für das Leben des einzelnen wie für den großen Gang der Menschheitsgeschichte. Wie streng und klar muß aber dann das Denken eines religiösen Menschen sein, wenn er trotzdem an der Erkenntnis der Unverbrüchlichkeit des raumzeitlichen Geschehens festhält! Wer kann sich wundern, daß selbst hohe Geister die Gebiete nicht rein zu scheiden vermögen? Und da wir alle in erster Linie nicht in Begriffen, sondern in Anschauungen leben und in einer Bildersprache – wie läßt es sich vermeiden, daß wir das Göttliche und das, was zur Freiheit führt, auffassen als eine mächtige Kraft, die in den Naturzusammenhang eingreift, ihn durchbricht oder aufhebt? Diese Vorstellung, obgleich sie nur der Phantasie angehört und bildlich ist, wird, so scheint es, bleiben, so lange es Religion giebt.
Viertens endlich, der Naturzusammenhang ist unverbrüchlich; aber die Kräfte, die in ihm thätig sind und mit anderen Kräften in Wechselwirkung stehen, kennen wir längst noch nicht alle. Wir kennen noch nicht einmal die materiellen Kräfte lückenlos und den Spielraum ihrer Wirkungen; wir wissen aber noch viel weniger von den psychischen Kräften. Wir sehen, daß ein fester Wille und ein überzeugter Glaube einwirken auch auf das leibliche Leben und Erscheinungen hervorrufen, die uns wie Wunder anmuten. Wer hat hier bisher den Bereich des Möglichen und Wirklichen sicher abgemessen? Niemand. Wer kann sagen, wie weit die Einwirkungen der Seele auf die Seele und der Seele auf den Körper reichen? Niemand. Wer darf noch behaupten, daß all das, was auf diesem Gebiete an Auffallendem zu Tage tritt, nur auf Täuschung und Irrtum beruht? Gewiß, es geschehen keine Wunder, aber des Wunderbaren und Unerklärlichen giebt es genug. Weil wir das heute wissen, sind wir auch vorsichtiger und im Urteil zurückhaltender geworden gegenüber Wunderberichten aus dem Altertum. Daß die Erde in ihrem Lauf je stille gestanden, daß eine Eselin gesprochen hat, ein Seesturm durch ein Wort gestillt worden ist, glauben wir nicht und werden es nie wieder glauben; aber daß Lahme gingen, Blinde sahen und Taube hörten, werden wir nicht kurzer Hand als Illusion abweisen.
Aus diesen Andeutungen mögen Sie selbst die richtige Stellung zu den evangelischen Wunderberichten entwickeln und das Facit ziehen. Im einzelnen, d. h. bei der Anwendung auf die konkreten Wundererzählungen, wird immer eine gewisse Unsicherheit nachbleiben. Soviel ich sehe, lassen sich hier folgende Gruppen
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 018. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/022&oldid=- (Version vom 30.6.2018)