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Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275

„Wenn Sie Frau Walter kennen würden, Master Wilson,“ entgegnete sie freundlich wie vorher, „so könnten Sie meine Schwärmerei wohl verstehen. Ich bin der Dame, – denn Sie ist eine vollkommene Lady, zu großem Danke verpflichtet; habe von ihr maches gelernt, was man hier in der Wildnis nie erfahrt, – selbst von Ihnen nicht, trotzdem Sie doch einst in Frisko (Abkürzung für San Franzisko) vor Jahren in der besten Gesellschaft verkehrt haben wollen.“

Der angebliche Advokat schob bei diesen Worten, deren spöttischer Ton so offensichtlich zutage trat, nur verlegen seinen großen Schlapphut aus der Stirn und fuhr sich glättend über das brandrote, borstige Haar. Doch Fred Burns glaubte dem Freunde beistehen zu müssen und sagte daher salbungsvoll: „Das Schicksal hat uns beiden böse mitgespielt, Fräulein Mia, dem Harry und mir. Und ob‘s recht ist, uns dies bei jeder Gelegenheit vorzuhalten, ist ‘ne große Frage, – nicht wahr, Will?“

Will Picker, der vor seinem einzigen Kinde eine ebenso große Scheu empfand, wie er es abgöttisch liebte, hatte bisher das Gespräch mit ganz erstaunter Miene verfolgt. Denn bisher waren die beiden Ehrenmänner von Mia stets mit einer so deutlichen Geringschätzung behandelt worden, daß er sich diese plötzliche Liebenswürdigkeit nicht recht erklären konnte und dahinter nur eine neue, seinen sauberen Geschäftsfreunden drohende Demütigung witterte. So beließ er‘s denn bei einem etwas unverständlichen Achselzucken, füllte schweigend die Becher und reichte dem Mädchen die leere Flasche, – ein Wink, den Mia sehr wohl verstand, aber nicht befolgte. Vielmehr stemmte sie jetzt ihre kleinen Fäuste auf den Kistendeckel, der hier die Stelle der Tischplatte vertrat, und schien sich so auf ein längeres Verweilen einrichten zu wollen. Und ihre strahlenden Augen, in denen es sonst von tausend Teufelchen sprühte, schauten den blonden Fred beinahe mitleidig an, als sie jetzt sagte: „Ich weiß, auch Sie haben einst bessere Zeiten gesehen, Master Burns. Vater erzählte mir davon. Waren Sie nicht Advokat und Kompagnon von Master Wilson oben in Frisko?“

Dem im schwarzen Gehrock war schon unter dem anscheinend so warmen Blick dieser eigenartigen Schönheit das Blut zu Kopf geschossen. Diese dunkle Glut vertiefte sich jetzt noch auf seinem Gesicht. Denn weiß der Kuckuck wie es kam, aber diesem Mädchen etwas vorzulügen, fiel selbst Fred Burns schwer. Trotzdem konnte er doch unmöglich all das jetzt widerrufen, was er vor Jahren Will Picker über Harry Wilsons und die eigene Vergangenheit mit der größten Phantasie, aber desto weniger Wahrheitsliebe aufgetischt hatte. Daß von dem dicken Wirt diese Märchendichtung nie geglaubt worden war und dieser sie eher für zwei entsprungene Zöglinge des Friskoer Zuchthauses, als biedere Anwälte hielt, konnte den Seelenfrieden der beiden nicht weiter beunruhigen. Aber hier mit der Mia lag die Sache doch anders! Vor diesen reinen Kinderaugen wieder die alten Lügen vorbringen, das ging selbst dem blonden Fred nicht über die Zunge. Daher senkte er verlegen den Kopf, wie gedrückt von der Last der Schicksalsschläge, und antwortete mit einer großartigen Handbewegung, als wollte er damit jene trüben Erinnerungen fortwischen.

„Mag das Einst ruhen, Fräulein Mia! Ich spreche nicht gern darüber, und … alte Wunden läßt man am besten vernarben.“

Harry Wilson hatte plötzlich durch einen Ruck seinen Hut vor das Gesicht geschnellt und biß sich nun im Schutze der breiten Krempe krampfhaft auf die Lippen, um einen Heiterkeitsausbruch zu unterdrücken, was ihm zwar gelang, nicht aber Will Picker, der plötzlich losprustete und unter Tränen lachend herausplatzte: „Junge, Junge, das war großartig gesagt, „Lassen Sie das Einst ruhen, Fräulein Mia!““ – Und er versuchte dabei den theatralischen, dumpfen Pathos nach Möglichkeit wiederzugeben.

Fred Burns war aufgesprungen: „Ihr seid ein gefühlloser Patron, Will, habt keine Ahnung, wie es einem Menschen tut, wenn er wieder einmal einen Blick zurückwirft auf …“

Doch dieses „worauf“ verschwieg er klüglich. Denn die einzelnen Stationen seiner zurückgelegten Lebensbahn wären doch nur Straßenraub, Diebstahl, Betrug, Körperverletzung mit Todesfolge ec., in lieblicher Abwechslung mit einsameren Jahren in Zuchthäusern aller Herren Länder gewesen.

Da hatte auch schon Mias weiche Stimme begütigend gesagt: „Aber Master Burns, der Vater meint‘s doch nicht so schlimm!“ Und der Erfolg war, daß der arme Verkannte sich leidlich versöhnt wieder auf seinem Schemel niederließ. Inzwischen hatte auch der rote Harry, wie er nach seinem flammenden Haupthaar in Neuparis allgemein genannt wurde, seine Gesichtsmuskeln wieder etwas in die Gewalt bekommen und nahm an der Unterhaltung teil, die sich bald um wichtigere Vorfälle im Städtchen und die letzte Bärenjagd in den sechs Meilen entfernten Monumentbergen drehte. Wären diese so hart gesottenen Bösewichter nur etwas weniger durch die Nähe des schönen Kindes befangen gewesen, so hätten sie unbedingt merken müssen, daß Mia sie in ganz vorsichtiger Weise auszuhorchen verstand und sich so aus einzelnen gelegentlichen Bemerkungen klug das zusammenstellen konnte, was sie wissen wollte und sie auch nur zu der Unterhaltung mit den beiden übelberüchtigten Tagedieben veranlaßt hatte. Als dieser Zweck erreicht war und es für sie keinen Grund mehr gab, die Nähe des edlen Freundespaares noch länger zu dulden, verließ sie die Veranda, nickte von der Tür den Männern nochmals freundlich zu und begab sich in die Küche, um dem Chinesen, der schon seit Jahren als „Mädchen für alles“ in Diensten des Hoteliers stand, bei der Bereitung des Mittagessens etwas auf die Finger zu sehen, da sie zu King-Fos Sauberkeit kein unbegrenztes Vertrauen hatte.

Die Drei auf der Veranda saßen eine Weile stumm da. Dann drehte sich Will Picker vorsichtig um, vergewisserte sich, daß jeder Zipfel von Mias rotem, fußfreiem Rock verschwunden war und begann kopfschüttelnd: „Fandet ihr das Kind heute nicht auch seltsam verändert, Jungens? Ich meine, sonst hatte sie doch nie einen einzigen Blick für euch übrig und …“ Gedankenvoll leerte er den Blechbecher und spülte mit dem scharfen Getränke den Rest seiner Bedenken vollends hinunter. Fred Burns, der seine gezierte Haltung beibehalten hatte, als ob das Mädchen noch neben ihm stünde, erwiderte jetzt, indem er eine liebenswürdige Überraschung in Ton und Miene zum Ausdruck zu bringen suchte: „Sehr einfach, Fräulein Mia wird eben eingesehen haben, daß wir mindestens ebensolche Herren sind wie der Deutsche mit seinen stets gewaschenen Händen! Daher ihre Höflichkeit.“ – „Du bist verrückt, lieber Fred,“ sagte Harry Wilson nur dazu, und der Wirt schloß sich diesem Ausspruch an. Dann schieden sie im besten Einvernehmen, nachdem Will Picker das Geld gegeben hatte.

(Forts. folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Tal der Tränen. In: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1908, Heft 27–34, S. 209–210, 217–218, 225–226, 233–234, 241–242, 257–259, 265–266, 273–275. W. Kohlhammer, Stuttgart 1908, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tal_der_Tr%C3%A4nen.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)