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Um ihn abzuwehren und zu besiegen, hat sie einen teuren Preis zahlen müssen; fast kann man sagen: „Victi victoribus legem dederunt.“[WS 1] Den Dualismus und den akuten Hellenismus hat sie abgewehrt; aber indem sie eine Gemeinschaft mit einer ausgeführten Lehre, einem bestimmten äußeren Kultus etc. wurde, nahm sie notgedrungen Formen an, die jenen analog waren, die sie bei den Gnostikern bekämpfte. Man tritt in das Schema des Gegners über, wenn man stückweise seinen Thesen andere entgegensetzt! Und wieviel von ihrer ursprünglichen Freiheit hat sie eingebüßt! Jetzt mußte sie erklären: Du bist kein Christ, du kannst überhaupt nicht in Beziehung zu Gott treten, wenn du nicht allem zuvor diese Lehren anerkannt, jenen Ordnungen Gehorsam geleistet und bestimmte Vermittlungen aufgesucht hast. Auch soll keiner irgend ein religiöses Erlebnis für legitim halten, das nicht von der richtigen Lehre approbiert und von den Priestern gutgeheißen ist. Einen andern Weg, andere Mittel fand die Kirche nicht, um sich gegen den Gnosticismus zu behaupten, und was zum Schutze nach außen festgestellt worden war, wurde zum Palladium, ja zum Fundamente im Innern. Gewiß, diese ganze Entwicklung wäre wahrscheinlich auch ohne jenen Kampf eingetreten – die beiden von uns an erster Stelle besprochenen Elemente hatten sie auch herbeigeführt –, aber daß sie so rapid eintrat und sich so sicher, ja drakonisch ausgestaltete, ist eine Folge des Kampfes, in welchem es sich um die Existenz der überlieferten Religion gehandelt hat. Ganz abzuweisen aber ist die oberflächliche Meinung, daß der persönliche Ehrgeiz Einiger die Gesetzlichkeit und das ganze Priesterwesen begründet habe. Bereits das Ausströmen des ursprünglichen, lebendigen Elements erklärt ihr Aufkommen hinreichend. La médiocrité fonda l’autorité. Wer die Religion nur als Sitte und Gehorsam kennt, der schafft den Priester, um einen wesentlichen Teil der Verpflichtungen, die er fühlt, auf ihn abladen zu können; erschafft auch das Gesetz, denn ein Gesetz ist den Halben bequemer als ein Evangelium.


Die Momente, welche die große Wandlung herbeigeführt haben, haben wir zu skizzieren versucht. Es erübrigt uns noch, die zweite Frage zu beantworten: Hat sich das Evangelium unter diesem Wechsel der Dinge behauptet, bezw. wie hat es sich behauptet? Daß es unter ganz neue Verhältnisse getreten ist, ist bereits offenbar; wir werden sie aber noch genauer kennen lernen müssen.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Seneca, de superst. fr. 41-43.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/134&oldid=- (Version vom 30.6.2018)