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ist; nirgendwo spricht er wie einer, der sich technisch-theologische Bildung und die Kunst gelehrter Exegese angeeignet hat. Wie deutlich erkennt man dagegen aus den Briefen des Apostels Paulus, daß er zu den Füßen theologischer Lehrer gesessen! Bei Jesus finden wir nichts hiervon, es machte daher Aufsehen, daß er überhaupt in den Schulen auftrat und lehrte. In der heiligen Schrift lebte und webte er, aber nicht wie ein berufsmäßiger Lehrer.

Ferner, zu den Essenern, einem merkwürdigen jüdischen Mönchsorden, kann er keine Beziehungen gehabt haben. Hätte er ja welche besessen, so wäre er einer jener Schüler gewesen, die die Abhängigkeit von ihren Meistern dadurch bewähren, daß sie das Gegenteil von dem verkündigen und thun, was sie gelernt haben. Die Essener hielten auf gesetzliche Reinheit bis zum Äußersten und schlossen sich strenge nicht nur gegen die Unreinen, sondern auch gegen die Laxeren ab. Ihre peinliche Absonderung, das Wohnen in bestimmten Ortschaften, ihre täglichen zahlreichen Waschungen lassen sich nur von hier aus verstehen. Bei Jesus finden wir den vollen Gegensatz zu dieser Lebensweise: er sucht die Sünder auf und ißt mit ihnen. Schon dieser fundamentale Unterschied macht es sicher, daß er den Essenern ganz fern gestanden hat. In den Zielen und Mitteln ist er von ihnen geschieden. Wenn er in manchen Einzelanweisungen an seine Jünger mit ihnen zusammenzutreffen scheint, so sind das zufällige Berührungen; denn die Motive waren völlig andere.

Weiter, wenn nicht alles trügt, liegen hinter der uns offenbaren Zeit des Lebens Jesu keine gewaltigen Krisen und Stürme, kein Bruch mit seiner Vergangenheit. Nirgendwo in seinen Sprüchen und Reden, mag er drohen und strafen oder freundlich locken und rufen, mag er von seinem Verhältnis zum Vater oder zur Welt sprechen, bemerkt man überstandene innere Umwälzungen oder die Narben eines furchtbaren Kampfes. Wie selbstverständlich, als könnte es nicht anders sein, strömt alles bei ihm hervor – so bricht der Quell aus den Tiefen der Erde, klar und ungehemmt. Nun zeige man uns den Menschen, der mit dreißig Jahren so sprechen kann, wenn er heiße Kämpfe hinter sich hat, Seelenkämpfe, in denen er schließlich das verbrannt hat, was er einst angebetet, und das angebetet, was er verbrannt hat! Man zeige uns den Menschen, der mit seiner Vergangenheit gebrochen hat, um dann auch die anderen zur Buße zu rufen, der aber dabei von seiner

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 021. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/025&oldid=- (Version vom 30.6.2018)