Der große Philosoph des Positivismus, John Stuart Mill, hat einmal gesagt, die Menschheit könne nicht oft genug daran erinnert werden, daß es einst einen Mann Namens Sokrates gegeben hat. Er hat recht; aber wichtiger ist es, die Menschheit immer wieder daran zu erinnern, daß einst ein Mann Namens Jesus Christus in ihrer Mitte gestanden hat. Von Jugend auf ist uns freilich diese Thatsache nahe gebracht worden; aber man kann leider nicht sagen, daß der öffentliche Unterricht in unserem Zeitalter geeignet ist, uns das Bild Jesu Christi auch nach der Schulzeit und für das ganze Leben eindrucksvoll und als einen unveräußerlichen Besitz zu erhalten. Und wenn auch kein Mensch, der einmal einen Strahl von Seinem Lichte in sich aufgenommen hat, je wieder so werden kann, als habe er nie etwas von Ihm gehört, wenn auch auf dem Grunde jeder einmal berührten Seele ein Eindruck zurückbleibt – diese verworrene Erinnerung, oft nur eine „superstitio“, genügt nicht, um Kraft und Leben aus ihr zu schöpfen. Wächst aber das Verlangen, mehr und Sichereres von ihm zu wissen, und begehrt Einer zuverlässige Kunde darüber, wer Jesus Christus gewesen sei und wie seine Botschaft wirklich gelautet habe, so sieht er sich alsbald, wenn er die Tageslitteratur befragt, von widerspruchsvollen Stimmen umschwirrt. Er hört solche, die da behaupten, das ursprüngliche Christentum habe dem Buddhismus sehr nahe gestanden, und es wird ihm demgemäß gesagt, daß sich in der Weltflucht und dem Pessimismus das Erhabene dieser Religion und ihre Tiefe offenbare. Andere versichern ihm dagegen, daß das Christentum eine optimistische Religion sei und lediglich als eine
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/005&oldid=- (Version vom 30.6.2018)