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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

Das Tal der Tränen.
Erzählung nach einer wahren Begebenheit von Walter Kabel-Langfuhr.

Auf der Veranda von William Pickers Hotel „Zum Präsidenten“ saßen an einem Vormittag des Frühjahrs 1905 zwei Männer hinter einer dickbauchigen Flasche und starrten schweigend vor sich hin in die von Wagenspuren aufgewühlte Straße, die sich zwischen den primitiven, roh aus Brettern und Latten zusammengezimmerten Häusern von Neuparis hindurchschlängelte. Als jetzt der eine seinen zerbeulten Blechbecher aufs neue füllte, behielt er die Flasche noch einen Augenblick in der Hand und suchte das schmutziggraue Etikett zu entziffern, auf dem noch einige Buchstaben zu lesen waren. Und diese verrieten, daß die Flasche einst in den Kellern einer der ersten französischen Sektfirmen gelagert hatte. Doch diese besseren Tage waren für das edle Fräulein längst dahin –, geradeso wie für die beiden stillen Zecher, die aus ihr mit Will Pickers selbstgebrautem Whisky, einem Aufguß von billigstem Spiritus über Pfeffer und etwas Zucker, ihre anspruchslosen Kehlen anfeuchteten und deren Äußeres jeden Landgendarm in Deutschland zu einer möglichst eingehenden Prüfung der Legitimationspapiere veranlaßt haben würde. Daß Fred Burns in seinem einst schwarz gewesenen, nunmehr grünlich schillernden, zerrissenen Gehrock und Harry Wilson mit dem ebenso schäbigen braunen Samtanzug hier in Neuparis zu den Honoratioren gehörten, lag an den etwas ungeordneten Zuständen, die in dem vor kaum drei Jahren entstandenen Städtchen herrschten. Selbst auf einer noch so genauen Karte von Nordamerika wird man Neuparis heute vergeblich suchen. Dem Orte war nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Er verschwand ebenso schnell unter den Fluten des Koloradoflusses[1], wie er 1902 nach Bekanntwerden der Goldfunde in den Randbergen der Koloradowüste aus der Erde wuchs. Denn damals hatte sich plötzlich ein großer Menschenstrom in den bisher völlig unbewohnten, von der Südpazifikbahn durchschnittenen Landstrich im Südosten des Staates Kalifornien ergossen, zerteilte sich und besiedelte die Grenztäler der öden Steppe, in der nichts gedieh als das dürre Gestrüpp des Kreosotstrauches und die verschiedensten, anspruchslosen Kakteenarten in weiten, undurchdringlichen Feldern.

Es schien, als ob jene Zeiten wiederkehren sollten, in denen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts das Goldfieber ganze Scharen von Abenteurern in die Bergöden Kaliforniens gelockt hatte, als ob ein neues Klondyke gefunden war, das wie ein Magnet die hoffnungsfreudige Menge anzog. – Doch das neu entdeckte Goldland hielt nicht, was es anfänglich versprach. Es fehlte überall an dem zur Gewinnung des edlen Metalls notwendigen Wasser, und die wenigen reicheren Minen, deren trockener Abbau sich verlohnte, gingen schnell in die Hände von größeren Gesellschaften über und waren noch schneller erschöpft. So flutete der Strom der Einwanderung schon nach kaum zwei Jahren wieder rückwärts. Die wie Pilze aus dem Boden geschossenen Ortschaften wurden verlassen, und nur halbverfallene Gebäude, der aufgewühlte Boden und hin und wieder ein einfaches Holzkreuz auf einem Grabhügel bewiesen, daß auch hier der Mensch versucht hatte, der Erde in hartem Kampfe ihre Schätze abzuringen. Und selbst als im Jahre 1903 ein findiger amerikanischer Unternehmer einen sechzig Kilometer langen und fünf Meter breiten Graben unter Benützung eines ausgetrockneten Flußbetts vom Kolorado nach dem tiefsten Punkte der Wüste auswerfen ließ, um das Wasser an die anliegenden Grubenbesitzer zur Benützung für die ergebnisreichere Goldwäsche zu verpachten, konnte das die zunehmende Entvölkerung nicht mehr aufhalten, da die aus dem Sande gewonnene Metallmenge die aufreibende Tätigkeit nicht verlohnte. Nur dem dicht am Kanal und etwa zwei deutsche Meilen vom Kolorodo entfernt liegenden Städtchen Neuparis blieb ein Teil seiner Bewohner treu, trotzdem sich auch hier die wenigsten noch mit Minenarbeit beschäftigten, sondern es vorzogen, durch Berieselung weiter Landstrecken einen mit der Zeit ganz ertragreichen Weizenacker zu schaffen. Denn was von den Geographen bisher nur vermutet war, bestätigte sich jetzt bei der


  1. Die spätere Schilderung des Einbruchs des Koloradostromes in die nach ihm benannte Tiefebene entspricht vollkommen den Tatsachen.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/1&oldid=- (Version vom 31.7.2018)