Buße und Gnade viel tiefer und innerlicher formuliert worden ist, als man nach dem Stande der katholischen Theologie im 14. und 15. Jahrhundert erwarten durfte, so verdankt man das lediglich dem Fortwirken Augustin’s. Die Kirche hat freilich ihrer wesentlich nach Augustin entworfenen Gnadenlehre eine Praxis des Beichtstuhls zugeordnet, die jene Lehre völlig unwirksam zu machen droht. Aber so weit sie ihre Grenzen auch zieht, um alle die bei sich behalten zu können, die sich nicht wider sie auflehnen, so duldet sie doch nicht nur solche, welche Sünde und Gnade beurteilen wie Augustin, sondern sie wünscht, daß womöglich jeder den Ernst der Sünde und die Seligkeit, Gott anzugehören, so stark empfinden möge wie er.
Dies sind die wesentlichen Momente des römischen Katholizismus. Sehr viel anderes wäre noch zu nennen, aber die Hauptstücke sind damit bezeichnet.[AU 1]
Wir gehen zur letzten Frage über: Welche Modifikationen hat das Evangelium hier erlebt, und was ist von ihm geblieben? Nun – darüber braucht es nicht vieler Worte – in allem, was sich hier als äußeres Kirchentum mit dem Anspruch auf göttliche Dignität darstellt, fehlt jeder Zusammenhang mit dem Evangelium. Es handelt sich nicht um Entstellungen, sondern um eine totale Verkehrung. Die Religion ist hier in eine fremde Richtung abgeirrt. Wie der morgenländische Katholizismus in mehr als einer Hinsicht zutreffender in die griechische Religionsgeschichte eingestellt wird als in die Geschichte des Evangeliums, so muß der römische in die Geschichte des römischen Weltreichs eingestellt werden. Seine Behauptung, Christus habe ein Reich gestiftet, das sei die römische Kirche, und er habe diese Kirche mit dem Schwert, ja mit zwei Schwertern ausgestattet, dem geistlichen und dem weltlichen, säkularisiert das Evangelium und vermag sich nicht durch den Hinweis zu decken, in der Menschheit solle doch der Geist Christi herrschen. Das Evangelium sagt: „Christi Reich ist nicht von dieser Welt,“[WS 1] diese Kirche aber hat ein irdisches Reich aufgerichtet; Christus verlangt, daß seine Diener nicht herrschen, sondern dienen, diese Priester aber regieren die Welt; Christus führt seine Jünger aus der politischen und der ceremoniösen Religion heraus und stellt jeden vor das Angesicht Gottes – Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott –, hier dagegen wird der Mensch mit unzer-
Anmerkung des Autors (1908)
- ↑ „Die Hauptstücke sind damit bezeichnet“ – indessen charakterisieren die drei genannten Stücke (Vulgär-Katholizismus, Römische Reich, Augustinismus) den modernen Katholizismus doch nicht vollständig, weil, vorbereitet durch den Nominalismus, seit der Contrareformation in die Leitung der Seelen ein laxes Element eingedrungen ist (Prohabilismus), welches die frühere Zeit so nicht gekannt hat, und weil durch die Anpassung an die moderne Welt Weltlichkeiten aller Art nebst einem politischen Kirchenchristentum einen außerordentlichen Spielraum erlangt haben.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vgl. Joh 18,36.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/167&oldid=- (Version vom 30.6.2018)