religiöse Bewegung bleiben. Sie muß Formen ausbilden für das gemeinschaftliche Leben und den gemeinschaftlichen Gottesdienst. Solche Formen aber improvisiert man nicht; ein Teil bildet sich langsam aus den konkreten Bedürfnissen heraus, ein anderer wird der Umgebung und den bestehenden Verhältnissen entnommen. Die „heidenchristlichen“ Gemeinden haben sich in dieser Weise einen Organismus, einen Körper geschaffen; sie haben die Formen teils selbständig und allmählich gebildet, teils unter Anlehnung an das Gegebene gewonnen.
An den Formen haftet aber stets eine besondere Wertschätzung; da sie das Mittel für die Aufrechterhaltung der Verbindung sind, so geht der Wert der Sache, welcher sie dienen, unvermerkt auf sie selbst über, oder es ist wenigstens stets Gefahr vorhanden, daß dies geschieht. Diese Gefahr liegt auch deshalb so nahe, weil sich die Einhaltung der Formen kontrollieren bezw. erzwingen läßt, während sich das innere Leben einer sicheren Kontrolle entzieht.
Unzweifelhaft war es eine Notwendigkeit, der jüdischen Volksgemeinschaft, nachdem man mit ihr gebrochen hatte, eine neue Gemeinde entgegenzusetzen – das Selbstbewußtsein und die Kraft der christlichen Bewegung zeigte sich in der Schöpfung der „Kirche“, die sich als das wahre Israel weiß. Aber indem Kirchen und die Kirche auf Erden gegründet wurden, trat ein ganz neues Interesse ein; dem Innerlichen stellte sich ein Äußerliches zur Seite; Recht, Disciplin, Kultus- und Lehrordnungen bildeten sich und begannen sich nach eigener Logik geltend zu machen. Die Wertschätzung, die der Sache galt, blieb nicht mehr die einzige Wertschätzung, und diese selbst wurde unvermerkt mit hundert unsichtbaren Fäden in das Netz der Geschichte geknüpft.
2. Wir haben darauf hingewiesen, daß die Bedeutung des Paulus als Lehrer vor allem in seiner Christologie bestanden hat. Er hat sie so gefaßt – sowohl durch seine Beleuchtung des Kreuzestodes und der Auferstehung, als durch seine Gleichsetzung „der Herr ist der Geist“[WS 1] –, daß die Erlösung als vollbracht und das Heil als eine gegenwärtige Kraft erscheint. „Wir sind durch Christus versöhnt mit Gott“[WS 2], „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur“, „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?“[WS 3] Der absolute Charakter der christlichen Religion ist damit ans Licht gestellt. Aber auch hier kann man sagen, jede Formulierung hat
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/118&oldid=- (Version vom 30.6.2018)