Christi, sei es auch in einseitiger und beschränkter Anwendung, doch als Richtschnur dienen und die Möglichkeit, daß sich selbständiges, inneres Leben entzündet, hier näher liegt.
Hier näher liegt – sie fehlt, Gott sei Dank, auch in dem öden Gehäuse dieses Kirchentumes doch nicht ganz, und auch die Sprüche Christi schallen an das Ohr der Kirchenbesucher. Über die Kirche als solche mit ihrem ganzen Apparate läßt sich nichts Günstigeres sagen, als was gesagt worden ist: aber das Wertvollste ist, daß sie, wenn auch in bescheidenem Maße, die Kenntnis des Evangeliums aufrecht erhält. Das Wort Jesu, wenn auch nur gemurmelt von den Priestern, steht auch in dieser Kirche an oberster Stelle, und die stille Mission, die es übt, wird nicht unterdrückt. Neben dem ganzen Zauberapparate und der Überschwenglichkeit, deren corpus mortuum die Zeremonie ist, stehen die Sprüche Jesu; sie werden gelesen und vorgelesen, und die Superstition vermag ihre Kraft nicht auszutilgen. Die Frucht kann niemand verkennen, der hier etwas genauer hineingeschaut hat. Auch unter diesen Christen, Priestern und Laien, findet man solche, die Gott als den Vater der Barmherzigkeit und als den Leiter ihres Lebens kennen gelernt haben und die Jesum Christum lieb haben – nicht weil sie ihn als die geheimnisvolle Person von zwei Naturen kennen, sondern weil ein Strahl seines Wesens aus dem Evangelium in ihr Herz gedrungen und dieser Strahl ihnen Licht und Wärme geworden ist für das eigene Leben. Und mag auch der Gedanke der väterlichen Vorsehung Gottes im Orient leichter eine fast fatalistische Form annehmen und allzu quietistisch wirken – daß er auch hier Kraft und Thatkraft, Selbstlosigkeit und Liebe verleiht, ist gewiß. Ich brauche nur wiederum auf die schon einmal citierten „Dorfgeschichten“ Tolstoi’s zu verweisen, die nicht erkünstelt sind; ich kann aber auch aus mancher eigenen Anschauung und Erfahrung bestätigen, wie sich selbst beim russischen Bauern oder niederen Priester trotz Bilder- und Heiligen-Dienst doch auch eine Kraft des schlichten Gottvertrauens, eine Zartheit der sittlichen Empfindung und eine thatkräftige Bruderliebe findet, die ihren Ursprung aus dem Evangelium nicht verleugnet. Wo sie aber vorhanden sind, da kann selbst der ganze Zeremoniendienst der Religion eine Vergeistigung erfahren, nicht durch „Umdenken ins Symbolische“ – das ist etwas viel zu Künstliches –, sondern weil sich selbst am Idol der Sinn zu dem
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/155&oldid=- (Version vom 30.6.2018)