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als die Geschichte, die ihn nur als Missionar Christi kennt, und weil sein eigenes Wort klar bezeugt, was er sein wollte und war, fassen wir ihn als Jünger Jesu, als den Apostel, der nicht nur mehr gearbeitet, sondern auch Größeres gethan hat als die anderen alle.

Paulus[AU 1] ist es gewesen, der die christliche Religion aus dem Judentum herausgeführt hat. Wie das geschehen ist, werden wir erkennen, wenn wir folgendes erwägen:

1. Paulus ist es gewesen, der das Evangelium bestimmt so gefaßt hat, daß es die Botschaft ist von der geschehenen Erlösung und dem bereits gegenwärtigen Heil. Er verkündigte den gekreuzigten und auferstandenen Christus, der uns den Zugang zu Gott und damit Gerechtigkeit und Friede gebracht hat.

2. Er ist es gewesen, der das Evangelium sicher als etwas Neues beurteilt hat, das die Gesetzesreligion aufhebt.

3. Er hat erkannt, daß diese neue Stufe dem einzelnen und daher allen gehört, und hat in dieser Überzeugung das Evangelium mit vollem Bewußtsein in die Völkerwelt getragen und vom Judentum auf den griechisch-römischen Boden hinübergestellt. Nicht nur sollen sich Griechen und Juden auf dem Grunde des Evangeliums vereinigen, nein, die Zeit des Judentums ist jetzt vorbei. Paulus verdankt man es, daß das Evangelium aus dem Orient, wo es auch später niemals recht hat gedeihen können, in den Occident verpflanzt worden ist.

4. Er ist es gewesen, der das Evangelium in das große Schema Geist und Fleisch, inneres und äußeres Leben, Tod und Leben hineingestellt hat; er, der geborene Jude und erzogene Pharisäer, hat ihm die Sprache verliehen, so daß es nicht nur den Griechen, sondern den Menschen verständlich wurde und mit dem gesamten geistigen Kapitale, welches in der Geschichte erarbeitet war, nun in Verbindung trat.

In diesen Elementen, auf deren inneren Zusammenhang ich hier nicht näher einzugehen vermag, liegt die religionsgeschichtliche Größe des Apostels beschlossen. In Bezug auf das erste möchte ich an die Worte des bedeutendsten Religionshistorikers unseres Zeitalters erinnern. Wellhausen schreibt: „Durch Paulus besonders hat sich das Evangelium vom Reich in das Evangelium von Jesu Christo verwandelt, so daß es nicht mehr die Weissagung des Reichs, sondern die durch Jesus Christus geschehene Erfüllung

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Bei den Ausführungen über die epochemachende Bedeutung des Paulus für die Geschichte des Urchristentums hätten auch die Schranken genannt werden müssen in bezug auf die Loslösung vom Judentum, die er noch bestehen gelassen hat: (1.) er hat es für selbstverständlich gehalten oder doch geduldet, daß der christliche Jude das Gesetz forthält, (2.) er hat gemeint, daß sich die dem Volke Israel gegebenen Verheißungen doch noch an ihm besonders erfüllen würden, (3.) er hat die sichere Hoffnung ausgesprochen, daß einst ganz Israel gerettet werden würde. Die volle Loslösung des Christentums vom Judentum haben nach Paulus unbekannte Männer vollzogen.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/115&oldid=- (Version vom 30.6.2018)