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inwiefern sie durch seine Barmherzigkeit modifiziert wird, davon kann hier abgesehen werden. Also, daß Jesus das Recht als solches und die Rechtsübung abschätzig beurteilt habe, davon kann keine Rede sein. Jedem soll vielmehr sein Recht werden, ja noch mehr: seine Jünger werden einst an der Rechtsprechung Gottes teilnehmen und selbst richten! Nur das Recht, wie es mit Gewalt und daher als Unrecht geübt wurde, das Recht, welches wie ein tyrannisches und blutiges Verhängnis über dem Volke lag, das hat er beiseite geschoben. An das wahre Recht glaubte er, und er war auch gewiß, daß es sich durchsetzen werde; er war dessen so gewiß, daß er nicht meinte, das Recht müsse Gewalt brauchen, um Recht zu bleiben.

Das führt uns auf das Letzte. Wir besitzen eine Reihe von Sprüchen Jesu, in denen er seine Jünger angewiesen hat, auf alle Rechtsforderung zu verzichten und sich somit ihres Rechtes zu begeben. Sie alle kennen diese Sprüche. Ich erinnere nur an das Wort: „Ihr sollt nicht widerstreben dem Bösen, sondern so dir jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar, und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel.“[WS 1] Hier scheint eine Forderung aufgestellt zu sein, die das Recht verurteilt und das Rechtsleben auflöst. Je und je hat man sich daher auf diese Worte berufen, um, sei es die Unvereinbarkeit des Evangeliums mit dem wirklichen Leben, sei es den Abfall der Christenheit von ihrem Meister darzuthun. Dem gegenüber ist folgendes zu bemerken: 1. Jesus war, wie wir gesehen haben, von der Überzeugung durchdrungen, daß Gott das Recht schafft; zuletzt also wird nicht der Vergewaltigende siegen, sondern der Bedrückte wird sein Recht erhalten, 2. irdische Rechte sind an sich eine geringe Sache; sie zu verlieren bedeutet nicht viel, 3. die Verhältnisse sind so traurig, die Ungerechtigkeit hat auf Erden so überhand genommen, daß der Bedrückte sein Recht nicht durchzusetzen vermag, auch wenn er es versuchte, 4. – und das ist die Hauptsache, – wie Gott seine Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit durchwaltet und seine Sonne über Gute und Böse scheinen läßt, so soll der Jünger Jesu seinen Gegnern Liebe beweisen und sie durch Sanftmut entwaffnen. Das sind die Gedanken, welche jenen hohen Sprüchen zu Grunde liegen und die ihnen zugleich ihr Maß geben. Und ist die Forderung, die sie enthalten, wirklich eine so überirdische, unmögliche? Weisen wir nicht

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 5,39f.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 070. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/074&oldid=- (Version vom 30.6.2018)