Das Tal der Tränen

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Das Tal der Tränen
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aus: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275
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Erscheinungsdatum: 1908
Verlag: W. Kohlhammer
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Quelle: Commons
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[209]
Das Tal der Tränen.
Erzählung nach einer wahren Begebenheit von Walter Kabel-Langfuhr.

Auf der Veranda von William Pickers Hotel „Zum Präsidenten“ saßen an einem Vormittag des Frühjahrs 1905 zwei Männer hinter einer dickbauchigen Flasche und starrten schweigend vor sich hin in die von Wagenspuren aufgewühlte Straße, die sich zwischen den primitiven, roh aus Brettern und Latten zusammengezimmerten Häusern von Neuparis hindurchschlängelte. Als jetzt der eine seinen zerbeulten Blechbecher aufs neue füllte, behielt er die Flasche noch einen Augenblick in der Hand und suchte das schmutziggraue Etikett zu entziffern, auf dem noch einige Buchstaben zu lesen waren. Und diese verrieten, daß die Flasche einst in den Kellern einer der ersten französischen Sektfirmen gelagert hatte. Doch diese besseren Tage waren für das edle Fräulein längst dahin –, geradeso wie für die beiden stillen Zecher, die aus ihr mit Will Pickers selbstgebrautem Whisky, einem Aufguß von billigstem Spiritus über Pfeffer und etwas Zucker, ihre anspruchslosen Kehlen anfeuchteten und deren Äußeres jeden Landgendarm in Deutschland zu einer möglichst eingehenden Prüfung der Legitimationspapiere veranlaßt haben würde. Daß Fred Burns in seinem einst schwarz gewesenen, nunmehr grünlich schillernden, zerrissenen Gehrock und Harry Wilson mit dem ebenso schäbigen braunen Samtanzug hier in Neuparis zu den Honoratioren gehörten, lag an den etwas ungeordneten Zuständen, die in dem vor kaum drei Jahren entstandenen Städtchen herrschten. Selbst auf einer noch so genauen Karte von Nordamerika wird man Neuparis heute vergeblich suchen. Dem Orte war nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Er verschwand ebenso schnell unter den Fluten des Koloradoflusses[1], wie er 1902 nach Bekanntwerden der Goldfunde in den Randbergen der Koloradowüste aus der Erde wuchs. Denn damals hatte sich plötzlich ein großer Menschenstrom in den bisher völlig unbewohnten, von der Südpazifikbahn durchschnittenen Landstrich im Südosten des Staates Kalifornien ergossen, zerteilte sich und besiedelte die Grenztäler der öden Steppe, in der nichts gedieh als das dürre Gestrüpp des Kreosotstrauches und die verschiedensten, anspruchslosen Kakteenarten in weiten, undurchdringlichen Feldern.

Es schien, als ob jene Zeiten wiederkehren sollten, in denen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts das Goldfieber ganze Scharen von Abenteurern in die Bergöden Kaliforniens gelockt hatte, als ob ein neues Klondyke gefunden war, das wie ein Magnet die hoffnungsfreudige Menge anzog. – Doch das neu entdeckte Goldland hielt nicht, was es anfänglich versprach. Es fehlte überall an dem zur Gewinnung des edlen Metalls notwendigen Wasser, und die wenigen reicheren Minen, deren trockener Abbau sich verlohnte, gingen schnell in die Hände von größeren Gesellschaften über und waren noch schneller erschöpft. So flutete der Strom der Einwanderung schon nach kaum zwei Jahren wieder rückwärts. Die wie Pilze aus dem Boden geschossenen Ortschaften wurden verlassen, und nur halbverfallene Gebäude, der aufgewühlte Boden und hin und wieder ein einfaches Holzkreuz auf einem Grabhügel bewiesen, daß auch hier der Mensch versucht hatte, der Erde in hartem Kampfe ihre Schätze abzuringen. Und selbst als im Jahre 1903 ein findiger amerikanischer Unternehmer einen sechzig Kilometer langen und fünf Meter breiten Graben unter Benützung eines ausgetrockneten Flußbetts vom Kolorado nach dem tiefsten Punkte der Wüste auswerfen ließ, um das Wasser an die anliegenden Grubenbesitzer zur Benützung für die ergebnisreichere Goldwäsche zu verpachten, konnte das die zunehmende Entvölkerung nicht mehr aufhalten, da die aus dem Sande gewonnene Metallmenge die aufreibende Tätigkeit nicht verlohnte. Nur dem dicht am Kanal und etwa zwei deutsche Meilen vom Kolorodo entfernt liegenden Städtchen Neuparis blieb ein Teil seiner Bewohner treu, trotzdem sich auch hier die wenigsten noch mit Minenarbeit beschäftigten, sondern es vorzogen, durch Berieselung weiter Landstrecken einen mit der Zeit ganz ertragreichen Weizenacker zu schaffen. Denn was von den Geographen bisher nur vermutet war, bestätigte sich jetzt bei der [210] Bewässerung und beim Umpflügen des scheinbar so dürren Bodens dieser weiten Tiefebene. Der kalifornische Golf mußte tatsächlich einst bis zum San Georgoniopaß gereicht haben und hatte bei seinem Zurückweichen dann einen Binnensee gebildet. Dieser See trocknete allmählich aus und hinterließ eine fette Schlammerde, die mit der Zeit durch eine feine, von den Randbergen herübergewehte Sandschicht bedeckt wurde und der weiten Niederung das Aussehen einer unfruchtbaren Wüste verlieh, so daß niemand an die Nutzbarmachung dieser etwa tausend Quadratkilometer großen Fläche dachte. Erst bei der Suche nach dem lockenden Golde war man auf die fruchtbare Erdschicht gestoßen, und die landwirtschaftlichen Erfolge veranlaßten dann im Früchjahr 1904 eine Erweiterung des Grabens um sieben Meter, da die Wassermenge für den Farmbetrieb, der bald zu beiden Seiten des Kanals in größerem Umfange aufgenommen wurde, nicht mehr genügte. Daß man bei diesem Ausbau der neuen Wasserstraße mit echt amerikanischer Leichtfertigkeit verfuhr und weder genügend sichere Schleusen noch Stauwerke vorhanden waren, um bei dem in jedem Frühjahr drohenden Hochwasser des reißenden Stromes Herr zu werden und eine Überflutung des Kanals, der an seiner Mündungsstelle in den Kolorado ein bedeutendes Gefälle hatte, zu verhüten, kümmerte die Stadtbehörden von Neuparis nicht im geringsten, noch weniger die kalifornische Regierung, der die auf so billige Weise erfolgte Erschließung einer bisher völlig unausgenützten Sandfläche durchaus gelegen kam.

In William Pickers Hotel „Zum Präsidenten“ war es zum größten Schmerz des Besitzers nach Abzug der Kanalarbeiter wieder recht still geworden, und der Verkauf des selbstgebrauten, extrafeinen Whiskys hatte demzufolge um die Hälfte nachgelassen. Auch in anderer Hinsicht glaubte der dicke Wirt, dessen blaurot schimmernde Nase am besten für die alkoholische Reinheit der von ihm verschänkten Getränke sprach, allen Grund zur Unzufriedenheit zu haben. Denn seitdem auch die Einwohner des Städtchens sich dem ertragreicheren Ackerbau zugewendet hatten, mieden sie ebenfalls den Schankraum seines „Hotels“. Eine geradezu unheimliche Solidität hatte die Neupariser befallen, der Will Picker selbst durch die gewagtesten Preisermäßigungen für seine feuchten Artikel nicht beikommen konnte. Und als er jetzt in die Tür trat und die beiden alten Stammgäste betrachtete, die allein in der mit altem, löcherigen Sacktuch überspannten Schafhürde, hier stolz Veranda genannt, an einem der wackligen Tische saßen und stumpf vor sich hinstierten, verzerrte sich sein aufgedunsenes Gesicht zu einer ärgerlichen Grimasse. Er versetzte dem auf der Türschwelle liegenden großen Hofhund einen Fußtritt und kam dann näher,zog sich einen der Schemel heran und ließ sich aufstöhnend darauf nieder. Ungeniert griff er zu Harry Wilsons Becher, leerte ihn auf einen Zug, wischte sich mit der Hand die Lippen und meinte mit einem Versuch, in seine verschwommenen Züge den Ausdruck größten Genusses zu legen: „Das Zeug schmeckt – schmeckt –!“ Und er schnalzte leise mit der Zunge. – Fred Burns murmelte etwas in seinen blonden Schnurrbart, das die größte Ähnlichkeit mit „Verfl… Rattengift!“ hatte. Und auch Wilson blieb dem dicken Hotelier eine Anerkennung schuldig.

Da merkte Will Picker, daß seine Gäste heute nicht in der Stimmung waren, ihm irgendwelche Schmeicheleien zu sagen, er schaute erst prüfend den einen, dann den anderen an und fragte schließlich zögernd: „Jungens, was habt ihr eigentlich? Gesichter macht ihr, wie kürzlich der Ned Parker, als ihm der verdammte Sergeant aus Fort Mojave die Kugel durchs Hirn blies, um einer Durchlöcherung des eigenen Felles zuvorzukommen!“

Fred Burns, der in seinem schäbigen Gehrock und den grauen Leinwandhosen wie ein verkommener Gelehrter aussah, drehte unschlüssig seinen Becher in einer Whiskylache auf der rauhen, ungehobelten Tischplatte hin und her. Dann kniff er die listigen Äuglein noch mehr zusammen und warf einen forschenden Blick auf seinen Freund Harry, der soeben mit einem grellbunten Taschentuch an seiner Browningpistole herumputzte. – Will Picker beobachtete das alles schweigend, dachte sich aber sein Teil. Er kannte die beiden gut genug um zu wissen, daß etwas Besonderes in der Luft schwebte. Und es dauerte auch nicht lange, da begann der blonde Fred bedächtig:

„Will, Ihr seid doch mindestens ein ebenso geriebener Hallunke wie Harry und ich, nicht wahr?“

Der dicke Wirt dankte für dieses Befähigungszeugnis durch ein ganz ernstes: „Nicht ganz, alter Sohn, – nicht ganz!“

„Na, jedenfalls habt Ihr aber noch Verstand genug, um zu begreifen, daß … Ihr uns Beiden tausend Dollar borgen müßt!“

Der Eigentümer des erstklassigen Hotels „Zum Präsidenten“ fuhr wie von einem bösen Insekt gestochen empor.

„Tausend … tausend Dollar …!“ stotterte er. „Ja, seid ihr denn verrückt, Jungens! Woher soll ich wohl das Geld nehmen?“

Harry Wilson hatte wie zufällig die Mündung seiner Selbstladepistole auf die Brust des vor ihm sitzenden Wirtes gerichtet und spielte mit dem Zeigefinger recht auffallend an der Sicherung.

„Aus Eurem Geldkasten, Will, aus Eurem Geldkasten!“ half er dem Gedächtnis seines Gegenüber nach und lachte dann hell auf, als er bemerkte, wie Will Pickers kirschbraune Wangen bei dem Anblick der Browning sich plötzlich verfärbten. – Doch Fred Burns schien mit dieser zarten, nach Schießpulver riechenden Mahnung nicht einverstanden.

„Steck’ deine Knallbuchse ein, Wilson!“ meinte er ärgerlich. „Unser Gönner denkt sonst wahrhaftig, wir wollen die tausend Dollar von ihm erpressen! Und es soll doch nur ein regelrechtes Darlehen werden.“

Harry Wilson ließ schmunzelnd die Pistole in die Brusttasche seines Samtjacketts gleiten und Will Picker neigte ergeben in sein Schicksal das Haupt.

„Also, teurer Freund, wir brauchen das Geld unbedingt. Wollen nämlich nichts anderes, als dem Deutschen das Tal der Tränen wieder abkaufen! – Geht Euch nun ein Licht auf, Will?“

Der Dicke schaute ihn überrascht an.

„Wieder abkaufen? – Ja, aber wozu denn?“ fragte er zweifelnd.

Da lachte Fred Burns aus vollem Halse.

„Wird doch wohl 'nen Grund geben, der uns die Felshölle wertvoll erscheinen läßt, denke ich! Oder meint Ihr, daß Harry und ich wie einst wieder mit der kläglichen Goldsucherei beginnen wollen, um nach zehnstündiger Arbeit vielleicht für fünf Dollar gelbe Körnchen erbeutet zu haben? – Ne, alter Will, das würde uns nicht locken! Doch die Sache liegt jetzt andere …!“

Er beugte sich weit über den Tisch und flüsterte dem Hotelier zu: „Der Deutsche muß in dem Tal der Tränen eine reiche Goldader entdeckt haben, – muß, Will Picker! Denn als er kürzlich mit der Post nach La Pax fuhr, habe ich mir Jim Setters dürren Klepper für zwei Tage ausgeliehen und bin dem aufgeblasenen Kerl nachgeritten, habe dann in La Pax sehr wohl am Schalter der Bank beobachtet, wie er zwei große Lederbeutel voll Nuggets (Goldkörner) abwiegen und zur Aufbewahrung daließ!“

Dem Hotelier quollen die Augen beinahe aus dem Kopf. In sein brutales Gesicht trat ein widerwärtiger Zug von Habgier, den er vergeblich hinter einem freundlichen Grinsen zu verbergen suchte, mit dem er jetzt dem blonden Burns zunickte.

„Also daher die häufigen Reisen des Herrn Walters nach La Pax, daher!“ meinte er, durch die Zähne pfeifend. „Kein vernünftiger Mensch konnte begreifen, warum er dort in dem ausgetrockneten Bach noch immer herumwühlt, wo doch hier in der Umgegend jedes Stäubchen Gold längst verschwunden ist! – Nun haben wir ja eine Erklärung! Und es wird damit wohl stimmen!“ Dann schien er eine Weile angestrengt nachzudenken.

[217] „Jungens, ob der Deutsche aber so freiwillig in den Rückkauf willigen wird, möchte ich bezweifeln,“ sagte Will Pickers schließlich, ungläubig den Kopf hin und her wiegend. „Versuchen könnt ihr’s ja! Aber für ‘nen Erfolg garantiere ich nicht.“

„Die Hauptsache ist, daß Ihr uns das Geld gebt, Will,“ platzte Wilson kurz heraus und zog sein geblümtes Halstuch energisch zurecht. „Daß wir dann wieder in den Besitz unseres früheren Eigentums gelangen, dafür laßt nur uns Sorgen. – Ihr wart ja Zeuge bei dem Kaufabschluß, und könnt doch nötigenfalls vor dem Bezirksrichter beeidigen, daß wir uns das Rückkaufsrecht innerhalb von zwei Jahren vorbehalten haben, nicht wahr,“ setzt er lauernd hinzu. – Der edle Wirt verstand sofort.

„Natürlich – natürlich! s’ war vorbehalten auf zwei Jahre, und die Frist läuft bald ab. Wenn ich nicht irre, kann’s Anfang Juni 1903 gewesen sein, als ihr ihm das Tal der Tränen übergabt.“

Dann steckten die drei die Köpfe noch enger zusammen und berieten den Plan mit allen Einzelheiten. So verging eine halbe Stunde. Hin und wieder wurde auch ein lauteres Wort ihres Gesprächs vernehmbar, besonders wenn Will Pickers dröhnender Baß etwas dazwischenrief. – Die Flasche war längst leer, und schon mehrmals hatte Harry Wilson seinen Becher sehr bezeichnend zum Munde geführt und den dicken Wirt dabei halb bittend, halb fordernd angesehen. Aber dieser wollte die zarten Winke nicht verstehen, qualmte in solchen Momenten nur verlegen einige Wolken aus seiner kurzen Stummelpfeife. Schließlich dauerte dieses bescheidene Flehen dem Inhaber des schäbigen Samtanzuges doch zu lange. Er benützte sehr geschickt eine Pause in der Unterredung, holte langsam seine blitzblanke Browning aus der Brusttasche hervor und klopfte damit gegen die Sektflasche.

„Wie ist’s mit ’nem kleinen Freitrunk auf unser Geschäft hin, Will,“ meinte er grinsend und weidete sich förmlich an den verängstigten Augen des Dicken, dessen Mut zu der enormen Körperfülle in keinem rechten Verhältnis zu stehen schien.

„Laßt das Schießeisen weg,“ brummte der Hotelier unruhig. „Kürzlich ist Parkers Pistol auch ganz ohne Grund losgegangen und hätte mir beinahe eine überflüssige Öffnung in meinen Brustkasten eingesenget.“ – „Weiß ich, Will, weiß ich,“ warf der rotfuchsige Harry seelenruhig ein. „War damals, als Ihr dem langen Kerl auf seine blanken Dollars Euer famoses Gemisch aus Messing- und Goldstaub herausgeben wolltet.“

Der Dicke richtete sich scheinbar beleidigt auf.

„Ich verbitte mir …“

Doch das gröhlende Gelächter der beiden Freunde und einstigen Besitzer des Tals der Tränen schnitt ihm das weitere ab.

„Holt lieber die Mia und bittet um eine frische Flasche von dem Teufelszeug, als daß Ihr Euch was verbittet,“ rief Burns in bester Laune. Und Will Picker drehte sich auch wirklich mit einem tiefen Seufzer dem Hause zu und schrie nach der Tür hin: „Mia, einen Liter Whisky – aber schnell, meine Tochter!“

In demselben Augenblick verschwand an dem über der sogenannten Veranda gelegenen Fenster ein junges Mädchen, das bisher atemlos das Gespräch der Männer belauscht hatte und dabei öfters ängstlich zusammengezuckt war. Und dann kam das blonde Fräulein nach wenigen Minuten ganz harmlos lächelnd herbei, stellte die verlangte Flasche nach kurzem Gruß auf den Tisch und wollte wieder in das Haus zurückkehren. Bei ihrem Erscheinen hatten sich Wilson und Burns plötzlich aufgerichtet und suchten in Gesichtsausdruck und Haltung nach Möglichkeit die Kavaliere herauszukehren. Fred zog sich sogar seinen ausrangierten Gesellschaftsrock etwas zurecht und versteckte seine mit Schmutz und Straßenstaub bis oben bedeckten Schaftstiefel schämig hinter seinem Sitz.

„Aber Fräulein Mia,“ meinte er dann mit süßlichem Lächeln, das sein verkommenes Gesicht noch abstoßender machte, „wollen Sie uns denn nicht wenigstens kurze Zeit Gesellschaft leisten? Man sieht Sie ja so selten.“ – „Wüßte nicht, was wir zu bereden hätten, Master Burns,“ antwortete das Mädchen kurz, aber nicht unfreundlich. Und diese Äußerung gab auch Harry den Mut, einige Phrasen loszulassen.

„Fräulein Mia liebt vornehmeren Verkehr als den so einfacher Leute wie wir es sind,“ sagte er mit einem Versuch, eine gewisse Gleichgültigkeit in seine krächzende Stimme zu legen. „Die schöne Frau des deutschen Farmers im Tal der Tränen findet allein Gnade vor ihren Augen!“

Maria Picker, in deren sonngebräuntes, frisches Gesichtchen mit dem Kranz hellblonder Zöpfe bei der Erwähnung der Freundin nur einen Moment ein argwöhnischer Zug getreten war, hatte schnell ihre scheinbar ganz ungetrübte Laune wiedergewonnen.

[218] „Wenn Sie Frau Walter kennen würden, Master Wilson,“ entgegnete sie freundlich wie vorher, „so könnten Sie meine Schwärmerei wohl verstehen. Ich bin der Dame, – denn Sie ist eine vollkommene Lady, zu großem Danke verpflichtet; habe von ihr maches gelernt, was man hier in der Wildnis nie erfahrt, – selbst von Ihnen nicht, trotzdem Sie doch einst in Frisko (Abkürzung für San Franzisko) vor Jahren in der besten Gesellschaft verkehrt haben wollen.“

Der angebliche Advokat schob bei diesen Worten, deren spöttischer Ton so offensichtlich zutage trat, nur verlegen seinen großen Schlapphut aus der Stirn und fuhr sich glättend über das brandrote, borstige Haar. Doch Fred Burns glaubte dem Freunde beistehen zu müssen und sagte daher salbungsvoll: „Das Schicksal hat uns beiden böse mitgespielt, Fräulein Mia, dem Harry und mir. Und ob‘s recht ist, uns dies bei jeder Gelegenheit vorzuhalten, ist ‘ne große Frage, – nicht wahr, Will?“

Will Picker, der vor seinem einzigen Kinde eine ebenso große Scheu empfand, wie er es abgöttisch liebte, hatte bisher das Gespräch mit ganz erstaunter Miene verfolgt. Denn bisher waren die beiden Ehrenmänner von Mia stets mit einer so deutlichen Geringschätzung behandelt worden, daß er sich diese plötzliche Liebenswürdigkeit nicht recht erklären konnte und dahinter nur eine neue, seinen sauberen Geschäftsfreunden drohende Demütigung witterte. So beließ er‘s denn bei einem etwas unverständlichen Achselzucken, füllte schweigend die Becher und reichte dem Mädchen die leere Flasche, – ein Wink, den Mia sehr wohl verstand, aber nicht befolgte. Vielmehr stemmte sie jetzt ihre kleinen Fäuste auf den Kistendeckel, der hier die Stelle der Tischplatte vertrat, und schien sich so auf ein längeres Verweilen einrichten zu wollen. Und ihre strahlenden Augen, in denen es sonst von tausend Teufelchen sprühte, schauten den blonden Fred beinahe mitleidig an, als sie jetzt sagte: „Ich weiß, auch Sie haben einst bessere Zeiten gesehen, Master Burns. Vater erzählte mir davon. Waren Sie nicht Advokat und Kompagnon von Master Wilson oben in Frisko?“

Dem im schwarzen Gehrock war schon unter dem anscheinend so warmen Blick dieser eigenartigen Schönheit das Blut zu Kopf geschossen. Diese dunkle Glut vertiefte sich jetzt noch auf seinem Gesicht. Denn weiß der Kuckuck wie es kam, aber diesem Mädchen etwas vorzulügen, fiel selbst Fred Burns schwer. Trotzdem konnte er doch unmöglich all das jetzt widerrufen, was er vor Jahren Will Picker über Harry Wilsons und die eigene Vergangenheit mit der größten Phantasie, aber desto weniger Wahrheitsliebe aufgetischt hatte. Daß von dem dicken Wirt diese Märchendichtung nie geglaubt worden war und dieser sie eher für zwei entsprungene Zöglinge des Friskoer Zuchthauses, als biedere Anwälte hielt, konnte den Seelenfrieden der beiden nicht weiter beunruhigen. Aber hier mit der Mia lag die Sache doch anders! Vor diesen reinen Kinderaugen wieder die alten Lügen vorbringen, das ging selbst dem blonden Fred nicht über die Zunge. Daher senkte er verlegen den Kopf, wie gedrückt von der Last der Schicksalsschläge, und antwortete mit einer großartigen Handbewegung, als wollte er damit jene trüben Erinnerungen fortwischen.

„Mag das Einst ruhen, Fräulein Mia! Ich spreche nicht gern darüber, und … alte Wunden läßt man am besten vernarben.“

Harry Wilson hatte plötzlich durch einen Ruck seinen Hut vor das Gesicht geschnellt und biß sich nun im Schutze der breiten Krempe krampfhaft auf die Lippen, um einen Heiterkeitsausbruch zu unterdrücken, was ihm zwar gelang, nicht aber Will Picker, der plötzlich losprustete und unter Tränen lachend herausplatzte: „Junge, Junge, das war großartig gesagt, „Lassen Sie das Einst ruhen, Fräulein Mia!““ – Und er versuchte dabei den theatralischen, dumpfen Pathos nach Möglichkeit wiederzugeben.

Fred Burns war aufgesprungen: „Ihr seid ein gefühlloser Patron, Will, habt keine Ahnung, wie es einem Menschen tut, wenn er wieder einmal einen Blick zurückwirft auf …“

Doch dieses „worauf“ verschwieg er klüglich. Denn die einzelnen Stationen seiner zurückgelegten Lebensbahn wären doch nur Straßenraub, Diebstahl, Betrug, Körperverletzung mit Todesfolge ec., in lieblicher Abwechslung mit einsameren Jahren in Zuchthäusern aller Herren Länder gewesen.

Da hatte auch schon Mias weiche Stimme begütigend gesagt: „Aber Master Burns, der Vater meint‘s doch nicht so schlimm!“ Und der Erfolg war, daß der arme Verkannte sich leidlich versöhnt wieder auf seinem Schemel niederließ. Inzwischen hatte auch der rote Harry, wie er nach seinem flammenden Haupthaar in Neuparis allgemein genannt wurde, seine Gesichtsmuskeln wieder etwas in die Gewalt bekommen und nahm an der Unterhaltung teil, die sich bald um wichtigere Vorfälle im Städtchen und die letzte Bärenjagd in den sechs Meilen entfernten Monumentbergen drehte. Wären diese so hart gesottenen Bösewichter nur etwas weniger durch die Nähe des schönen Kindes befangen gewesen, so hätten sie unbedingt merken müssen, daß Mia sie in ganz vorsichtiger Weise auszuhorchen verstand und sich so aus einzelnen gelegentlichen Bemerkungen klug das zusammenstellen konnte, was sie wissen wollte und sie auch nur zu der Unterhaltung mit den beiden übelberüchtigten Tagedieben veranlaßt hatte. Als dieser Zweck erreicht war und es für sie keinen Grund mehr gab, die Nähe des edlen Freundespaares noch länger zu dulden, verließ sie die Veranda, nickte von der Tür den Männern nochmals freundlich zu und begab sich in die Küche, um dem Chinesen, der schon seit Jahren als „Mädchen für alles“ in Diensten des Hoteliers stand, bei der Bereitung des Mittagessens etwas auf die Finger zu sehen, da sie zu King-Fos Sauberkeit kein unbegrenztes Vertrauen hatte.

Die Drei auf der Veranda saßen eine Weile stumm da. Dann drehte sich Will Picker vorsichtig um, vergewisserte sich, daß jeder Zipfel von Mias rotem, fußfreiem Rock verschwunden war und begann kopfschüttelnd: „Fandet ihr das Kind heute nicht auch seltsam verändert, Jungens? Ich meine, sonst hatte sie doch nie einen einzigen Blick für euch übrig und …“ Gedankenvoll leerte er den Blechbecher und spülte mit dem scharfen Getränke den Rest seiner Bedenken vollends hinunter. Fred Burns, der seine gezierte Haltung beibehalten hatte, als ob das Mädchen noch neben ihm stünde, erwiderte jetzt, indem er eine liebenswürdige Überraschung in Ton und Miene zum Ausdruck zu bringen suchte: „Sehr einfach, Fräulein Mia wird eben eingesehen haben, daß wir mindestens ebensolche Herren sind wie der Deutsche mit seinen stets gewaschenen Händen! Daher ihre Höflichkeit.“ – „Du bist verrückt, lieber Fred,“ sagte Harry Wilson nur dazu, und der Wirt schloß sich diesem Ausspruch an. Dann schieden sie im besten Einvernehmen, nachdem Will Picker das Geld gegeben hatte.

[225] An demselben Tage gegen zwei Uhr nachmittags sattelte Mia ihren Pony Alix und wollte sich gerade in den Sattel schwingen, als der dicke Wirt den Hof betrat und ihr etwas erstaunt zurief: „Wie, Mia, in der größten Hitze willst du jetzt ausreiten? Und wohin denn?“

„Zu Walters, Vater. Die Hitze tut mir nichts!“ antwortete sie kurz, hob den mit einem hohen gelben Lederstiefel bekleideten Fuß in den Steigbügel und saß mit kurzem Schwung aus dem Rücken des ungeduldig hin- und hertänzelnden Pferdchens.

In Will Pickers Gesicht war ein argwöhnischer Zug getreten. Er dachte an das Gespräch mit den beiden Freunden, an die heimlich getroffenen Abmachungen, die ja gerade den Besitzer des Tales der Tränen betrafen. Ob Mia etwa gelauscht hatte und die Deutschen nun warnen wollte? Zuzutrauen war ihr’s, da er sehr wohl wußte, daß sie ihn beständig belauerte und ihm schon manches unsaubere Geschäft gestört hatte. Daher sagte er jetzt mit einem prüfenden Blick: „Warst doch erst vorgestern draußen, Mia! Was gibt’s denn so Wichtiges zu besprechen, daß du den stundenlangen Ritt nicht scheust?“

Ein silberhelles, harmlos fröhliches Lachen antwortete ihm. „Wenn du’s denn durchaus wissen willst, Frau Walter hat mir kürzlich durch ihren Mann aus La Pax Stoff zu einem neuen Kleide mitbringen lassen und will’s mir anfertigen, da ich’s nicht recht verstehe. Und heute ist die erste Anprobe. Eigentlich sollte es eine Überraschung für dich werden, Vater, und nun hast du mir die ganze Freude verdorben,“ setzte Sie schmollend hinzu.

Der Alte war vollkommen beruhigt und streichelte ihr nun halb verlegen die kleine Hand, die nachlässig mit den Zügeln spielte.

„Aber abends bist du doch wieder zurück, Mia, nicht wahr?“ meinte er besorgt. „Ich möchte nicht gern, daß du in der Dunkelheit allein durch die Steppe reitest. Seit sie dem Farmer Kollins unlängst wieder drei Pferde gestohlen haben, ist’s mit der Sicherheit hier in der Nähe nicht mehr weit her. Ich argwöhne, daß sich da nordwärts vom Kanal in der Gegend der großen Kakteenfelder eine Buschklepperbande eingenistet hat. Es soll auch morgen in der Gemeindeversammlung eine größere, allgemeine Streife beschlossen werden. Wär’ mir daher doch lieber, wenn du deinen Ausflug um ein paar Tage verschieben würdest.“

Ein verächtliches Lächeln umspielte jetzt des Mädchens frische Lippen. Und indem sie mit dem Zeigefinger gegen den Kolben ihrer kurzen, am Sattelknopf hängenden Winchesterbüchse klopfte, sagte sie selbstbewußt, und ihr kleines Persönchen reckte sich höher: „Sollten jene Strauchdiebe wirklich noch nichts von Mia Pickers sicherer Hand gehört haben, Vater? Ich glaubte, mich kennt man hier im Koloradotal überall, mich und meine Büchse! Und daher geht mir jeder vorsichtig aus dem Wege, der auch sonst noch so Schlechtes im Schilde führen mag. Hab’ ich recht, Vater?“

Ein Schmunzeln ging bei diesen Worten über das rote Gesicht des Dicken und gab den rohen Zügen einen seltenen Ausdruck von zärtlichem Vaterstolz.

„Weiß ich, Mia, weiß ich!“ nickte er eifrig. „Na, dann also frohe Heimkehr, Kind! Und – grüß Walters von mir.“ Das Letzte kam etwas zögernd und schuldbewußt heraus.

Doch das Mädchen schien’s überhört zu haben und trabte schon zum Tore hinaus auf die sandige Straße, vorbei an den niedrigen Häusern von Neuparis der einfachen Balkenbrücke zu, die keine dreihundert Meter von der Stadt über den Kanal führte. Die Maisonne brannte vom wolkenlosen Himmel so heftig herab, daß Mia den einfachen, breitrandigen Strohhut tiefer ins Gesicht zog, um sich besser gegen die sengenden Strahlen zu schützen. Sie saß nach Männerart im Sattel, und ihr schlanker Körper, der jetzt in einen malerischen Anzug gehüllt war, wie ihn die mexikanischen Vaqueros tragen, weite, helle Beinkleider und eine kurze, gestickte Jacke mit breiter Seidenschärpe, folgte den Bewegungen des flinken Ponys mit einer Gewandtheit, die die sichere Reiterin bewies. Als jetzt die harten Hufe des Pferdchens über die Bohlen der Brücken dröhnten, schaute sie auf und sah zu ihrem Erstaunen, daß die trüben Fluten des Kanals in den letzten Tagen so bedeutend gestiegen waren, daß sie weit über die Ränder des künstlich erweiterten früheren Flußbetts reichten und teilweise schon große Ausläufer in das flache Land geschickt hatten, in denen sich jetzt wie in kleinen Seen die Sonne wiederspiegelte. Dann wandte sich Mia im Sattel um und blickte zurück auf die Häuschen von Neuparis, die in einer kleinen Mulde der weiten Ebene lagen und aus deren Schornsteinen friedlich der Rauch in die klare Luft emporstieg, auf die grünen Flächen der sprossenden Saatfelder, die sich, schachbrettartig durchzogen von den helleren Linien der Bewässerungsgräben, zu beiden Seiten des breiten Kanals bis zum Horizont hin erstreckten, wo die Uferberge des Koloradoflusses wie bläuliche Dunststreifen sichtbar wurden.

Ein schnalzender Laut mit der Zunge und Alix setzte sich wieder in Trab. Die Reiterin lenkte jedoch von dem breiten, ausgefahrenen [226] Wege, der in nordwestlicher Richtung nach dem Fort Mojave führte, ab und ritt dem Monumentgebirge zu, das die Koloradowüste im Norden begrenzt und dessen weitester Ausläufer nach Süden zu das von den deutschen Ansiedlern bewohnte „Tal der Tränen“ war, eine mitten in der sandigen Einöde liegende Felsgruppe, die einen kleinen Kessel von drei Seiten einschloß. Dieser nördliche Teil der Ebene, den Mia jetzt durchritt, war noch wenig bewohnt. Nur in der Ferne, dicht neben dem blinkenden Silberband des Kanals, konnte man einzelne niedrige Baulichkeiten unterscheiden, die zu der Farm jenes Kollins gehörten, den die Pferdediebe kürzlich heimgesucht hatten. Sonst zeigte die Gegend noch das trostlose Bild einer unfruchtbaren Steppe, deren Eintönigkeit nur einzelne halbverdorrte, gelbe Grasflächen und die weißlich schimmernden, bisweilen zu Mannshöhe aufsteigenden, undurchdringlichen Kakteenfelder unterbrachen. Doch die Reiterin störte diese Einsamkeit nicht. Munter ließ sie ihr Pferdchen ausgreifen, vermied vorsichtig die Kaktusstauden, deren scharfe Stacheln schon häufig den Beinen ihrer Alix gefährlich geworden waren, und achtete nach Art jener Naturkinder, die inmitten der Wildnis groß geworden sind, auf jede Kleinigkeit, die sich ihren forschenden Blicken darbot. Je weiter sie sich von dem Kanal entfernte, desto seltener wurden die Spuren in dem sandigen Boden. Nur hin und wieder traf sie noch auf die halbverwehten Tritte von Pferden, sah aber desto häufiger die feinen Eindrücke der Pfoten von Steppenwölfen und wilden Kaninchen, die hier noch ungestört von den Menschen in ewigem Kriege lebten.

Mia mochte ungefähr zwei Stunden geritten sein, und die Felsenmasse des Tales der Tränen hob sich bereits am Horizont wie ein dunkler Fleck von der grauen Ebene ab, als sie plötzlich die Zügel anzog und ihren Pony zum Stehen brachte. Was sie stutzen ließ, war ein kaum bemerkbarer breiter Strich, der sich über ihren Weg hinzog und zwischen zwei weiten Kaktusflächen verschwand. Sie beugte sich tief herab und ließ Alix dann eine Strecke dieser seltsamen Spur folgen, die aussah, als ob hier ein rauher Gegenstand über den Boden hingeschleppt worden war und so den Sand in feinen Rillen aufgewühlt hatte. Schon nach kurzer Zeit teilte sich diese merkwürdige Fährte in drei Äste, die in ganz verschiedenen Richtungen fortliefen. An diesem Kreuzungspunkt stieg das Mädchen nach vorsichtigem Umherspähen ab, ließ sich auf ein Knie nieder und untersuchte die Spur aufs sorgfältigste, indem sie den Sand behutsam von einzelnen Stellen fortwischte und wegblies, so daß einige noch ganz gut erhaltene Eindrücke von Pferdehufen zum Vorschein kamen. Als sie sich wieder aufrichtete, lag ein triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Und dem braunen Pony den glänzenden Hals liebevoll klopfend, sagte sie bestimmt: „Alix, ich denke, das hier ist nichts anderes als die schlecht ausgelöschte Spur jener Buschklepper, die in Kollins Farm drei Stück von deinem Geschlecht weggenommen haben, – meinst’s nicht auch? Der Vater wird wohl recht haben, daß sie in dem großen Busch da nordwärts stecken. Denn durch diesen plumpen Witz mit den drei auseinandergehenden Fährten können sie doch deine Herrin nicht täuschen!“

Alix scharrte wie zur Antwort mit dem rechten Vorderfuß den Sand. „Nehmen wir’s als Zustimmung,“ lachte Mia übermütig, schwang sich wieder in den Sattel und ritt in der alten Richtung auf die grauen Felsmassen weiter, denen der Volksmund den traurigen Namen „Tal der Tränen“ gegeben hatte.

Noch heute leben die Ereignisse, die vor fünfzig Jahren dem kleinen Bergkessel zu dieser Bezeichnung verholfen, in der Erinnerung der Bewohner von Südkalifornien und des benachbarten Arizona weiter fort, und Mia war diese Geschichte oft genug erzählt worden, als sie noch mit Vater und Mutter die kleine Schenke am Canon Pik inmitten des wilden Apachenlandes bewohnte und tagtäglich Fallensteller, Pelzjäger oder die Führer der Maultierkarawanen, die von Mexiko nach San Franzisko wollten, bei Will Picker einkehrten und dann abends in der verräucherten Schenkstube ihre Abenteuer aus jenen Zeiten berichteten, wo hinter jedem Busch eine rachgierige Rothaut oder ein verkommener weißer Wegelagerer lauerte. Zu diesen Stammgästen des einsamen Gasthauses am Canon Pik hatte auch ein alter Trapper namens Jim Weller gehört, der sich der kleinen, kaum zwölfjährigen Maria in liebevollster Weise annahm, ihr Spielsachen aus el Paso mitbrachte und sie auf weiten Ausflügen in die Geheimnisse der Natur einweihte, die verschiedensten Spuren deuten lehrte und ebenso in der Handhabung der Büchse unterwies. Der Alte mit den weißen langen Haaren und dem verschlossenen und doch so gütigen Gesicht war der einzige überlebende Teilnehmer jenes Auswandererzuges, der im Jahre 1854 vor den verfolgenden Apachen in das enge Felsental am Nordrande der Koloradowüste flüchtete und dort von den Rothäuten bis auf den damals kaum achtzehnjährigen Jim Weller niedergemetzelt wurde. Wie oft hatte Mia nicht dieser Erzählung des Waldläufers gelauscht. Und jetzt, wo die dunklen, zackigen Höhen ihr immer näher rückten, mußte sie wieder an jene Kindertage zurückdenken, wo sie mit bang klopfendem Herzen neben dem alten Freunde gesessen und ihm die Worte von den Lippen abgelesen hatte.

[233] Wieder fühlte Mia das leise Gruseln, das ihr damals bei der Schilderung jenes Verzweiflungskampfes stets über den Rücken gelaufen war. Acht Jahre waren seitdem ins Land gegangen, die Mutter tot und die einsame Schenke am Canon Pik wohl längst zusammengefallen, da die neue Bahnlinie von San Diego am Stillen Ozean nach Mexiko hinein dem Karawanenverkehr ein plötzliches Ende bereitet hatte, und von den selten erscheinenden Fallenstellern und Pelzjägern niemand in der Bergwildnis leben konnte. Das Mädchen war so in seine Erinnerungen vertieft, daß es gar nicht bemerkte, wie sich von der linken Seite her ein Reiter im Galopp schnell näherte. Erst ein warnendes Schnauben ihres gutdressierten Ponys ließ Mia aus ihren Gedanken auffahren. Argwöhnisch musterte sie die Erscheinung des ihr unbekannten Mannes, von dem sie auf diese Entfernung zunächst nur feststellen konnte, daß er ein vorzügliches Pferd, einen schlankgebauten Grauschimmel, ritt. Da der Fremde auf sie zuhielt, nahm sie die Winchesterbüchse vom Sattelknopf und legte sie nachlässig in den Arm. Inzwischen war der Reiter bis auf fünfzig Meter herangekommen, ohne sein Tempo irgendwie zu mäßigen. Mias Stirn krauste sich drohend. Und ehe sich’s der Reiter versah, lag die Büchse des jungen Mädchens im Anschlag und eine helle, energische Stimme rief ihm ein warnendes Halt zu. Da riß er sein Pferd so plötzlich zurück, daß es schnaubend hochstieg. Eine Weile musterten sich die beiden mit prüfenden Blicken, als ob einer die Absicht des andern erraten und danach sein ferneres Verhalten einrichten [234] wollte. Dann begann der Unbekannte behaglich vor sich hinzulachen, schob seinen Revolver, den er bisher schußfertig in der Hand gehalten hatte, in die Gürteltasche zurück und zog mit tiefer Verbeugung den großen verstaubten Panamahut.

„Fräulein Mia Picker, wenn ich nicht irre,“ klang’s lustig zu dem erstaunten Mädchen hinüber. „Gestatte mich vorzustellen: Ernst Richter, Jugendfreund und derzeitiger Gast von Herrn Friedrich Walter.“

Mia hatte die drohende Büchse schnell gesenkt und eine heiße Röte flutete ihr jetzt unter den bewundernden Blicken des Fremden in die Wangen. Und einer raschen Eingebung folgend, wandte sie plötzlich ihr Pferdchen und sprengte in voller Karriere der nahen Felsgruppe zu, an deren Eingang sie schon vorher ein helles Kleid hatte schimmern sehen. Doch so leichten Kaufs sollte sie nicht davonkommen. Schon nach wenigen Minuten war sie eingeholt, der Grauschimmel schob sich neben die kleine Alix und eine weiche Stimme fragte übermütig: „Aber Fräulein Picker, weshalb fliehen Sie vor mir? Was soll Frau Walter, die uns beobachtet hat, von ihrer tapferen Freundin denken, wenn Sie ohne allen Grund vor einem harmlosen Menschen ausreißen!“

Diese Anspielung auf Mias vielgerühmte Kühnheit genügte. Sie ließ den Pony in Schritt fallen und wollte ihrem Begleiter möglichst unumwunden ihre Meinung sagen. Doch der ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

„Nicht böse sein, Fräulein Picker,“ bat er schmeichelnd. „Sollte ich Sie denn allein zu Walters reiten lassen, wo wir doch denselben Weg haben? Frau Walter und Freund Fritz erzählten mir so viel Liebes und Gutes von Ihnen, daß ich Sie kaum mehr kennen zu lernen brauche, und nur Ihr reizendes Kostüm machte mich einen Augenblick unsicher, ob ich wirklich die Erwartete vor mir hatte. Daß Sie ebenfalls von mir schon so manches und nicht ganz Schlechtes gehört haben, sagten mir Walters auch. Also geben Sie mir nur ruhig Ihre kleine Hand und heißen Sie mich in meiner neuen, vorläufigen Heimat willkommen.“

Mia war völlig entwaffnet. Es lag so viel aufrichtige Bewunderung und Liebenswürdigkeit in diesen Worten, daß sie jetzt mit einem schelmischen Lächeln zu ihm aufschaute und ihm die Hand hinreichte.

„Ehrlich gestanden, Herr Richter,“ sagte sie mit ihrer berückenden Offenheit, „ich schämte mich vor Ihnen, weil ich Sie zuerst für einen jener Pferdediebe hielt, die jetzt hier in der Gegend ihr Wesen treiben; daher auch mein Wink mit der Büchse. Und hätten Sie sich ohne meine Erlaubnis näher herangewagt, ich glaube, es wäre Ihnen schlecht bekommen.“

Ernst Richter hielt die kleine, sonnverbrannte Hand länger wie nötig in der seinen. Beinahe andächtig schaute er in diese liebreizenden und doch so energischen Züge und vergaß ganz, daß er ihr eine Antwort schuldig blieb. Erst als eine lachende Stimme ihnen einen herzlichen Gruß zurief, ließ er die lebenswarmen, weichen Finger fahren und parierte seinen Grauschimmel. Mit einem schalkhaften Lächeln musterte Frau Walter, eine schlanke, vielleicht dreißigjährige Blondine, deren schmales Gesicht trotz der feinen Fältchen um Augen und Mund noch immer von eigenartiger Schönheit war, die beiden, etwas verwirrten Ankömmlinge. Richter sprang, nur um seine Verlegenheit zu verbergen, schnell ab, half jetzt Mia aus dem Sattel und führte dann die beiden Pferde am Zügel den mit feinem SteingeröII bedeckten Eingang zu dem Felsental empor, während die Frauen eifrig plaudernd Arm in Arm voranschritten.

***

„Das Tal der Tränen“ hatte eine Ausdehnung von vielleicht 500 Quadratmetern, war in der Mitte, von den ziemlich steilen, wildzerklüfteten Felswänden an gemessen, etwa neunzig Meter breit und spitzte sich nach Norden zu einem engen Kanon zu, dessen feiner, sandiger Boden mit den rund geschliffenen Steinen darin das frühere Flußbett verriet. Wahrscheinlich strömte vor Jahrhunderten der Kolorado noch durch diesen Engpaß und wurde dann infolge größerer, durch Erdbeben veranlaßter Verschiebungen der Bergmassen aus seinem bisherigen Laufe verdrängt und zur Umgehung des Monumentgebirges gezwungen. Dabei hatte dann auch eine Erhebung des nördlichen Teiles der Felsgruppe den einen Ausgang dieses Kessels verschlossen, so daß nur noch nach Süden zu eine kaum vierzig Schritt breite Öffnung verblieb, durch die Ernst Richter jetzt die beiden Pferde nach den an der östlichen Wand unter ein paar verkrüppelten Kiefern und einigen Eichen halb verborgenen Gebäuden brachte. Diese, ein kleines Wohnhaus und zwei niedrige Stallungen, zeigten trotz ihrer primitiven Bauart doch auf den ersten Blick das Bestreben des Besitzers, schon das Äußere möglichst freundlich zu gestalten. So waren die rauhen Holzteile mit hellblauer Wasserfarbe gestrichen, die kleinen Fenster mit Weiß abgesetzt und die Dächer mit einer gleichmäßig grünen Moosschicht bedeckt. Unter den Eichen in der Nähe des eisernen Pumpwerks blühten in einem kleinen Gärtchen mit einer von wildem Wein umrankten Laube in üppiger Farbenpracht Tulpen und Hyazinthen und die scharfduftenden Pflanzen des kalifornischen Mohns.

Als der frühere deutsche Industrielle, der durch unglückliche Spekulationen und zerrütteter Vermögensverhältnisse halber gezwungen war, seine Heimat gegen die neue Welt einzutauschen und zunächst in Mexiko durch Bewirtschaftung einer Weizenfarm sich eine sichere Existenz zu gründen versuchte, dann aber infolge mehrerer Mißernten die Farm wieder aufgeben mußte und halb verzweifelt mit den letzten tausend Dollars dieses einsame Tal erwarb, weil auch ihn die Nachricht von den Goldfunden in das Gebiet der Koloradowüste gelockt hatte, da sah es in dem engen Bergkessel unter den Eichen allerdings noch nicht so wohnlich aus. Den früheren Besitzern war es auf Bequemlichkeit gar nicht angekommen. Sie hatten in einem zerrissenen Leinwandzelt gehaust und sich ihr Essen von einem alten Indianerweib, die zusammen mit dem ebenso faulen wie diebischen Gemahl als Arbeiter für die Goldwäscherei gemietet war, auf höchst einfache Art zubereiten lassen und nur daran gedacht, in kürzester Zeit möglichst viel von dem roten Metall aus dem feinen Sand herauszuwühlen, um wieder in zivilisiertere Gegenden zurückkehren zu können. Doch der Gewinn an Gold nahm immer mehr ab, und so wurde denn in Will Pickers Hotel ohne viel Formalitäten, aber desto größeren Schwindelgeschichten von seiten der beiden Kompagnons über den Reichtum der Mine der Kaufkontrakt abgeschlossen, und Fritz Walter hielt mit seiner blassen, verhärmten Frau seinen Einzug in das Tal der Tränen, entblößt von allen Barmitteln und ohne viel Hoffnung, daß ihm das Glück hier günstiger sein werde, als auf der Weizenfarm in Mexico. Doch zum Erstaunen der Neupariser, die dem Mann mit den ernsten Augen und dem zurückhaltenden Wesen wenig Zuneigung entgegenbrachten, ihn hochmütig schalten und schadenfroh auf seinen baldigen Abzug aus der ausgeraubten Mine warteten, verging Monat auf Monat und das deutsche Ehepaar dachte gar nicht daran, das einsame Tal aufzugeben. Im Gegenteil, man erfuhr bald, daß Fritz Walter sich zwischen den Felswänden auf ein längeres Bleiben eingerichtet und sich sogar durch einen Unternehmer einen Brunnen hatte bohren lassen, mit dessen Wasser er die Goldwäscherei anscheinend mit besserem Erfolg als seine Vorgänger betrieb. Aber Genaueres ließ sich über das Treiben der neuen Ansiedler nicht feststellen, da sie sehr zurückgezogen lebten und jeden Besuch der neugierigen Einwohner des nahen Städtchens mit so deutlicher Ablehnung hinnahmen, daß man jeden Annäherungsversuch bald aufgab und sich schließlich gar nicht mehr um sie kümmerte.

Nachdem Ernst Richter die beiden Pferde in dem Stall untergebracht und ihnen einige Maiskolben in die Krippe geworfen hatte, gesellte er sich wieder den Frauen zu, die in lebhaftestem Gespräch in der Laube saßen.

[241] Als der hochgewachsene Mann mit dem saubergepflegten Schnurrbart und den übermütigen, lebensfrohen Augen wieder zu den Frauen trat, verstummte die Unterhaltung plötzlich. Erst nach einer Weile begann Frau Walter, indem sie ihren Gast traurig anschaute: „Zwei Jahre haben wir hier in Ruhe und Frieden gelebt, hatten die letzte entbehrungsreiche Zeit fast vergessen und nun stellen sich plötzlich wieder die Sorgen ein. Ja, ja, lieber Richter, Sie sehen mich so erstaunt: Unsere kleine Mia hat uns schlechte Nachrichten überbracht, zum erstenmal,“ fügte sie liebevoll hinzu und legte ihren Arm vertraulich um die schlanke Taille der neben ihr Sitzenden. – „Schlechte Nachrichten? Wie soll ich das verstehen?“ fragte Richter mitfühlend. „Es wird wohl nicht so schlimm werden,“ fuhr er beruhigend fort. „Damen sehen ja meist die Dinge etwas zu schwarz, wenigstens die, denen das Leben schon manche trübe Erfahrung gebracht hat.“

„Ja hoffentlich!“ sagte die blonde Frau müde, und in ihrer Stimme lag es wie große Mutlosigkeit.

„Aber liebe Frau Walter,“ sagte der Hüne da energisch und streckte ihr herzlich die Hand über den Tisch hin, „bedenken Sie doch, daß wir jetzt hier vier starke Männerarme sind, die zu Ihrem Schutze wohl ausreichen werden! Fürchten Sie sich etwa vor den Pferdedieben, die die Gegend unsicher machen? Dann seien Sie überzeugt, das Gesindel wird sich in dieses Tal nie hineinwagen. Vor einer gut gezielten Büchsenkugel haben die Burschen stets einen ganz gehörigen Respekt!“

„Das ist es nicht, lieber Richter. Es handelt sich um anderes, um einen Gaunerstreich, den man uns spielen will. Doch besser ist’s, wenn ich Fritz rufe und wir dann zusammen die unangenehme Geschichte besprechen.” Sie erhob sich schnell und schritt dem Wohnhause zu, an dessen Tür ein einfaches Jagdhorn hing, dem sie jetzt ein langgezogenes Signal entlockte. Dann kam sie zurück und setzte sich wieder neben Mia, die noch immer nicht aufzusehen wagte und nervös die Quasten der Tischdecke durch die Finger gleiten ließ.

In des einfachen Naturkindes ehrlichem Herzen hatte sich vorhin, als sie der Freundin von dem Vorhaben der beiden früheren Besitzer des Tales der Tränen erzählte, ein harter Kampf abgespielt, da sie den eigenen Vater nicht in den Augen des Ehepaares herabsetzen wollte und andererseits auch fühlte, daß sie das Unheil nur durch vollkommene Offenheit abwenden konnte. Doch die Kindesliebe siegte, und sie hatte daher ihren Bericht so vorsichtig gestaltet, als ob Fred Burns und der rote Harry allein an dem Plane beteiligt wären. Ihre Befangenheit steigerte sich noch, als jetzt Fritz Walter, nachdem er seinen Arbeitsrock mit einer graugrünen Jagdjoppe vertauscht hatte, zu ihnen in die Laube trat und Frau Ellen sie dann aufforderte, das eben Erzählte nochmals den beiden Männern zu wiederholen. Nur stockend kamen die Worte über ihre Lippen und mehr wie einmal, wenn sie hastig einen Satz änderte, um auch nicht den geringsten Schein eines Verdachts auf den Vater fallen zu lassen, traf sie aus den Augen des blonden Hünen ein langer, forschender Blick. Als Mia geendet, schaute Walter den Freund fragend an. Dieser hatte nach einigen allzu wilden Jahren seine Heimat verlassen, kam dann auf Walters Aufforderung nach Amerika, war zuerst auf dessen Farm tätig und fand nachher nach mancherlei Irrfahrten bei der Polizei in San Franzisko eine ganz gutbezahlte Stellung.

„Was hälst du von der Sache, Ernst,“ meinte Walter verstimmt und strich sich nachdenklich den spitzgeschnittenen, dunklen Vollbart.

Richter zuckte die Achseln. „Wenn die beiden sauberen Genossen sich wirklich auf einen Rechtsstreit um den Besitz dieses Tales einlassen sollten, kommt alles auf die Aussagen der Zeugen an, die [242] bei dem Kaufabschluß anwesend waren. Besinnst du dich noch auf irgend jemanden, der den Verhandlungen beiwohnte?“

Walter zögerte etwas mit der Antwort. Und als er jetzt zu dem Mädchen hinsah, dessen Vater allein etwas von den seinerzeit getroffenen Abmachungen wissen konnte, bemerkte er, wie ihre angstvollen Augen so bittend den seinen begegneten. Er stutzte unwillkürlich, und ohne sich eigentlich Rechenschaft darüber ablegen zu können, warum er William Pickers Person möglichst aus dem Spiel lassen wollte, entgegnete er ausweichend: „Zeugen? Damit sieht’s schlimm aus! Du weißt ja, wie in diesen Gegenden die Landkäufe abgeschlossen werden. Meist ganz formlos, sozusagen auf Treu und Glauben. Und so war’s auch vor zwei Jahren der Fall, als ich mir diese Mine in dem Gasthause von Mias Vater eigentlich aufschwatzen ließ. Aber das eine kann ich dir schon heute versichern: Freiwillig räume ich diesen Platz nicht, der mir ans Herz gewachsen ist und dem ich es verdanke, daß ich jetzt wieder sorgenlos in die Zukunft schauen kann. In zwei Jahren harter Arbeit habe ich mir hier ein kleines Vermögen erworben, und wenn schließlich die Mine auch bereits ziemlich stark abgebaut ist und ihre Ertragsfähigkeit von Tag zu Tag nachläßt, so wirft sie doch immer noch genug ab, um die Goldwäsche lohnend zu machen. Außerdem glaube ich sicher, daß man bei weiterem Suchen noch eine zweite Ader finden würde, in der das Schwemmgold des einstigen Flußes sich an irgendeiner Stelle abgelagert hat. Bisher hatte ich nur nicht die Zeit, eingehendere Nachgrabungen anzustellen. Ich will aber sofort morgen damit beginnen.“

Richter zündete sich eine seiner dicken, mexikanischen Zigaretten an und blies dann grübelnd zierliche Ringelchen in die merklich abgekühlte Abendluft.

„Alles ganz schön, lieber Fritz,“ meinte er bedächtig. „Aber wenn nun das Bezirksgericht den beiden Halunken glaubt und du hier sozusagen ausgewiesen wirst, was dann? Mit Gewalt wirst du dich hier nicht halten wollen,“ setzte er lächelnd hinzu, „trotzdem sich dieses stille Paradies mehr wie gut verteidigen ließe. Na, vorläufig ist’s ja noch nicht so weit! Wir wollen erst einmal abwarten, was deine Herren Gegner unternehmen werden. Vielleicht findet sich noch irgendein Ausweg, der dir den Ärger einer Einmischung der nicht so ganz einwandfreien kalifornischen Justiz erspart. Jedenfalls verspreche ich dir, daß ich mich um die Angelegenheit kümmern werde. Denn mit derlei Gesindel, wie diese Herren Burns und Wilson es sind, verstehe ich besser umzugehen wie du.“ Dann wandte er sich an Frau Ellen, die bisher schweigend mit verdüsterter Miene zugehört hatte. „Also machen Sie sich keine überflüssigen Sorgen, Frau Walter. Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist, daß Sie sich eine neue Heimat suchen müssen. Und wenn Ihnen dies Tal auch lieb geworden sein mag, ewig hätten Sie sich doch nicht in dieser Einsamkeit vergraben, nicht wahr? Fritz hat ja jetzt wieder die Mittel, um etwas anderes anfangen zu können. Und in Kalifornien gibt’s, Gott sei Dank, noch genug unbebautes Land, auf dem ein paar strebsame Menschen vorwärts kommen können.“ Trotzdem nickte die blonde Frau traurig vor sich hin. „Sie wissen nicht, lieber Freund, welch glückliche, ruhige Tage wir hier verlebt haben. Mir würde es sehr, sehr schwer fallen, dieses stille Fleckchen Erde zu verlassen. Fritz hatte ja auch die Absicht, das Land nach dem Kanal hin anzukaufen und wieder den Farmbetrieb aufzunehmen, wenn die Goldwäscherei nicht mehr ergiebig genug sein sollte. Und all diese schönen Zukunftspläne werden uns nun zerstört!“

Der Hüne mit dem gutmütigen, so vertrauenerweckenden Gesicht war plötzlich sehr ernst geworden.

„Von diesem Plane, dort in der Niederung mit Ackerbau zu beginnen, würde ich vorläufig ganz entschieden abraten,“ sagte er bestimmt, indem er seine Worte mehr an Walter als Frau Ellen richtete. „Ich bin von La Pax[ws 1] gestern mit einem Dampfer den Fluß heraufgekommen und habe mich und meinen Cäsar an der Abzweigung des Kanals ans Lund setzen lassen. Und da habe ich mir einmal dieses echt amerikanische Pfuschwerk von Wasserstraße angesehen. Gewiß, man hat einen Damm in den Kolorado hinausgebaut, um die Hauptströmung an der Mündung vorbeizulenken und auch eine sogenannte Stauanlage geschaffen, die vielleicht tausend Quadratmeter groß sein mag und nur soviel Wasser als nötig in den Kanal einfließen läßt. Aber dieses Becken liegt auf der Uferhöhe, und der nach Süden zu, nach hierhin aufgeschüttete Erdwall ist so schwach, daß bei plötzlich eintretendem Hochwasser und dadurch verstärktem Druck sowohl der Schutzdamm als auch der Erdwall des Staubassins nur zu leicht weggedrückt werden können. Dann würde sich eine ungeheure Flutwelle in diese Ebene ergießen und alles mit sich fortreißen. Ich für meine Person begreife den Leichtsinn der Unternehmer nicht, die in ganz gewissenloser Weise direkt mit Menschenleben spielen!“

[257] Richter war in den vier Jahren, die er in Mexiko und Kalifornien zugebracht hatte ein recht guter Menschenkenner geworden und glaubte daher den Grund für Mias Schweigsamkeit längst herausgefunden zu haben. Er ahnte, daß sie eine Wiederholung jener Frage, die er vorher bei ihrem Alleinsein in Walters Wohnstube an sie gerichtet hatte, fürchtete und gerade diese Scheu bestärkte seinen Verdacht. Sie hatte zweifellos etwas verheimlicht, das mit dem Plane der beiden edlen Genossen in Zusammenhang stand. Nur über die Gründe zu diesem Verhalten konnte der Detektiv sich nicht klar werden, da er dem offenherzigen Naturkinde keine böswillige Unaufrichtigkeit zutrauen mochte. Wenn er sich auch beim Aufbruch vorgenommen hatte, die Sache nicht weiter zu berühren, so widerstrebte es doch seinem ehrlichen Empfinden, daß sich vielleicht zu Unrecht bei ihm eine falsche Meinung über Mias Charaktereigenschaften festsetzen könnten. Und so sagte er dann plötzlich gerade heraus: „Wenn Sie schließlich auch auf meine Unterhaltung nicht viel Wert zu legen scheinen, Fräulein Mia, so muß ich Sie doch bitten, mir im Interesse unserer gemeinsamen Freunde über einige Punkte Aufschluß zu geben, die das Vorhaben der beiden Spitzbuben Burns und Wilson, – so nennen Sie Sich ja wohl hier – anbetrifft.“

Er zog die Zügel etwas an, räusperte sich verlegen und fuhr dann hastig fort: „Die Unterredung zwischen den beiden Gaunern hat also in dem Gasthause Ihres Vaters stattgefunden?“ – – „Ja, Master Richter – vor dem Hause unter dem Zeltdach,“ entgegnete das Mädchen gepreßt. – „Und waren Burns und Wilson ganz allein, als“ … Der Detektiv unterbrach sich; denn Mia hatte plötzlich die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte jetzt fassungslos in sich hinein. Sie schluchzte bisweilen so herzbrechend, daß dem Manne neben ihr das heiße Mitleid zum Herzen quoll.

„Aber Fräulein Mia, was haben Sie nur? Fühlen Sie sich durch eine Bemerkung von mir verletzt? So sprechen Sie doch, bitte.“ Er lenkte den Grauschimmel dich an den kleinen Pony [258] heran und versuchte ihre Hand zu ergreifen. „Oh, ich bin schlecht gewesen, ja sehr schlecht,“ stieß sie unter Tränen hervor. „Aber ich schämte mich so, weil … weil mein Vater die tausend Dollar hergegeben hat und … mit ihnen gegen Walters gemeinsame Sache machen will.“

Sie hatten nicht bemerkt, daß die Pferde plötzlich stehen geblieben waren und jetzt ängstlich schnaubend rückwärts drängten. Richter atmete bei Mias Worten wie von einer drückenden Last befreit auf, hielt die heißen Finger in seiner Hand und drückte sie zärtlich. Er suchte die Weinende nun auf jede Weise zu beruhigen. Endlich gelang es ihm. Mia trocknete ihre Tränen, langte nach den Zügeln, die ihr vorhin entfallen waren und gab Alix, die mit gesenktem Kopf am Boden herumschnupperte, aufmunternd die Sporen. Doch der Pony gehorchte nicht, machte einen Satz nach rückwärts, der die Reiterin beinahe aus dem Sattel geschleudert hätte, und blieb dann steifbeinig stehen. Da erst wurde das Mädchen aufmerksam. Ihr Blick flog in die Runde. Ringsum starrte ihnen eine Wand von dichten Kaktusstauden entgegen, und nur hinter ihnen zeigte sich ein lichter, schmaler Gang, durch den sie in diesen Stachelwald nichtsahnend eingedrungen waren, da sie in den letzten Minuten kaum auf den Weg geachtet hatten. Auch Richter sah jetzt überall die drohenden, hier fast mannshohen Büsche, meinte aber scherzend, nur um seiner Begleiterin die gute Laune wiederzugeben: „Da sind wir ja in eine nette Mausefalle geraten, Fräulein Mia! Und wer hat die Schuld? Ich natürlich allein! Hätte ich weiter den schweigsamen Freund gespielt, so wären wir nie in diesen Engpaß eingelenkt, nicht wahr?“

Doch das Mädchen schüttelte nur bedenklich den Kopf und sagte, indem sie Alix vorsichtig rückwärts gehen ließ: „Wir müssen uns verirrt haben, Master Richter, wir sind wahrscheinlich nach Norden abgewichen. Denn so weite Kaktusfelder, wie wir sie hier vor uns sehen, gibt’s in der Richtung nach Neuparis nicht. Und wenn’s schließlich auch nicht weiter gefährlich ist, unangenehm bleibt’s immer, da es vielleicht noch Stunden dauert, bis ich mich wieder zurechtgefunden habe.“

Vergeblich suchte Mia, nachdem sie glücklich aus dem Engpaß heraus waren, nach der Spur der beiden Pferde. Sie war abgestiegen und tiefgebückt der Fährte Schritt für Schritt nachgegangen, mußte aber bald einsehen, daß sie auf diese Weise doch nicht den Ausgang aus diesem Labyrinth entdecken würde, da auf diesem von dichtverschlungenen Kakteensträuchern umgebenen Platz wunderbarerweise eine ganze Anzahl von Eindrücken von Pferdehufen kreuz und quer durcheinanderliefen, so daß es bei der Dunkelheit unmöglich war, einer bestimmten Spur zu folgen. Mia macht sich darüber ihre besonderen Gedanken. Ihr war die merkwürdige, so ungeschickt verwischte Spur eingefallen, die sie auf dem Hinweg bemerkt hatte, und sie vermutete wohl nicht zu Unrecht, daß die Fährten von den dem Farmer Collins gestohlenen Pferden herrührten. Richter, der bisher wortlos dem Beginnen seiner Begleiterin zugeschaut hatte, deutete jetzt auf einen kaum sichtbaren hellen Schein hin, der sich vor ihnen in der Dunkelheit wie ein rötlicher Kegel abzeichnete. Mia stieg schnell in den Sattel und spähte lange nach der angedeuteten Richtung.

„Zweifellos brennt dort vor uns in der Steppe ein Lagerfeuer,“ meinte sie leise. „Und wer sich daran wärmt, glaube ich mit ziemlicher Bestimmtheit zu wissen.“ Sie zögerte erst, fuhr dann aber entschlossen fort, da sich das alte Grenzerblut[ws 2] in ihren Adern zu regen begann. „Was meinen Sie dazu, Master Richter, wenn wir uns einmal vorsichtig an jenes Feuer heranschleichen würden? Es wäre doch ganz interessant, einmal festzustellen, wer hier, keine vier Meilen von Neuparis, ein Quartier unter freiem Himmel dem immerhin etwas behaglicheren Aufenthalt im „Präsidenten“ vorzieht!“

„Sie vermuten, daß wir die Pferdediebe vor uns haben,“ meinte Richter eifrig. „Die Schwierigkeit wird nur sein, bis an den Lagerplatz heranzukommen, da das dornige Gestrüpp uns sicher nicht durchläßt, ohne daß wir einige tüchtige Risse davontragen.“

Doch Mia schwang sich schon aus dem Sattel, hing die Büchse über die Schulter, schnallte eine Trense los und band Alix damit die Vorderbeine zusammen. Das junge Mädchen schien wie ausgewechselt. Die bisherige Unsicherheit war verschwunden, und die, die jetzt so zielbewußt und ohne viel Worte handelte, war wieder Will Pickers energisches Töchterlein, vor der in den kaum entschwundenen wilden Zeiten, als noch unter den Goldgräbern der Koloradowüste mancher heißblütige Desperado sich um die Gunst des schönen Kindes bemühte, all diese rauhen Verehrer einen heillosen Respekt gehabt hatten, da die Kugeln in Mias kleinem Revolver, den sie damals stets bei sich trug, äußerst locker saßen.

Richter war inzwischen dem Beispiel seiner Begleiterin gefolgt [259] und ebenfalls abgestiegen, hatte die Zügel der beiden Pferde zusammengeknotet und seinen Karabiner aus dem Lederfutteral genommen.

„Den Hund lassen wir hier,“ bestimmte Mia jetzt kurz, „und nun gehen Sie, bitte, von jener Stelle nach links am Rande des Kakteenfeldes entlang, während ich die andere Seite untersuche. Wir müssen jeden Einschnitt und jede Richtung genau durchforschen, da der Ausgang aus dieser Mausefalle nicht leicht zu finden sein wird. Wenn Sie ihn entdecken sollten, bleiben Sie nur stehen, bis ich zu Ihnen stoße. Ebenso treffen Sie mich dann, indem Sie dem Rande der Sträucher folgen. Auf Wiedersehen, dann, Master Richter!“ Mia schritt eilig davon, und war bald in der dunkeln Nacht verschwunden.

Gewissenhaft begann nun der Detektiv mit der Erledigung seiner Aufgabe, drang öfters unbekümmert um die drohenden Stacheln in das Gestrüpp ein, bis er endlich auf eine schmale, freie Stelle kam, die vielfach gewunden und sich oft scheinbar zwischen kleineren Kaktusgebüschen verlierend in die offene Steppe hinausführte. Nachdem er sich die einzelnen Biegungen des Pfades genau eingeprägt hatte, indem er langsam zurückging, lief er am Rande des freien Platzes entlang, und bald tauchte auch des Mädchens schlanke Gestalt vor ihm aus der grauen Finsternis auf.

„Sie haben den einen Ausgang gefunden, nicht wahr?“ fragte sie ihn hastig. „Aber wichtiger für unser Vorhaben dürfte dieser sehr geschickt verborgene zweite Weg sein, der anscheinend in der Richtung des Feuerscheins verläuft. Sehen Sie, Master Richter, wie schlau man den Eingang durch diese zusammengeflochtene Hecke, die sich wie eine Tür aufziehen läßt, verborgen hat! Wahrscheinlich endigt dieser Pfad in der Mitte des großen Kaktusfeldes, daß ich bisher für unpassierbar hielt und das eine Ausdehnung von einer Quadratmeile haben dürfte. Jedenfalls gibt es gar kein besseres Versteck, als diesen undurchdringlichen Stachelwald! Nun, wir werden jetzt bald wissen, wer die Leute sind, deren Feuer da vor uns durch die Nacht leuchtet.“ Damit legte Mia die kurze Büchse nach Jägerart in den Arm und ging den engen Weg voraus, der, wie man deutlich sehen konnte, durch Herausreißen einzelner Stauden künstlich erbreitert war.

[265] Die beiden mochten etwa fünf Minuten den vielfachen Windungen gefolgt sein und waren dem rötlichen Schein bereits ziemlich nahe gekommen, als das Mädchen lauschend stehenblieb. Richter strengte seine Ohren an, hörte jetzt ebenfalls vor ihnen das unterdrückte Wiehern eines Pferdes. Doch vergeblich reckte er sich in die Höhe, um den keine hundert Meter entfernten Lagerplatz zu überblicken. Mia war niedergekniet und bedeutete ihm durch einen Wink, dasselbe zu tun. „Wir müssen uns jetzt sehr vorsichtig weiterschleichen,“ flüsterte sie leise. „Mir war’s eben, als hörte ich auch Stimmen. Halten Sie sich eng hinter mir.“ Er wollte widersprechen, suchte sich an ihr vorbeizudrängen, doch fast unwillig raunte sie ihm zu: „Ich verstehe mich auf diese Art von Unternehmungen besser! Lassen Sie nur mir den Vortritt! Und vermeiden Sie jedes Geräusch!“ Langsam krochen sie über den weichen Sand hin. Einmal wäre Richter beinahe ein Ruf des Schreckens entfahren, als er sich einen Dorn tief in den Ballen der rechten Hand drückte. Bald wurden die Stimmen deutlicher, der Glanz eines niedrig gehaltenen Feuers schimmerte durch das Gesträuch, und ein beißender Rauch drang ihnen bei jedem Atemzug in die Lungen. Dann noch wenige Meter um eine scharfe Biegung, und der schmale Weg öffnete sich zu einem kleinen freien Platz. In der Mitte dieser ziemlich tiefen Mulde saßen um die brennenden Scheite vier Männer, während im Hintergrunde die dunkeln Leiber mehrerer Pferde sichtbar waren. Mia hatte nur einen Blick auf die Lagernden geworfen, als sie auch schon Richters Arm ergriff und ihn vorsichtig wieder zurück in den Schutz der Kaktussträucher zog. Indem sie ihren Mund ganz dicht seinem Ohr näherte, sagte sie kaum vernehmbar: „Burns und Wilson sind’s; die beiden andern kenne ich nicht. Wir wollen erst ein Stück zurückkriechen und dann beraten, was zu tun ist. Zweifellos haben wir die Pferdediebe vor uns. Famer Collins Braunen mit der Blesse kenne ich zu genau!“

Doch eine unerwartete Störung sollte ihre Entdeckung schneller herbeiführen, als sie es ahnen konnten. Denn plötzlich drängte sich der Wolfshund, der sich losgerissen hatte und ihren Spuren gefolgt war, freudig bellend zwischen sie und sprang wie toll um das Mädchen herum. Mia besann sich nicht lange, riß Richter, der noch unschlüssig zauderte, empor. Dann stürmten sie den Pfad zurück und kamen atemlos bei ihren Pferden an. In wenigen Sekunden hatten sie die Tiere losgekoppelt und waren aufgesessen. Der Hund mochte wohl an dem kräftigen Fußtritt, den der Detektiv ihm auf dem schnellen Rückzuge versetzt hatte und dem nicht gerade zarten Jagdhieb mit der Trense gemerkt haben, daß hier irgend etwas nicht in Ordnung war, und verhielt sich jetzt vollkommen still, schlich mit eingezogenem Schweif hinter den beiden her, die in die freie Ebene hinauslenkten und nach rechts abbogen. Richter machte nach einer Weile in einem etwas tieferen Einschnitt des Kakteenfeldes Halt, stieg ab und band zunächst den Hund wieder fest, der sich dies kläglich winselnd gefallen ließ. Als der Detektiv sich wieder aufrichtete, blickte er zu Mia empor, die noch im Sattel saß und ihm ruhig zugeschaut hatte. „Wollen Sie mir den Gefallen tun und hier jetzt auf die Pferde aufpassen,“ sagte er merklich gereizt. „Ich will versuchen, den Fehler wieder wettzumachen, den wir mit unserer übereilten Flucht vorhin begangen haben. Denn ich könnte mich ja nie mehr in Frisco sehen lassen, wenn mir diese beiden Schurken entfliehen sollten, die der verflixte Köter so schön gewarnt hat! Nehmen Sie’s mir nicht übel, Fräulein Mia,“ setzte er etwas weniger schroff hinzu, „ich kann nicht anders, denn ich habe eingesehen, daß den Frauen in solchen Momenten zu sehr die kühle Überlegung fehlt!“ – Das Mädchen hatte sich tief herabgebeugt und versuchte Richter in das Gesicht zu sehen. „Sie sind ärgerlich, Master Richter!“ sagte sie jetzt ohne jede Verlegenheit. „Ärgerlich auf mich? Und sprechen von einer übereilten Flucht! Ja, wollten Sie sich denn etwa dort in dem Dickicht unnötig den Kugeln der Männer aussetzen, die doch sicher bereits beim ersten Anschlagen des Hundes zu ihren Gewehren gegriffen hatten? Ich weiß, was Sie beabsichtigen. Sie wollten den Vieren mit dem schönen Kommando: „Hände hoch!“ kommen, wären aber beim ersten Laut von vier Schüssen begrüßt worden, von denen doch einer trotz des unsicheren Zieles hätte treffen können! Habe ich recht oder nicht? Sehen Sie, Sie schweigen. Nein, das, was wir taten, war in diesem Falle das Richtige. Nur mit dieser von Ihnen geplanten Fortführung unseres Unternehmens bin ich nicht einverstanden. Wir müssen näher an den Ausgang zurück, der dort drüben in die Steppe mündet. Ich dachte, daß Sie hier nur den Hund, der uns zu leicht nochmals verraten kann, an einen stärkeren Busch anbinden und dann zur Beobachtung des Pfades zurückkehren wollten. Denn es ist ganz zweifellos, daß die vier [266] nicht in ihrem Versteck bleiben, sondern vorsichtig die Umgebung absuchen werden, da ihnen die Erklärung für das plötzliche Hundegeheul nicht ganz leicht werden dürfte. Gesehen haben sie uns nicht, und wenn sie auf dem schmalen Wege von ihrem Lagerplatz zu der Lichtung nichts Auffälliges entdecken, werden sie sicher aus dem Kaktusfelde herauskommen und hier weiter Umschau halten. Burns und Wilson sind jedenfalls keine so gewitzten Waldläufer, daß sie sich so ohne nähere Anhaltspunkte das Richtige sofort zusammenreimen können. Möglich also, daß sich uns jetzt eine bessere Gelegenheit bietet, ohne besondere Gefahr und mit einiger Aussicht auf Erfolg, die Diebe zu überraschen. Steigen Sie also nur wieder auf und folgen Sie mir.“

Richter sah ein, daß sein Tadel wohl etwas voreilig gewesen war und reichte ihr nun lächelnd zur Versöhnung die Hand. „Gut also, Fräulein Kommandeuse!“ meinte er scherzend. „Ich gehorche aufs Wort!“ Dann lenkten sie in die Wüste hinaus und hielten sich stets so weit von dem Rande des in dem Sternenlicht grausilbern schimmernden Kaktuswaldes, daß sie die dazwischenliegende Strecke noch gerade übersehen konnten. Als sie nach ihrer ungefähren Schätzung auf der Höhe des Ausgangs angelangt sein mußten, führten sie die Pferde ein Stück zurück; Mia fesselte ihrer Alix wieder die Vorderbeine, und vorsichtig näherten sie sich nun den Büschen, indem sie gespannt in die Nacht hinaushorchten.

„Und wenn der Lagerplatz nun einen zweiten Ausweg nach der andern Seite hin besitzt und die Vier nach dorthin sich in Sicherheit gebracht haben?“ gab Richter den eben in ihm aufgestiegenen Bedenken leisen Ausdruck.

„Das glaube ich nicht,“ flüsterte Mia zurück. „Wenn’s auch einen zweiten Pfad durch das Feld geben sollte, so werden Burns und Wilson niemals ihre Beute so leicht im Stich lassen oder ihren Schlupfwinkel aufgeben. Sie wissen ja ganz genau, daß die Neupariser erst morgen in der Gemeindeversammlung beschließen wollen, was gegen die überhandnehmende Unsicherheit getan werden sollte, und werden an eine ernste Gefahr kaum denken, vielleicht nur annehmen, daß der Hund eines Farmers zufällig in dieser Gegend herumschweift.“

Sie hatten sich inzwischen den Sträuchern immer mehr genähert, und da Mia jetzt an einzelnen Merkmalen erkannte, daß sie sich wirklich dem Pfade gegenüber befanden, streckten sie sich platt auf den Boden nieder und beobachteten das vorliegende Terrain. Mitternacht mußte längst vorüber sein. Es war empfindlich kalt geworden, und ein feiner Tau lag auf den spärlichen Gräsern. Doch die Aufregung ließ die beiden die Kühle vergessen. Ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen spähten unausgesetzt in die Runde, suchten in den grauen Kakteenwald einzudringen, der sich wie eine helle Wand vor ihnen entlangzog. Mia berührte plötzlich leise den Arm des Detektivs, wies geradeaus, wo sich aus dem Gesträuch jetzt langsam die Schatten mehrerer Reiter loslösten, die einer hinter dem anderen im Schritt in die Ebene herauskamen, nun Halt machten und zu beraten schienen. Die beiden duckten sich noch tiefer in den kalten Sand, und Richter umklammerte fester den Lauf seines Karabiners, fühlte auch sein Herz schneller schlagen. Blitzschnell zog eine bunte Reihe von Jugenderinnerungen an seinem geistigen Auge vorüber. Das abenteuerliche dieser Situation regte seine Phantasie an. Er sah sich als Knabe über eine jener berüchtigten Indianergeschichten gebeugt, in denen er ähnliche Vorfälle oft genug gefunden hatte, erinnerte sich an die wilden Spiele in den Wäldern seiner Heimat, wo er mit Altersgenossen nach dem Vorbilde jener blutdürstigen Rothäute harmlose Kriegszüge unternommen und einen ungefährlichen, hölzernen Tomahawk geschwungen hatte. Und jetzt erst sollten sich diese Jugendträume in bittersten Ernst verwandeln! Denn trotz seines mehrjährigen Aufenthalts in Amerika und mancher seltsamen Erlebnisse, war ihm bisher eine ähnlich aufregende Nacht nicht vorgekommen. Dazu hörte er neben sich noch die leisen Atemzüge dieses tapferen Kindes, das mit so überlegener Ruhe die Vorgänge dort drüben verfolgte und dessen Herzschlag sicher nicht im geringsten beschleunigt war. Ein Geräusch ließ den Detektiv aus seinen Gedanken auffahren. Die Reiter hatten sich jetzt getrennt und ritten zu zweien nach entgegengesetzter Richtung am Rande des Kaktuswaldes entlang, anscheinend mit größter Vorsicht, da sie öfters hielten und sich argwöhnisch umschauten. Als ihre Gestalten verschwunden waren, flüsterte Richter seiner Begleiterin enttäuscht zu: „Jetzt haben wir das Nachsehen! Oder wir müßten uns gerade trennen, um ihnen einzeln zu folgen und zusehen, wo sie bleiben. Eine fatale Geschichte! Daß die Schurken sich auch teilen mußten!“

Mia war aufgestanden, und während sie den Sand von ihren Beinkleidern abstäubte, meinte sie ganz ruhig: „Burns und Wilson reiten da nach Süden zu. Ich habe sie deutlich an ihren großen Schlapphüten erkannt, und auf diese haben Sie’s doch nur abgesehen, Master Richter! Also können wir zusammenbleiben und werden sie auch, wenn wir die Sache nicht allzu ungeschickt anfangen, bald in unserer Gewalt haben. Ich schlage vor, daß ich in großem Bogen um die beiden herumreite und ihnen einen Vorsprung abzugewinnen suche, was nicht schwer sein dürfte, da sie ja in einem recht behaglichen Schritt dahinschlendern. Dann komme ich ihnen als arme Verirrte harmlos entgegen, verwickle sie in ein Gespräch, und inzwischen nähern Sie sich vorsichtig von rückwärts, lassen ihnen die freundliche Mahnung „Hände hoch!“ möglichst energisch zukommen, und unter dem besänftigenden Anblick zweier Büchsen werden sie dann wohl möglichst prompt ihr Kommando befolgen. Wenn nicht, ich schieße selbst bei dem schlechtesten Licht auf kurze Entfernung so sicher, daß ich dann für ihr Leben keinen Penny mehr gebe!“

[273] Ohne Richters Antwort abzuwarten, schwang das kühne Mädchen sich in den Sattel, gab ihrem Pony die Sporen und war bald nach Süden verschwunden. Der Detektiv lenkte seinen Grauschimmel dichter an das Feld heran und folgte der grauen Kaktuswand, den Karabiner schußfertig in der Hand. Leider war bei diesem Plane der Wolfshund, den sie in der kleinen Einbuchtung vorhin zurückgelassen hatten, nicht berücksichtigt worden. Und dieser Umstand sollte den Verlauf der Dinge eine Wendung geben, die niemand voraussehen konnte. Der Detektiv hatte erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als er vor sich ein wütendes Bellen vernahm, dem ein klagendes Geheul folgte. Dann tauchten plötzlich in voller Karriere zwei Reiter auf, die bei seinem Anblick ebensoschnell die Pferde herumrissen und in die offene Wüste hinaussprengten. Bald darauf wurde auch die kleine Alix sichtbar, die nun ebenfalls abbog und den Flüchtlingen folgte, während ihre Reiterin sich im Sattel zurückwandte und Richter gellend zurief: „Ihnen nach! Versuchen Sie die Pferde abzuschießen, sonst entkommen sie uns!“ In vollem Jagen machte der Detektiv sich schußfertig. Das Mädchen hielt sich dicht an seiner Seite, spähte abschätzend nach vorn, wo die beiden Verbrecher lautlos, wie graue Gespenster, über den weichen Sandboden dahinrasten. Hundert Meter mochten es sein. Trotzdem paßte Mia den Moment ab, wo der Pony im Sprunge in der Luft zu schweben schien. Ein Feuerstrahl durchzuckte plötzlich die Dunkelheit; und drüben machte das eine Pferd einen deutlichen Satz nach seitwärts. „Getroffen, Master Richter, getroffen!“ rief Mia frohlockend. „Nehmen Sie den Schimmel aufs Korn. Er bietet ein besseres Ziel!“ Der kurze harte Knall des Karabiners durchdrang die nächtliche Stille. Aber unaufhaltsam setzten Burns und Wilson ihren Weg fort. Unmutig riß der Detektiv die Kammer auf und schob eine neue Patrone in den Lauf. Ehe er jedoch zum Schuß kam, knallte Mias Büchse abermals und der Schimmel zeichnete durch einen wilden Sprung in die Höhe, daß der Schuß saß. Doch die Flüchtlinge schienen zu wissen, daß es hier um das Leben ging; sie peitschten ihre Tiere vorwärts, die wohl gerade infolge ihrer Verwundungen ihre letzte Kraft hergaben. Langsam vergrößerte sich die Entfernung, und mit Schreien nahm Richter wahr, daß die beiden in der finstern Nacht zu entkommen drohten. Außerdem konnte Mias Pony dieses tolle Rennen nicht mehr lange aushalten. Schon jetzt keuchte Alix bedenklich, die weißen Flocken flogen ihr von dem schäumenden Maul, und trotz Sporen und aller Zurufe blieb sie sichtlich hinten, so daß Richter sich gezwungen sah, seinen Cäsar etwas zurückzuhalten. So verging wieder eine lange Viertelstunde. Das Mädchen holte das Letzte aus ihrem Pferde heraus, und immer ängstlicher schaute Richter nach vorwärts, wo nur noch der helle Leib des Schimmels bisweilen für einen Augenblick wie ein heller Fleck sichtbar wurde. Dann spritzte plötzlich unter den Hufen Wasser auf, der Boden wurde fester, und Mia rief dem Detektiv warnend zu: „Wir nähern uns dem Kanal, und dort drüben die Lichter müssen Neuparis[ws 3] sein. Die Schurken hoffen uns zwischen den Häusern zu entfliehen. Vorwärts, Master Richter, jetzt gilt’s! Wir müssen ihnen auf den Fersen bleiben, sonst verlieren wir sie aus den Augen!"

Schweigend sprengten sie weiter. Da war’s plötzlich, als ob von Osten, vom Kolorado her, fernes dumpfes Brausen herüberdrang, wie die Vorboten eines verheerenden Sturmes. Richter fuhr zusammen, strengte seine Ohren an, hörte, wie das Geräusch sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte. Eine furchtbare Ahnung ließ ihn entsetzt zusammenfahren, und große Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Noch hoffte er auf eine andere Lösung. Dann aber zogen über ihnen mit schwerem Flügelschlage große Schwärme von Krähen und Raben mit aufgeregtem Kreischen nach Westen. Immer zahlreicher wurden auch die in wahnsinniger Hast in ganzen Scharen flüchtenden Kaninchen und Steppenwölfe. Das ferne Brausen war jetzt zu einem ununterbrochenen Donnern angeschwollen und ließ Richter das Blut in den Adern erstarren. Einen wilden, verzweifelten Blick warf er noch auf den friedlichen Lichtschein, der von dem ahnungslosen Städtchen her durch die Nacht winkte. Er konnte die Einwohner nicht mehr warnen. Es war zu spät. Wäre er allein gewesen, dann hatte er sich nicht lange besonnen, sondern würde trotzdem noch den Versuch gemacht und wahrscheinlich zwecklos sein Leben geopfert haben. Aber hier neben ihm jagte die blühende Jugend dahin, Mia, die sich in diesen wenigen Stunden schon in sein Herz eingeschlichen hatte. Und sie sollte leben, mußte gerettet werden. Mit bebender, heiserer Stimme rief er ihr zu: „Mia, zurück, zurück! Folgen Sie mir! Der Kolorado! Hören Sie doch!“

Mit einem Ruck hatte sie die schnaubende Alix zum Stehen gebracht und aus ihrem jetzt bleichen Gesicht schauten ihn die entsetzten Augen so bang fragend, fast ungläubig an. Aber das donnernde Rauschen der gewaltigen Wasserwelle, die nach der Zerstörung des Staubbassins durch die Hochflut des Flusses nun dem Kanal folgend, von den Uferabhängen in die Wüste hinabstürzte, [274] klang immer näher und näher und erfüllte die Luft mit pfeifendem Brausen, als ob ein Orkan über die Steppe dahinraste. Mia saß noch wie versteinert im Sattel. Dann erst begriff sie die ganze Größe der Gefahr. Ein Schreckensruf entfuhr ihr, hilflos sah sie sich um, ihre halbirren Blicke suchten die Häuser von Neuparis[ws 4], in denen auch ihr Vater neben Hunderten von ahnungslosen Menschen dem Verderben preisgegeben war. Noch schien sie mit einem Entschluß zu kämpfen. Dann wandte sie plötzlich den Pony und wollte auf die Brücke zusprengen, die sich als dunkler Strich über der im Sternenlicht blinkenden Wasserfläche abzeichnete. Doch nur wenige Sätze kam sie voraus, da war Richter schon wieder neben ihr, griff Alix geschickt in die Zügel, riß sie zurück und stürmte in rasender Flucht, seinen Grauschimmel mit den Sporen rücksichtslos bearbeitend, auf dem Wege nach Fort Mojave davon. Vergebens suchte Mia den Pony zurückzuhalten, vergebens flehte sie Richter unter Tränen an, sie frei zu geben. Des blonden Hünen eiserne Faust ließ die Zügel des Pferdchens nicht fahren. Immer weiter ging’s nach Nordosten zu, wo allein die Rettung winkte. Das Mädchen hatte sich in sein Schicksal ergeben; es schluchzte nur noch leise in sich hinein. Hinter ihnen kroch jetzt aus der Dunkelheit wie ein verderblicher Drache eine schäumende, gurgelnde Wand heran. Immer häufiger blickte der Detektiv rückwärts, stieß seinem Cäsar grausam die marternden Eisenräder immer aufs neue in die Weichen, daß das Tier vor Schmerzen aufwieherte. Doch fast schien’s, als sollte selbst diese wahnsinnige Hetze vergeblich sein. Richter meinte, daß Alix bereits kraftlos zu stolpern begann, daß ihre Sprünge immer kürzer wurden und sie bisweilen schon auf den Vorderbeinen einknickte. Er wußte, jeden Augenblick konnte der völlig erschöpfte Pony zuammenbrechen. Und was sollte dann geschehen? Wie lange würde der Grauschimmel die Last von zwei Menschen noch weitertragen, wo auch seine Flanken bereits mit Schaum bedeckt waren, nach dieser stundenlangen Jagd?

Wieder fiel Alix vorn in die Knie, so daß die Reiterin beinahe aus dem Sattel geflogen wäre. Da umfaßte Richter die Mächengestalt, hob sie empor und zog sie zu sich hinüber. Willenlos ließ Mia es geschehen. Und wieder ging’s vorwärts, vorbei an den grauen Kaktusbüschen, daß der Sand unter den flüchtigen Hufen aufwirbelte. Minuten vergingen. Da war’s Richter, als ob das Rauschen hinter ihnen schwächer und schwächer wurde. Er blickte sich um. Die vorwärtsstrebende Wand war verschwunden; regungslos wie vorher lag die Wüste da, und nur in der Ferne nach rechts hinüber tobte und stürmte es noch wie das Donnern einer Meeresbrandung. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr dem Manne, der jetzt im Schritt mit dem halbohnmächtigen Mädchen im Arm durch die schweigende Nacht dahinritt. Er ahnte nur zu gut, worauf man das plötzliche Stocken der Flutwelle zurückzuführen hatte. Ein Teil der Wassermassen war in das Tal gestürzt, in dem das kleine Städtchen lag, hatte dieses Becken erst ausfüllen müssen und wurde so in ihrem zerstörenden Laufe etwas nach Süden abgelenkt. Mit stillem Grauen malte er sich die furchtbaren Schreckensszenen aus, die sich in dieser Nacht in den Farmen am Kanal und den Häusern von Neuparis[ws 5] abgespielt haben mußten. Gute und Böse waren vom Schicksal heute in kurzer Zeit ausgelöscht worden. Auch die beiden Mörder, deren Pferde, wie Richter bemerkt hatte, kurz vor dem Kanal in demselben Augenblick zusammenbrachen, als er Mias Pony in den Zügel fiel, waren zweifellos von den Fluten davongetragen worden.

Mitleidig schaute Richter auf das blasse Gesicht des Mädchens, das heute den Vater verloren hatte und nun heimatlos, allein ohne Schutz dastand. Liebevoll beugte er sich über sie, und in seinen gütigen, ehrlichen Augen lag’s wie ein heiliges, zärtliches Versprechen.

Am Morgen, der dieser Schreckensnacht folgte, verließen vier Personen das Tal der Tränen und ritten langsam in den strahlenden Sonnenschein eines wunderschönen Maitages dem so plötzlich entstandenen See zu, dessen gelbliche Fläche sich kaum eine Meile von dem Felsenkessel nach Süden zu als eine unabsehbare Wasserwüste auszudehnen begann. Stundenlang folgten Walters mit ihren Gästen dem Rande des Sees, schauten suchend über die Flut hin, auf der hier und da ein Tierkadaver, einige Sträucher und Bretter schwammen. Bisweilen wurde auch eine niedrige Insel sichtbar, die noch gestern in der Koloradowüste eine kleine Anhöhe gewesen war. Doch nirgends konnte man ein Lebewesen entdecken. Die ungeheure Wassermenge hatte alles vernichtet. Verschwunden waren die langgestreckten Gebäude der Farmen, verschwunden die niedrigen Häuser des kleinen Städtchens und seine unglücklichen Bewohner. Auf dem Heimweg ritt das Ehepaar voraus. Der blonde Hüne blieb mit Mia, die tränenlos mit verzweifelnden Augen vor sich hinblickte, immer weiter zurück. Der kleine Pony, der glücklich davongekommen war und sich von den Strapazen der Nacht noch nicht ganz erholt hatte, vermochte wohl ebensowenig wie der Grauschimmel mit den ausgeruhten Pferden gleichen Schritt zu halten. Und was Frau Ellens liebreiche Trostworte nicht erreicht hatten, gelang jetzt Richters inniger Zärtlichkeit, mit der er dem verwaisten Mädchen eine neue, glücklichere Zukunft eröffnete. Als sie wohl eine Viertelstunde nach Walters in dem Tale anlangten, lag auf Mias Gesicht schon wieder der Abglanz einer stillen, hoffenden Seligkeit. –

Noch heute führt der Koloradostrom den größten Teil seiner Wassermassen in das jetzt Imperial-Valley genannte Wasserbecken, [275] die ehemalige Koloradowüste, die jetzt einen See von über tausend Quadratkilometer Fläche und achtzehn Meter Tiefe bildet. Mehrfach waren die Ingenieure bemüht, Dämme aufzuschütten und den Fluß in den Golf von Kalifornien zurückzuleiten. Doch alle Bemühungen wurden bis jetzt vereitelt. – Aus den von der Überschwemmung nicht betroffenen Teilen der früheren Steppe ist infolge der bedeutenden Wassermenge und der häufigen Niederschläge ein äußerst fruchtbares Ackerland geworden. Und die große, von zwei früheren deutschen Ansiedlern bewirtschaftete Farm, deren Wohngebäude sich nördlich des Tales der Tränen inmitten eines von Jahr zu Jahr üppiger wuchernden Parkes erheben, ist wohl die ertragreichste Musterwirtschaft der dortigen Gegend. Mit eisernem Fleiß haben die beiden Freunde sich aus kleinen Anfängen emporgearbeitet und es zu einem Wohlstand gebracht, der sie für die ersten entbehrungsreichen Jahre in der neuen Welt jetzt reichlich entschädigt. Auch Frau Mia hat die Erinnerung an die traurigen Vorgänge jener Mainacht längst überwunden. Auf ihren Wunsch wurde an demselben Tage, an dem Frau Ellen Walter den ersten kleinen Richter aus der Taufe hob, der Name des Tals der Tränen, das einer der liebsten Ausflugsorte der beiden Ehepaare geblieben ist, in „Tal des Glücks“ umgewandelt.


Fußnoten

  1. Die spätere Schilderung des Einbruchs des Koloradostromes in die nach ihm benannte Tiefebene entspricht vollkommen den Tatsachen.

Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: Plax
  2. Vorlage: Grenzerlut
  3. Vorlage: Neu-Paris; alle anderen Erwähnung im Text mehrheitlich Neuparis.
  4. Vorlage: Neu-Paris; alle anderen Erwähnung im Text mehrheitlich Neuparis.
  5. Vorlage: Neu-Paris; alle anderen Erwähnung im Text mehrheitlich Neuparis.

Anmerkung zum tatsächlichen Ereignis (Wikisource)

Der Imperial Kanal, auch Alamo Kanal, hatte eine Länge von 23 km und verband den Colorado River mit dem Alamo River.

In Folge eines nach heftigen Regenfällen erfolgten Dammbruchs am Colorado River im Jahre 1905 strömten Wassermassen in das sonst ausgetrocknete Imperial Valley. Durch die Überflutung versank die Ortschaft Salton, eine Bahnarbeitersiedlung, die jedoch rechtzeitig evakuiert werden konnte. Hierbei entstand der Saltonsee.