„Was ist das?“ fragte ich aufhorchend – „man hört läuten.“
„Das ist das Sterbeglöcklein, Frau Baronin,“ antwortete der Schulmeister. „Es wird wohl wieder Jemand in den letzten Zügen liegen … Der Doktor hat erzählt, daß in der Stadt die Sterbeglocke gar nicht mehr aufhört zu erklingen –“
Wir blickten einander alle in der Runde an – stumm und bleich. Hier war er also wieder – der Tod – und Jeder von uns sah dessen knöcherne Hand nach dem Haupte eines Teuern ausgestreckt.
„Fliehen wir!“ schlug Tante Marie vor.
„Fliehen, wohin?“ entgegnete der Lehrer. „Ringsum ist ja das Übel schon verbreitet.“
„Weit, weit weg – über die Grenze –“
„Da wird wohl ein Cordon errichtet werden, über den man nicht hinauskann.“
„Das wäre ja entsetzlich! Man wird doch die Leute nicht hindern, ein verseuchtes Land zu verlassen?“
„Gewiß – die gesunden Gegenden werden sich gegen Einschleppung verwahren.“
„Was thun, was thun?!“ Und Tante Marie rang die Hände.
„Den Willen Gottes abwarten,“ antwortete mein Vater mit einem tiefen Seufzer. „Du bist doch sonst so bestimmungsgläubig, Marie – ich verstehe Deine Fluchtsehnsucht nicht. Eines jeden Menschen Schicksal erreicht ihn, wo er immer sei … Aber immerhin – mir wäre es auch lieber, wenn ihr Kinder abreisen
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. E. Pierson’s Verlag, Dresden/Leipzig 1899, Band 2, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_2).djvu/154&oldid=- (Version vom 31.7.2018)