betet nicht, um stürmische Wünsche gen Himmel zu senden oder um dieses oder jenes irdische Gut zu erlangen, sondern er betet, um sich die Kraft zu erhalten, die er schon besitzt, und die Einheit mit Gott zu sichern, in der er lebt. Dieses Gebet kann daher nur gesprochen werden in tiefster Sammlung des Gemütes und bei vollkommenster Konzentrierung des Geistes auf das innere Verhältnis, auf das Verhältnis zu Gott. Alle anderen Gebete sind „leichter“; denn sie enthalten Particulares oder sind so zusammengesetzt, daß sie die sinnliche Phantasie irgendwie mitbewegen – dieses Gebet führt aus Allem heraus und auf jene Höhe, auf der die Seele mit ihrem Gott allein[AU 1] ist. Und doch verschwindet das Irdische nicht, die ganze zweite Hälfte des Gebetes bezieht sich auf irdische Verhältnisse. Aber sie stehen im Lichte des Ewigen. Alles Bitten um besondere Gnadengaben, um besondere Güter, auch geistliche, sucht man vergebens. „Solches wird euch Alles zufallen.“[WS 1] Der Name, der Wille, das Reich Gottes – diese ruhenden und stetigen Elemente sind ausgebreitet auch über die irdischen Verhältnisse. Sie schmelzen alles Eigensüchtige und Kleine hinweg und lassen nur vier Stücke bestehen, derentwegen es sich lohnt zu bitten: Das tägliche Brot, die tägliche Schuld, die täglichen Versuchungen und das Böse des Lebens. Es giebt nichts in den Evangelien, was uns sicherer sagt, was Evangelium ist, und welche Gesinnung und Stimmung es erzeugt, als das „Vater-Unser“. Auch soll man allen, die das Evangelium heruntersetzen, indem sie es für etwas Asketisches oder Ekstatisches oder Sociologisches ausgeben, das Vater-Unser vorhalten. Nach diesem Gebet ist das Evangelium Gotteskindschaft, ausgedehnt über das ganze Leben, ein innerer Zusammenschluß mit Gottes Willen und Gottes Reich und eine freudige Gewißheit im Besitz ewiger Güter und in Bezug auf den Schutz vor dem Übel.
Und der zweite Spruch – wenn Jesus sagt: „Freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan sind, freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind,“[WS 2] so ist auch hier mit besonderer Kräftigkeit der Gedanke hervorgehoben, daß das Bewußtsein, in Gott geborgen zu sein, in dieser Religion das Entscheidende ist. Selbst die größten Thaten, sogar die Werke, die in Kraft dieser Religion gethan werden, reichen nicht heran an die demütige und stolze Zuversicht, für Zeit und Ewigkeit unter dem väterlichen Schutze Gottes zu stehen. Noch mehr – die Echtheit,
Anmerkung des Autors (1908)
- ↑ „die Seele mit ihrem Gott allein“ – dies bleibt bestehen, obgleich das Gebet im Plural gefaßt ist.
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 042. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/046&oldid=- (Version vom 30.6.2018)