d. h. fortschreitend in Kraft gesetzt. Aber erst durch Jesus Christus ist der Wert jeder einzelnen Menschenseele in die Erscheinung getreten, und das kann Niemand mehr ungeschehen machen. Man mag zu ihm selbst stehen, wie man will, die Anerkennung, daß er in der Geschichte die Menschheit auf diese Höhe gestellt hat, kann ihm Niemand versagen.
Eine Umwertung der Werte liegt dieser höchsten Wertschätzung zu Grunde. Dem, der sich seiner Güter rühmt, ruft er zu: „Du Narr.“[WS 1] Allen aber hält er vor: „Nur wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“[WS 2] Er kann sogar sagen: „Nur wer seine Seele haßt, wird sie bewahren.“[WS 3] Das ist die Umwertung der Werte, die vor ihm manche geahnt, deren Wahrheit sie wie durch einen Schleier geschaut, deren erlösende Kraft – ein beseligendes Geheimnis – sie vorempfunden haben. Er zuerst hat es ruhig, einfach und sicher ausgesprochen, wie wenn das eine Wahrheit wäre, die man von den Sträuchern pflücken kann. Das ist ja das Siegel seiner Eigenart, daß er das Tiefste und Entscheidende in vollkommener Einfachheit ausgesprochen hat, als könne es nicht anders sein, als sage er etwas Selbstverständliches, als rufe er nur zurück, was alle wissen, weil es im Grunde ihrer Seele lebt.
In dem Gefüge: Gott der Vater, die Vorsehung, die Kindschaft, der unendliche Wert der Menschenseele, spricht sich das ganze Evangelium aus. Wir müssen uns aber klar machen, wie paradox dies alles ist, ja, daß die Paradoxie der Religion erst hier zu ihrem vollen Ausdruck kommt. Alles Religiöse – nicht nur die Religionen – ist, gemessen an der sinnlichen Erfahrung und dem exakten Wissen, paradox; es wird hier ein Element eingeführt und für das wichtigste erklärt, welches den Sinnen gar nicht erscheint und dem Thatbestande der Dinge ins Gesicht schlägt. Aber alle andern Religionen sind irgendwie mit dem Weltlichen so verflochten, daß sie ein irdisch einleuchtendes Moment in sich tragen, bezw. dem geistigen Zustand einer bestimmten Epoche stofflich verwandt sind. Was aber kann weniger einleuchtend sein als die Rede: Eure Haare auf dem Haupte sind gezählet; ihr habt einen überweltlichen Wert, ihr könnt euch in die Hände eines Wesens befehlen, das Niemand geschaut hat. Entweder ist das eine sinnlose Rede, oder die Religion ist hier zu Ende geführt; sie ist nun nicht mehr blos eine Begleiterscheinung des sinnlichen Lebens, ein Coefficient, eine Verklärung bestimmter Teile desselben, sondern
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 044. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/048&oldid=- (Version vom 30.6.2018)