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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

wollte. Dann begann der Unbekannte behaglich vor sich hinzulachen, schob seinen Revolver, den er bisher schußfertig in der Hand gehalten hatte, in die Gürteltasche zurück und zog mit tiefer Verbeugung den großen verstaubten Panamahut.

„Fräulein Mia Picker, wenn ich nicht irre,“ klang’s lustig zu dem erstaunten Mädchen hinüber. „Gestatte mich vorzustellen: Ernst Richter, Jugendfreund und derzeitiger Gast von Herrn Friedrich Walter.“

Mia hatte die drohende Büchse schnell gesenkt und eine heiße Röte flutete ihr jetzt unter den bewundernden Blicken des Fremden in die Wangen. Und einer raschen Eingebung folgend, wandte sie plötzlich ihr Pferdchen und sprengte in voller Karriere der nahen Felsgruppe zu, an deren Eingang sie schon vorher ein helles Kleid hatte schimmern sehen. Doch so leichten Kaufs sollte sie nicht davonkommen. Schon nach wenigen Minuten war sie eingeholt, der Grauschimmel schob sich neben die kleine Alix und eine weiche Stimme fragte übermütig: „Aber Fräulein Picker, weshalb fliehen Sie vor mir? Was soll Frau Walter, die uns beobachtet hat, von ihrer tapferen Freundin denken, wenn Sie ohne allen Grund vor einem harmlosen Menschen ausreißen!“

Diese Anspielung auf Mias vielgerühmte Kühnheit genügte. Sie ließ den Pony in Schritt fallen und wollte ihrem Begleiter möglichst unumwunden ihre Meinung sagen. Doch der ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

„Nicht böse sein, Fräulein Picker,“ bat er schmeichelnd. „Sollte ich Sie denn allein zu Walters reiten lassen, wo wir doch denselben Weg haben? Frau Walter und Freund Fritz erzählten mir so viel Liebes und Gutes von Ihnen, daß ich Sie kaum mehr kennen zu lernen brauche, und nur Ihr reizendes Kostüm machte mich einen Augenblick unsicher, ob ich wirklich die Erwartete vor mir hatte. Daß Sie ebenfalls von mir schon so manches und nicht ganz Schlechtes gehört haben, sagten mir Walters auch. Also geben Sie mir nur ruhig Ihre kleine Hand und heißen Sie mich in meiner neuen, vorläufigen Heimat willkommen.“

Mia war völlig entwaffnet. Es lag so viel aufrichtige Bewunderung und Liebenswürdigkeit in diesen Worten, daß sie jetzt mit einem schelmischen Lächeln zu ihm aufschaute und ihm die Hand hinreichte.

„Ehrlich gestanden, Herr Richter,“ sagte sie mit ihrer berückenden Offenheit, „ich schämte mich vor Ihnen, weil ich Sie zuerst für einen jener Pferdediebe hielt, die jetzt hier in der Gegend ihr Wesen treiben; daher auch mein Wink mit der Büchse. Und hätten Sie sich ohne meine Erlaubnis näher herangewagt, ich glaube, es wäre Ihnen schlecht bekommen.“

Ernst Richter hielt die kleine, sonnverbrannte Hand länger wie nötig in der seinen. Beinahe andächtig schaute er in diese liebreizenden und doch so energischen Züge und vergaß ganz, daß er ihr eine Antwort schuldig blieb. Erst als eine lachende Stimme ihnen einen herzlichen Gruß zurief, ließ er die lebenswarmen, weichen Finger fahren und parierte seinen Grauschimmel. Mit einem schalkhaften Lächeln musterte Frau Walter, eine schlanke, vielleicht dreißigjährige Blondine, deren schmales Gesicht trotz der feinen Fältchen um Augen und Mund noch immer von eigenartiger Schönheit war, die beiden, etwas verwirrten Ankömmlinge. Richter sprang, nur um seine Verlegenheit zu verbergen, schnell ab, half jetzt Mia aus dem Sattel und führte dann die beiden Pferde am Zügel den mit feinem SteingeröII bedeckten Eingang zu dem Felsental empor, während die Frauen eifrig plaudernd Arm in Arm voranschritten.

***

„Das Tal der Tränen“ hatte eine Ausdehnung von vielleicht 500 Quadratmetern, war in der Mitte, von den ziemlich steilen, wildzerklüfteten Felswänden an gemessen, etwa neunzig Meter breit und spitzte sich nach Norden zu einem engen Kanon zu, dessen feiner, sandiger Boden mit den rund geschliffenen Steinen darin das frühere Flußbett verriet. Wahrscheinlich strömte vor Jahrhunderten der Kolorado noch durch diesen Engpaß und wurde dann infolge größerer, durch Erdbeben veranlaßter Verschiebungen der Bergmassen aus seinem bisherigen Laufe verdrängt und zur Umgehung des Monumentgebirges gezwungen. Dabei hatte dann auch eine Erhebung des nördlichen Teiles der Felsgruppe den einen Ausgang dieses Kessels verschlossen, so daß nur noch nach Süden zu eine kaum vierzig Schritt breite Öffnung verblieb, durch die Ernst Richter jetzt die beiden Pferde nach den an der östlichen Wand unter ein paar verkrüppelten Kiefern und einigen Eichen halb verborgenen Gebäuden brachte. Diese, ein kleines Wohnhaus und zwei niedrige Stallungen, zeigten trotz ihrer primitiven Bauart doch auf den ersten Blick das Bestreben des Besitzers, schon das Äußere möglichst freundlich zu gestalten. So waren die rauhen Holzteile mit hellblauer Wasserfarbe gestrichen, die kleinen Fenster mit Weiß abgesetzt und die Dächer mit einer gleichmäßig grünen Moosschicht bedeckt. Unter den Eichen in der Nähe des eisernen Pumpwerks blühten in einem kleinen Gärtchen mit einer von wildem Wein umrankten Laube in üppiger Farbenpracht Tulpen und Hyazinthen und die scharfduftenden Pflanzen des kalifornischen Mohns.

Als der frühere deutsche Industrielle, der durch unglückliche Spekulationen und zerrütteter Vermögensverhältnisse halber gezwungen war, seine Heimat gegen die neue Welt einzutauschen und zunächst in Mexiko durch Bewirtschaftung einer Weizenfarm sich eine sichere Existenz zu gründen versuchte, dann aber infolge mehrerer Mißernten die Farm wieder aufgeben mußte und halb verzweifelt mit den letzten tausend Dollars dieses einsame Tal erwarb, weil auch ihn die Nachricht von den Goldfunden in das Gebiet der Koloradowüste gelockt hatte, da sah es in dem engen Bergkessel unter den Eichen allerdings noch nicht so wohnlich aus. Den früheren Besitzern war es auf Bequemlichkeit gar nicht angekommen. Sie hatten in einem zerrissenen Leinwandzelt gehaust und sich ihr Essen von einem alten Indianerweib, die zusammen mit dem ebenso faulen wie diebischen Gemahl als Arbeiter für die Goldwäscherei gemietet war, auf höchst einfache Art zubereiten lassen und nur daran gedacht, in kürzester Zeit möglichst viel von dem roten Metall aus dem feinen Sand herauszuwühlen, um wieder in zivilisiertere Gegenden zurückkehren zu können. Doch der Gewinn an Gold nahm immer mehr ab, und so wurde denn in Will Pickers Hotel ohne viel Formalitäten, aber desto größeren Schwindelgeschichten von seiten der beiden Kompagnons über den Reichtum der Mine der Kaufkontrakt abgeschlossen, und Fritz Walter hielt mit seiner blassen, verhärmten Frau seinen Einzug in das Tal der Tränen, entblößt von allen Barmitteln und ohne viel Hoffnung, daß ihm das Glück hier günstiger sein werde, als auf der Weizenfarm in Mexico. Doch zum Erstaunen der Neupariser, die dem Mann mit den ernsten Augen und dem zurückhaltenden Wesen wenig Zuneigung entgegenbrachten, ihn hochmütig schalten und schadenfroh auf seinen baldigen Abzug aus der ausgeraubten Mine warteten, verging Monat auf Monat und das deutsche Ehepaar dachte gar nicht daran, das einsame Tal aufzugeben. Im Gegenteil, man erfuhr bald, daß Fritz Walter sich zwischen den Felswänden auf ein längeres Bleiben eingerichtet und sich sogar durch einen Unternehmer einen Brunnen hatte bohren lassen, mit dessen Wasser er die Goldwäscherei anscheinend mit besserem Erfolg als seine Vorgänger betrieb. Aber Genaueres ließ sich über das Treiben der neuen Ansiedler nicht feststellen, da sie sehr zurückgezogen lebten und jeden Besuch der neugierigen Einwohner des nahen Städtchens mit so deutlicher Ablehnung hinnahmen, daß man jeden Annäherungsversuch bald aufgab und sich schließlich gar nicht mehr um sie kümmerte.

Nachdem Ernst Richter die beiden Pferde in dem Stall untergebracht und ihnen einige Maiskolben in die Krippe geworfen hatte, gesellte er sich wieder den Frauen zu, die in lebhaftestem Gespräch in der Laube saßen.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/8&oldid=- (Version vom 6.9.2019)