeder Einzelne erstreben muß und wofür er jederzeit gern sterben soll, die Existenz, die Größe, die Wohlfahrt des Reiches.“
Diese Worte prägte ich mir ein, um sie am selben Tag in den roten Heften zu notieren. Sie schienen mir so kräftig und bündig dasjenige auszudrücken, was ich in meiner Lernzeit aus den Geschichtsbüchern herausgefühlt hatte, und was mir in der letzten Zeit – seit Arnos Abmarsch – durch Angst und Mitleid aus dem Bewußtsein verdrängt worden war. Daran wollte ich mich wieder so fest wie möglich klammern, um in der Idee Trost und Erhebung zu finden, daß mein Liebster um einer großen Sache willen gefallen, daß mein Unglück selber ein Bestandteil dieser großen Sache war.
Tante Marie hatte wieder andere Trostgründe zur Hand. „Weine nicht, liebes Kind,“ pflegte sie zu sagen, wenn sie mich in Trauer versunken fand. „Sei nicht so selbstsüchtig, denjenigen zu beklagen, dem es jetzt so wohl geht. Er ist unter den Seligen und sieht segnend auf Dich herab. Noch ein paar schnell verflossene Erdenjahre und Du findest ihn wieder in seiner vollen
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. Dresden/Leipzig: E. Pierson’s Verlag, 1899, Band 1, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_1).djvu/064&oldid=- (Version vom 31.7.2018)