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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

klang immer näher und näher und erfüllte die Luft mit pfeifendem Brausen, als ob ein Orkan über die Steppe dahinraste. Mia saß noch wie versteinert im Sattel. Dann erst begriff sie die ganze Größe der Gefahr. Ein Schreckensruf entfuhr ihr, hilflos sah sie sich um, ihre halbirren Blicke suchten die Häuser von Neuparis[ws 1], in denen auch ihr Vater neben Hunderten von ahnungslosen Menschen dem Verderben preisgegeben war. Noch schien sie mit einem Entschluß zu kämpfen. Dann wandte sie plötzlich den Pony und wollte auf die Brücke zusprengen, die sich als dunkler Strich über der im Sternenlicht blinkenden Wasserfläche abzeichnete. Doch nur wenige Sätze kam sie voraus, da war Richter schon wieder neben ihr, griff Alix geschickt in die Zügel, riß sie zurück und stürmte in rasender Flucht, seinen Grauschimmel mit den Sporen rücksichtslos bearbeitend, auf dem Wege nach Fort Mojave davon. Vergebens suchte Mia den Pony zurückzuhalten, vergebens flehte sie Richter unter Tränen an, sie frei zu geben. Des blonden Hünen eiserne Faust ließ die Zügel des Pferdchens nicht fahren. Immer weiter ging’s nach Nordosten zu, wo allein die Rettung winkte. Das Mädchen hatte sich in sein Schicksal ergeben; es schluchzte nur noch leise in sich hinein. Hinter ihnen kroch jetzt aus der Dunkelheit wie ein verderblicher Drache eine schäumende, gurgelnde Wand heran. Immer häufiger blickte der Detektiv rückwärts, stieß seinem Cäsar grausam die marternden Eisenräder immer aufs neue in die Weichen, daß das Tier vor Schmerzen aufwieherte. Doch fast schien’s, als sollte selbst diese wahnsinnige Hetze vergeblich sein. Richter meinte, daß Alix bereits kraftlos zu stolpern begann, daß ihre Sprünge immer kürzer wurden und sie bisweilen schon auf den Vorderbeinen einknickte. Er wußte, jeden Augenblick konnte der völlig erschöpfte Pony zuammenbrechen. Und was sollte dann geschehen? Wie lange würde der Grauschimmel die Last von zwei Menschen noch weitertragen, wo auch seine Flanken bereits mit Schaum bedeckt waren, nach dieser stundenlangen Jagd?

Wieder fiel Alix vorn in die Knie, so daß die Reiterin beinahe aus dem Sattel geflogen wäre. Da umfaßte Richter die Mächengestalt, hob sie empor und zog sie zu sich hinüber. Willenlos ließ Mia es geschehen. Und wieder ging’s vorwärts, vorbei an den grauen Kaktusbüschen, daß der Sand unter den flüchtigen Hufen aufwirbelte. Minuten vergingen. Da war’s Richter, als ob das Rauschen hinter ihnen schwächer und schwächer wurde. Er blickte sich um. Die vorwärtsstrebende Wand war verschwunden; regungslos wie vorher lag die Wüste da, und nur in der Ferne nach rechts hinüber tobte und stürmte es noch wie das Donnern einer Meeresbrandung. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr dem Manne, der jetzt im Schritt mit dem halbohnmächtigen Mädchen im Arm durch die schweigende Nacht dahinritt. Er ahnte nur zu gut, worauf man das plötzliche Stocken der Flutwelle zurückzuführen hatte. Ein Teil der Wassermassen war in das Tal gestürzt, in dem das kleine Städtchen lag, hatte dieses Becken erst ausfüllen müssen und wurde so in ihrem zerstörenden Laufe etwas nach Süden abgelenkt. Mit stillem Grauen malte er sich die furchtbaren Schreckensszenen aus, die sich in dieser Nacht in den Farmen am Kanal und den Häusern von Neuparis[ws 2] abgespielt haben mußten. Gute und Böse waren vom Schicksal heute in kurzer Zeit ausgelöscht worden. Auch die beiden Mörder, deren Pferde, wie Richter bemerkt hatte, kurz vor dem Kanal in demselben Augenblick zusammenbrachen, als er Mias Pony in den Zügel fiel, waren zweifellos von den Fluten davongetragen worden.

Mitleidig schaute Richter auf das blasse Gesicht des Mädchens, das heute den Vater verloren hatte und nun heimatlos, allein ohne Schutz dastand. Liebevoll beugte er sich über sie, und in seinen gütigen, ehrlichen Augen lag’s wie ein heiliges, zärtliches Versprechen.

Am Morgen, der dieser Schreckensnacht folgte, verließen vier Personen das Tal der Tränen und ritten langsam in den strahlenden Sonnenschein eines wunderschönen Maitages dem so plötzlich entstandenen See zu, dessen gelbliche Fläche sich kaum eine Meile von dem Felsenkessel nach Süden zu als eine unabsehbare Wasserwüste auszudehnen begann. Stundenlang folgten Walters mit ihren Gästen dem Rande des Sees, schauten suchend über die Flut hin, auf der hier und da ein Tierkadaver, einige Sträucher und Bretter schwammen. Bisweilen wurde auch eine niedrige Insel sichtbar, die noch gestern in der Koloradowüste eine kleine Anhöhe gewesen war. Doch nirgends konnte man ein Lebewesen entdecken. Die ungeheure Wassermenge hatte alles vernichtet. Verschwunden waren die langgestreckten Gebäude der Farmen, verschwunden die niedrigen Häuser des kleinen Städtchens und seine unglücklichen Bewohner. Auf dem Heimweg ritt das Ehepaar voraus. Der blonde Hüne blieb mit Mia, die tränenlos mit verzweifelnden Augen vor sich hinblickte, immer weiter zurück. Der kleine Pony, der glücklich davongekommen war und sich von den Strapazen der Nacht noch nicht ganz erholt hatte, vermochte wohl ebensowenig wie der Grauschimmel mit den ausgeruhten Pferden gleichen Schritt zu halten. Und was Frau Ellens liebreiche Trostworte nicht erreicht hatten, gelang jetzt Richters inniger Zärtlichkeit, mit der er dem verwaisten Mädchen eine neue, glücklichere Zukunft eröffnete. Als sie wohl eine Viertelstunde nach Walters in dem Tale anlangten, lag auf Mias Gesicht schon wieder der Abglanz einer stillen, hoffenden Seligkeit. –

Noch heute führt der Koloradostrom den größten Teil seiner Wassermassen in das jetzt Imperial-Valley genannte Wasserbecken,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Neu-Paris; alle anderen Erwähnung im Text mehrheitlich Neuparis.
  2. Vorlage: Neu-Paris; alle anderen Erwähnung im Text mehrheitlich Neuparis.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/17&oldid=- (Version vom 31.7.2018)