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das Messer ansetzen und scheiden. Hoffen wir, dann billige Richter zu finden, die unsere Gedanken nicht nach dem beurteilen, was wir unwissentlich aus der Überlieferung übernommen und zu kontrollieren nicht die Kraft oder den Beruf besessen haben, sondern nach dem, was unserem Eigensten entstammt ist, wo wir das Überlieferte und gemeinhin Herrschende umgebildet oder verbessert haben.

Gewiß, die Aufgabe des Historikers ist schwer und verantwortungsvoll, zwischen Überliefertem und Eigenem, Kern und Schale in der Predigt Jesu vom Reiche Gottes zu scheiden. Wie weit dürfen wir gehen? Wir wollen dieser Predigt doch nicht ihre eingeborene Art und Farbe nehmen, wir wollen sie doch nicht in ein blasses moralisches Schema verwandeln! Aber anderseits – wir wollen ihre Eigenart und Kraft auch nicht verlieren, indem wir denen beitreten, die sie in die allgemeinen Zeitvorstellungen auflösen! Schon die Art, wie Jesus unter ihnen unterschieden hat – er hat keine beiseite gelassen, in der nicht ein Funke sittlicher Kraft lag, und er hat keine aufgenommen, welche die eigensüchtigen Erwartungen seines Volkes verstärkte, – schon diese Unterscheidung lehrt, daß er aus einer tieferen Erkenntnis heraus gesprochen und gepredigt hat. Aber wir besitzen viel schlagendere Zeugnisse. Wer wissen will, was das Reich Gottes und das Kommen dieses Reiches in der Verkündigung Jesu bedeuten, der muß seine Gleichnisse lesen und überdenken. Da wird ihm aufgehen, um was es sich handelt. Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält, und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung. Nehmen Sie welches Gleichnis Sie wollen, vom Säemann, von der köstlichen Perle, vom Schatz im Acker – das Wort Gottes, Er selbst ist das Reich, und nicht um Engel und Teufel, nicht um Throne und Fürstentümer handelt es sich, sondern um Gott und die Seele, um die Seele und ihren Gott.




Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 036. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/040&oldid=- (Version vom 30.6.2018)