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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

Das Tal der Tränen.
Erzählung nach einer wahren Begebenheit von Walter Kabel-Langfuhr.
(Schluß.)

Ohne Richters Antwort abzuwarten, schwang das kühne Mädchen sich in den Sattel, gab ihrem Pony die Sporen und war bald nach Süden verschwunden. Der Detektiv lenkte seinen Grauschimmel dichter an das Feld heran und folgte der grauen Kaktuswand, den Karabiner schußfertig in der Hand. Leider war bei diesem Plane der Wolfshund, den sie in der kleinen Einbuchtung vorhin zurückgelassen hatten, nicht berücksichtigt worden. Und dieser Umstand sollte den Verlauf der Dinge eine Wendung geben, die niemand voraussehen konnte. Der Detektiv hatte erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als er vor sich ein wütendes Bellen vernahm, dem ein klagendes Geheul folgte. Dann tauchten plötzlich in voller Karriere zwei Reiter auf, die bei seinem Anblick ebensoschnell die Pferde herumrissen und in die offene Wüste hinaussprengten. Bald darauf wurde auch die kleine Alix sichtbar, die nun ebenfalls abbog und den Flüchtlingen folgte, während ihre Reiterin sich im Sattel zurückwandte und Richter gellend zurief: „Ihnen nach! Versuchen Sie die Pferde abzuschießen, sonst entkommen sie uns!“ In vollem Jagen machte der Detektiv sich schußfertig. Das Mädchen hielt sich dicht an seiner Seite, spähte abschätzend nach vorn, wo die beiden Verbrecher lautlos, wie graue Gespenster, über den weichen Sandboden dahinrasten. Hundert Meter mochten es sein. Trotzdem paßte Mia den Moment ab, wo der Pony im Sprunge in der Luft zu schweben schien. Ein Feuerstrahl durchzuckte plötzlich die Dunkelheit; und drüben machte das eine Pferd einen deutlichen Satz nach seitwärts. „Getroffen, Master Richter, getroffen!“ rief Mia frohlockend. „Nehmen Sie den Schimmel aufs Korn. Er bietet ein besseres Ziel!“ Der kurze harte Knall des Karabiners durchdrang die nächtliche Stille. Aber unaufhaltsam setzten Burns und Wilson ihren Weg fort. Unmutig riß der Detektiv die Kammer auf und schob eine neue Patrone in den Lauf. Ehe er jedoch zum Schuß kam, knallte Mias Büchse abermals und der Schimmel zeichnete durch einen wilden Sprung in die Höhe, daß der Schuß saß. Doch die Flüchtlinge schienen zu wissen, daß es hier um das Leben ging; sie peitschten ihre Tiere vorwärts, die wohl gerade infolge ihrer Verwundungen ihre letzte Kraft hergaben. Langsam vergrößerte sich die Entfernung, und mit Schreien nahm Richter wahr, daß die beiden in der finstern Nacht zu entkommen drohten. Außerdem konnte Mias Pony dieses tolle Rennen nicht mehr lange aushalten. Schon jetzt keuchte Alix bedenklich, die weißen Flocken flogen ihr von dem schäumenden Maul, und trotz Sporen und aller Zurufe blieb sie sichtlich hinten, so daß Richter sich gezwungen sah, seinen Cäsar etwas zurückzuhalten. So verging wieder eine lange Viertelstunde. Das Mädchen holte das Letzte aus ihrem Pferde heraus, und immer ängstlicher schaute Richter nach vorwärts, wo nur noch der helle Leib des Schimmels bisweilen für einen Augenblick wie ein heller Fleck sichtbar wurde. Dann spritzte plötzlich unter den Hufen Wasser auf, der Boden wurde fester, und Mia rief dem Detektiv warnend zu: „Wir nähern uns dem Kanal, und dort drüben die Lichter müssen Neuparis[ws 1] sein. Die Schurken hoffen uns zwischen den Häusern zu entfliehen. Vorwärts, Master Richter, jetzt gilt’s! Wir müssen ihnen auf den Fersen bleiben, sonst verlieren wir sie aus den Augen!"

Schweigend sprengten sie weiter. Da war’s plötzlich, als ob von Osten, vom Kolorado her, fernes dumpfes Brausen herüberdrang, wie die Vorboten eines verheerenden Sturmes. Richter fuhr zusammen, strengte seine Ohren an, hörte, wie das Geräusch sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte. Eine furchtbare Ahnung ließ ihn entsetzt zusammenfahren, und große Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Noch hoffte er auf eine andere Lösung. Dann aber zogen über ihnen mit schwerem Flügelschlage große Schwärme von Krähen und Raben mit aufgeregtem Kreischen nach Westen. Immer zahlreicher wurden auch die in wahnsinniger Hast in ganzen Scharen flüchtenden Kaninchen und Steppenwölfe. Das ferne Brausen war jetzt zu einem ununterbrochenen Donnern angeschwollen und ließ Richter das Blut in den Adern erstarren. Einen wilden, verzweifelten Blick warf er noch auf den friedlichen Lichtschein, der von dem ahnungslosen Städtchen her durch die Nacht winkte. Er konnte die Einwohner nicht mehr warnen. Es war zu spät. Wäre er allein gewesen, dann hatte er sich nicht lange besonnen, sondern würde trotzdem noch den Versuch gemacht und wahrscheinlich zwecklos sein Leben geopfert haben. Aber hier neben ihm jagte die blühende Jugend dahin, Mia, die sich in diesen wenigen Stunden schon in sein Herz eingeschlichen hatte. Und sie sollte leben, mußte gerettet werden. Mit bebender, heiserer Stimme rief er ihr zu: „Mia, zurück, zurück! Folgen Sie mir! Der Kolorado! Hören Sie doch!“

Mit einem Ruck hatte sie die schnaubende Alix zum Stehen gebracht und aus ihrem jetzt bleichen Gesicht schauten ihn die entsetzten Augen so bang fragend, fast ungläubig an. Aber das donnernde Rauschen der gewaltigen Wasserwelle, die nach der Zerstörung des Staubbassins durch die Hochflut des Flusses nun dem Kanal folgend, von den Uferabhängen in die Wüste hinabstürzte,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Neu-Paris; alle anderen Erwähnung im Text mehrheitlich Neuparis.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)