Werke“ in Verflechtung mit dem gottesdienstlichen Ritual schlechterdings nichts mehr wissen. Entrüsteten Spott hat er für diejenigen, die den Nächsten, ja ihre Eltern darben lassen, aber dafür an den Tempel Geschenke schicken. Hier kennt er keinen Kompromiß. Die Liebe, die Barmherzigkeit hat ihren Zweck in sich; sie wird entwertet und geschändet, wenn sie etwas anderes als Dienst am Nächsten sein soll.
Zweitens, er geht überall in den sittlichen Fragen auf die Wurzel, d. h. auf die Gesinnung zurück. Das, was er „bessere Gerechtigkeit“[WS 1] nennt, ist lediglich von hier aus zu verstehen. Die „bessere“ Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit, welche bestehen bleibt, auch wenn man den Maßstab in die Tiefe des Herzens senkt. Wieder scheinbar etwas sehr Einfaches, Selbstverständliches. Dennoch hat er diese Wahrheit in die scharfe Form gekleidet: „Zu den Alten ist gesagt worden .... Ich aber sage euch.“[WS 2] Also war es doch ein Neues; also wußte er, daß es mit solcher Konsequenz und Souveränetät noch nicht ausgesprochen worden war. Einen großen Teil der sogenannten Bergpredigt nimmt jene Verkündigung ein, in welcher er die einzelnen großen Gebiete menschlicher Beziehungen und menschlicher Verfehlungen durchgeht, um überall die Gesinnung aufzudecken, die Werke nach ihr zu beurteilen und Himmel und Hölle an sie zu knüpfen.
Drittens, er führt Alles, was er aus der Verflechtung mit dem Eigensüchtigen und Rituellen befreit und als das Sittliche erkannt hat, auf eine Wurzel und auf ein Motiv zurück, – die Liebe. Ein anderes kennt er nicht, und die Liebe ist selbst nur eine, mag sie als Nächsten-, Samariter- oder Feindesliebe erscheinen. Sie soll die Seele ganz erfüllen; sie ist das, was bleibt, wenn die Seele sich selber stirbt. In diesem Sinne ist die Liebe bereits das neue Leben. Immer aber ist es die Liebe, die da dient; nur in dieser Funktion ist sie vorhanden und lebendig.
Viertens, wir haben gesehen, Jesus hat das Sittliche herausgeführt aus allen ihm fremden Verbindungen, selbst aus der Verknüpfung mit der öffentlichen Religion. Die haben ihn also nicht mißverstanden, die da erklärten, es handle sich im Evangelium um die gemeine Moral. Und doch – einen entscheidenden Punkt giebt es, an welchem er die Religion und die Moral zusammenbindet. Dieser Punkt will empfunden sein; er läßt sich nicht leicht fassen. Im Hinblick auf die Seligpreisungen darf man ihn viel-
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 046. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/050&oldid=- (Version vom 30.6.2018)