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Thatsachen entsprechende Stellung zu finden, so haben wir eine kurze zeitgeschichtliche Vorbemerkung zu machen.

Die sozialen Zustände, wie sie im Zeitalter Jesu und schon geraume Zeit vorher in Palästina herrschten, sind uns nicht hinreichend bekannt. Aber gewisse Hauptzüge vermögen wir festzustellen und können namentlich ein Doppeltes konstatieren:

1. Die herrschenden Klassen, zu welchen vor allem die Pharisäer und auch die Priester gehörten – diese z. T. verbunden mit den irdischen Machthabern –, besaßen wenig Herz für die Not des armen Volkes. Es mag nicht viel schlimmer gewesen sein, als es bei jenen Klassen zu allen Zeiten und bei allen Völkern zugeht, aber es war schlimm. Und es kam hier noch hinzu, daß das Interesse für den Kultus und für die kultische „Gerechtigkeit“ die Teilnahme für den Armen und die Barmherzigkeit zurückdrängte. Die Bedrückung und Tyrannei seitens der Reichen war längst ein stehendes und unerschöpfliches Thema der Psalmisten und aller wärmer Empfindenden geworden. Auch Jesus hätte nicht so von den Reichen sprechen können, wie er gesprochen hat, wenn sie nicht damals in gröblicher Weise ihre Pflichten vernachlässigt hätten.

2. In den Kreisen des gedrückten und armen Volkes, in dieser großen Masse von Not und Übel, unter jenen zahlreichen Leuten, für die das Wort „Elend“ oft nur ein anderer Ausdruck für das Wort „Leben“, ja das Leben selbst ist – in diesem Volke hat es, wie wir sicher erkennen können, damals Kreise gegeben, die mit Inbrunst und unerschütterlicher Hoffnung an den Zusagen und Tröstungen ihres Gottes hingen, in Demut und Geduld wartend auf den Tag, da ihre Erlösung kommen werde. Oft zu arm, um auch nur die dürftigsten kultischen Segnungen und Vorteile erwerben zu können, gedrückt und gestoßen, in Ungerechtigkeit mißhandelt, konnten sie nicht zum Tempel aufschauen; aber sie blickten auf den Gott Israels, und heiße Gebete stiegen zu ihm empor: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“[WS 1] So waren sie aufgeschlossen und empfänglich für Gott, und in manchen Psalmen und der ihnen verwandten späteren jüdischen Litteratur ist das Wort „die Armen“ geradezu eine Bezeichnung für die Empfänglichen, die auf den Trost Israels warteten. Diesen Sprachgebrauch fand Jesus vor und hat sich ihm angeschlossen. Wir können daher, wenn wir in den Evangelien auf das Wort „die Armen“ stoßen, nicht ohne weiteres nur an die wirtschaftlich Armen denken. Thatsächlich fiel damals die

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jes 21,11.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 058. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/062&oldid=- (Version vom 30.6.2018)