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deutsche Nation an Luther wie eine Erschließung ihrer eigenen Seele empfunden.


Wir haben in der letzten Vorlesung die Hauptgebiete berührt, auf denen Luther einen nachdrücklichen und fortwirkenden Protest erhoben hat. Ich könnte noch manches hinzufügen, so den Widerspruch, den er, namentlich am Anfang seiner reformatorischen Wirksamkeit, gegen die ganze dogmatische Terminologie, ihre Formeln und Lehrausdrücke, gerichtet hat. Alles in allem – er hat protestiert, weil er die christliche Religion in ihrer Reinheit zurückführen wollte, ohne Priester und Opfer, ohne äußere Autoritäten und Gesetze, ohne heilige Zeremonien, ohne alle die Ketten, mit denen das Jenseits an das Diesseits gebunden sein sollte. Bei dieser Revision ist die Reformation zurückgegangen, nicht nur hinter das elfte Jahrhundert, auch nicht nur hinter das vierte oder zweite, sondern bis auf die Anfänge der Religion selbst. Ja sie hat, ohne es zu ahnen, sogar Formen modifiziert oder beseitigt, die schon im apostolischen Zeitalter bestanden haben, so in der Disziplin das Fasten, in der Verfassung die Bischöfe und Diakonen, in der Lehre den Chiliasmus u. a.


Wie stellt sich nun aber bei dieser Umbildung durch Reformation und Revolution die neue Schöpfung als ganze in ihrem Verhältnis zum Evangelium dar? Man darf sagen, daß in den vier Hauptpunkten, die wir in der vorigen Vorlesung hervorgehoben haben, das Evangelium wirklich wieder erreicht ist – in der Innerlichkeit und Geistigkeit, in dem Grundgedanken von dem gnädigen Gott, in dem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit, und in der Vorstellung von der Kirche als der Gemeinschaft des Glaubens. Brauche ich das im einzelnen nachzuweisen, oder sollen wir uns in dieser Überzeugung irre machen lassen, weil doch ein Christ im sechzehnten und neunzehnten Jahrhundert anders aussieht als im ersten? Daß die Innerlichkeit und der Individualismus, welche die Reformation entbunden hat, der Eigenart des Evangeliums entsprechen, ist gewiß. Ferner, Luther’s Verkündigung der Rechtfertigung giebt nicht nur den Gedanken des Paulus, mögen immerhin Unterschiede bestehen, in der Hauptsache wieder, sondern trifft auch in dem Ziele genau mit der Predigt Jesu zusammen. Gott als den Vater wissen, einen gnädigen Gott haben, sich seiner Vor-

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/182&oldid=- (Version vom 30.6.2018)