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ursprünglich empfunden worden ist. Nehmen wir aber noch hinzu, daß Jesus selbst seinen Tod als einen Dienst bezeichnet hat, den er den Vielen leiste, und daß er ihm durch eine feierliche Handlung ein fortwirkendes Gedächtnis gestiftet hat – ich sehe keinen Grund, diese Thatsache zu bezweifeln –, so verstehen wir es, wie dieser Tod, die Schmach des Kreuzes, in den Mittelpunkt rücken mußte.


Aber als „der Herr“ ist er nicht nur deßhalb verkündigt worden, weil er für die Sünder gestorben ist, sondern weil er der Auferweckte, Lebendige ist.[AU 1] Wenn diese Auferweckung nichts anderes besagte, als daß ein erstorbener Leib von Fleisch und Blut wieder lebendig gemacht worden sei, so würden wir alsbald mit dieser Überlieferung fertig sein. Aber so steht es nicht. Das Neue Testament selbst unterscheidet zwischen der Osterbotschaft von dem leeren Grabe und den Erscheinungen Jesu einerseits und dem Osterglauben andererseits. Obschon es den höchsten Wert auf jene Botschaft legt, verlangt es den Osterglauben auch ohne sie. Die Geschichte des Thomas wird ausschließlich zu dem Zwecke erzählt, um einzuschärfen, daß man sicher und zuversichtlich den Osterglauben haben solle, auch ohne sich von der Osterbotschaft persönlich überzeugt zu haben: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“[WS 1] Die Jünger, die nach Emmaus gingen, werden gescholten, weil ihnen der Glaube an die Auferweckung fehlt, obgleich sie die Osterbotschaft noch gar nicht erhalten haben. Der Herr ist der Geist, sagt Paulus, und in diese Gewißheit war seine Auferweckung mit eingeschlossen. Die Osterbotschaft berichtet von dem wunderbaren Ereignis im Garten des Joseph von Arimathia, das doch kein Auge gesehen hat, von dem leeren Grabe, in das einige Frauen und Jünger hineingeblickt, von den Erscheinungen des Herrn in verklärter Gestalt – so verherrlicht, daß die Seinen ihn nicht sofort erkennen konnten –, bald auch von Reden und Thaten des Auferstandenen; immer vollständiger und zuversichtlicher wurden die Berichte. Der Osterglaube aber ist die Überzeugung von dem Siege des Gekreuzigten über den Tod, von der Kraft und der Gerechtigkeit Gottes und von dem Leben dessen, der der Erstgeborene ist unter vielen Brüdern. Für Paulus waren die Grundlage seines Osterglaubens die Gewißheit, daß „der zweite Adam“[WS 2] vom Himmel ist, und die Erfahrung, daß Gott ihm seinen Sohn als lebendigen offenbart habe auf dem Wege nach Damaskus. Er hat ihn „in mir“[WS 3] offenbart, sagt er, aber diese innere Offenbarung war mit einem „Schauen“ ver-

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Die hier gemachte Unterscheidung von Osterbotschaft und Osterglaube ist vielfach beanstandet worden; ich vermag sachlich nichts an ihr zu ändern, räume aber ein, daß das Wort „Osterbotschaft“ nicht ganz glücklich gewählt und daher mißverständlich ist. Gemeint sind die konkreten Osterberichte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh 20,29.
  2. 1. Kor 15,45.47.
  3. Gal 1,16.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/105&oldid=- (Version vom 30.6.2018)