Seite:Das Tuch.pdf/3

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Karl Pauli: Das Tuch. In: Das Buch für Alle, 44. Jahrgang, Heft 13, S. 290–292, 294

wurde ihm das eben über dem Kopfe verkauft, das Häusel, das sein Vater unter saurer Arbeit, nach vieljährigen Mühen erworben, und in das er damals mit den Seinen in einem Rausch des Glückes eingezogen war. Ja, das Häusel war dann weg und er konnte wieder als Inlieger gehen, wie die Bettelleute, die schon gar nichts haben – er, der doch schon Unternehmer gewesen war! Diese Schande vor den Leuten! Er schüttelte ingrimmig den Kopf, wenn er nur daran dachte.

Aber vielleicht konnte das Schlimmste doch noch vermieden werden. Seine Frau war noch einmal in die Stadt gegangen, um mit dem Notar zu sprechen. Seibt hatte es nicht gewollt, denn er wußte, sie würde gute Worte geben müssen, und das wollte er nicht, denn er fühlte sich im Recht, und um sein Recht brauchte er nicht betteln! Aber sie hatte darauf bestanden. Da hatte er weiter nichts gesagt, wenn er nur nicht vom Häusel mußte, und nicht selber bitten, dann sollte es in Ordnung kommen, wie es wollte. Er wollte ja gern Zinsen und Kosten zahlen.

Eine heftige Bewegung des Schreibenden störte seinen Gedankengang. Der Junge hatte die Tinte umgestoßen und saß nun ratlos vor dem großen schwarzen Fleck, der ohne zu verrinnen auf der Tischplatte zitterte.

„Vaterle!“ rief das Kind mit weinerlicher Stimme, auf den großen Fleck zeigend.

Der Mann sah auf. Als er erkannte, welches Unglück der Junge angerichtet, rief er fast ängstlich: „Ach du mein Gott, wenn das nur die Mutter nicht sieht! Wart’ nur, Gustav, ich werd’s schnell wegmachen!“

Er nahm ein blaugewürfeltes Taschentuch, das neben ihm auf der Ofenbank lag, ballte es zusammen und versuchte damit, den Tintenklecks aufzutunken!

„So, dazu mußt du gerade das Schnupftuch nehmen, als ob keine Wischlumpen da wären?“ keifte plötzlich eine Stimme von der Tür her, und eine mittelgroße Frau, mit frischem, von der Kälte gerötetem Gesicht trat vollends in die Stube.

Der Mann versteckte das Taschentuch hinter dem Rücken und sagte verlegen: „Nu ja, ich hab’s nicht gleich bedacht. Ich erschrak halt, weil mir die Tinte so schnell umfiel!“

„Dir?“ unterbrach ihn die Frau. „Der Junge wird sie wohl wieder umgeschmissen haben, – Du Tolpatsch“ – sie ging auf das Kind los – „wie oft hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen! Denkst du denn, wir stehlen das Geld?“

Sie suchte den Knaben zu fassen, aber der Mann drängte sich dazwischen.

„Du schlägst den Jungen nicht!“ sagte er, die Hand vorstreckend. „Wo so viel in die Brüche geht, wird’s wohl auf einen Tropfen Tinte auch nicht ankommen.“

Die Frau hatte sich währenddessen des Taschentuchs bemächtigt und dasselbe ausgebreitet. Gerade in der Mitte hatte sich die aufgewischte Tinte gesammelt. Es war wie ein schwarzer Klumpen in der Mitte des Tuches.

„Nu guck’ dir das Tuch an!“ rief die Frau. „Grade als ob du alles –“

„Du sollst still sein!“ unterbrach er sie rauh und riß ihr mit einem hastigen Griff das Tuch weg, es wieder in die Tasche steckend. „Wenn sie einem das Dach überm Kopf wegnehmen, dann wird‘s wohl das dumme Tuch auch nicht ausmachen!“

Er setzte sich wieder auf die Ofenbank, steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine von sich.

Nach einer Weile sagte er: „Du hast wohl nichts ausgerichtet?“

Die Frau, die in eine Ecke des Zimmers getreten war, dort den Korb, den sie trug, niedergesetzt und ihr Umschlagtuch aufgehangen hatte, gab keine Antwort. Aber nach einer kleinen Weile fing sie heftig an zu weinen.

„Na ja!“ sagte er, „ich hab’s ja gewußt! Es ist kein Halten mehr!“ Er starrte eine Weile vor sich nieder und fuhr dann auf: „Hab‘ ich etwa nicht bezahlt? Hab’ ich nicht jeden Pfennig, den wir übrig hatten, hingetragen? Mit seinen zwei Händen kann man doch allein kein Vermögen verdienen!“ Er sank wieder in sich zusammen und sagte nach einer Weile traurig: „Nun sag’ nur wenigstens, wie’s war! Was hat denn der Notar gesagt?“

„Es wäre zu spät, hat er gesagt, der Gerichtsvollzieher hätt’s schon in den Händen, und der Obervormund bestände auf der Versteigerung, wenn auch nicht viel dabei herauskäme!“

Der Mann nickte mit dem Kopfe, als habe er ähnliches erwartet. Eine Weile saß er regungslos, dann hob er plötzlich wie drohend den Arm und rief: „Vom Häusel geh’ ich nicht – vom Häusel nicht!“

Die Frau antwortete nichts, sie stellte ein paar Steingutteller auf den Tisch, ging an den Ofen, um einen mächtigen Topf voll Kartoffeln daraus hervorzuziehen, und stürzte den Topf auf dem Tisch um, so daß die Kartoffeln einen großen Haufen bildeten. Dann setzte sie sich mit dem Jungen an den Tisch, und beide fingen an, die Kartoffeln abzuschälen und große Berge vor sich aufzuhäufen.

Mürrisch setzte sich auch Seibt hinzu und beteiligte sich an dem Geschäft.

Als sich jeder genug Kartoffeln geschält hatte, schob Frau Seibt das Salzfaß in die Mitte des Tisches, holte dann aus dem Ofen eine mächtige Bunzlauer Kanne mit Kaffee, setzte neben jeden eine Tasse, die sie vollgoß, und das Abendessen begann. Jeder steckte eine von seinen Kartoffeln auf sein Taschenmesser, führte sie so zum Salzfaß, steckte sie dann in den Mund, worauf er den Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunterspülte.

Als das Essen vorbei war, erhob sich die Frau. „Jetzt marsch in die Kammer!“ rief sie dem Knaben zu, der sich gehorsam erhob und sich entfernte. „Und wir gehn auch,“ fuhr sie fort, als sie sah, wie sich der Mann wieder auf die Ofenbank setzte.

„Geh nur,“ gab der zur Antwort, „ich kann doch nicht schlafen!“

„Na, was ist denn das für ein Getue!“ rief die Frau ungeduldig.

„Leg dich nur nieder!“

„’s ist mir noch zu früh!“

„Ach was! Unnütz das Licht verbrennen! Das gibt’s nicht. Geh du nur mit!“ Sie hatte sich bei diesen Worten der Lampe genähert, die an einem Draht von der Decke herabhing und sie ausgeblasen.

„Ich geh nicht mit – geh nur!“ sagte Seibt in einem Tone, der keinen Widerspruch aufkommen ließ.

Die Frau schien das einzusehen und entfernte sich langsam und vorsichtig wegen der Dunkelheit, die jetzt in der Stube herrschte.

Seibt blieb allein.

Die Dunkelheit war ihm aber unangenehm; er stand auf und versuchte die Lampe wieder anzuzünden. Da er sich aber an dem noch heißen Zylinder die Finger verbrannte, ließ er ab davon und nahm seinen alten Platz wieder ein. Er wollte nachdenken, wie er sich aus seiner mißlichen Lage reißen könnte, aber er dachte eigentlich nichts, als daß es doch sehr schön sein müßte, wenn jetzt jemand eintreten würde, der ihm sagte: Seibt, du bist immer ein anständiger Mensch gewesen, hier hast du das Geld! – oder es käme ein Brief von seinem Rechtsanwalt, daß der Gegner plötzlich auf eine Pfändung verzichtet habe, und er also einstweilen noch nicht zu bezahlen brauche.

Da wurde von außen ans Fenster geklopft.

Seibt öffnete den Schieber, der nach außen führte. „Wer ist denn da? Was soll denn sein?“ Er runzelte die Stirn. War das am Ende schon der Gerichtsvollzieher? Aber seine Miene heiterte sich auf, als er den draußen sprechen hörte. „Kommen Sie nur, Herr Markus!“ sagte er.

Aber der draußen schien nicht zu wollen. „Seibt,“ sagte Markus, ein Produktenhändler aus Wiegandstal, der oft in die Gegend kam, „wollen Sie sich eine Mark verdienen? Begleiten sie mich bis Raslau. Ich muß morgen nach Lähn und komme nicht mehr hin, wenn ich nicht heute noch Raslau erreiche. Nun hat’s mir aber gestern schlecht geträumt, so daß ich nicht gern allein gehen möchte in der kalten Nacht durch den langen Wald im tiefen Schnee, obwohl ich kein Geld bei mir habe, nicht einen Pfennig. Es ist halt so eine Einbildung von mir. Kommen Sie, gehen Sie mit, ich geb’ Ihnen sogar zwei Mark, wenn Sie wollen!“

Seibt war’s zufrieden. Ein Weg von zwei Stunden hin und zurück und dafür zwei Mark! Um so viel zu verdienen, mußte er sonst länger und angestrengter arbeiten. Und da kam ihm auch der Gedanke, wenn er Markus seine Not klagte, der hatte Geld, vielleicht würde er ihm helfen. Aber hatte er nicht gesagt, er hätte kein Geld? Na, Geld hatte der schon, und bei sich hatte er sicher auch welches, und wenn er sagte, er hätte keines, dann hatte er erst recht viel! Für nichts und wieder nichts gab der doch kein Geld aus, um sich den kurzen Weg begleiten zu lassen!

Unter diesen Gedanken hatte er sich fertig gemacht, und sie waren schon eine Weile gegangen, als Seibt auf einmal umkehrte und dem fragenden Markus antwortete: „Ich komme gleich wieder, will mir nur das Beil holen. Man weiß ja nie, wem man in der Nacht im Walde begegnet!“

*

Als Seibt am nächsten Morgen aus der Kammer in das Wohnzimmer trat, fand er seine Frau schon am Waschfaß; sie sagte nichts darüber, daß er noch einmal weggewesen und erst spät nach Hause gekommen war, sie mochte wohl denken, er wäre noch einmal im Wirtshaus gewesen, um seinen Kummer zu vertrinken. Sie meinte bloß, als er sich am Tisch niederließ, und sie wie gestern einen Berg Kartoffeln vor ihn hinschüttete: „Gib auch das Tuch her, ich wasch’ grade.“

Er sah sie an, ohne sie zu verstehen.

„Das Schnupftuch,“ erklärte sie ungeduldig, „das du gestern voll Tinte geschmiert hast!“

„Ach so!“ Er fuhr mit der Hand in die Tasche, zog sie aber leer zurück. „Es wird in der Kammer liegen!“

Sie ging hinein, kam aber gleich darauf wieder und brummte ärgerlich: „In der Kammer liegt’s nicht.“

„Es muß drinnen liegen,“ sagte er heiser. „Sieh nur ordentlich nach!“

„Es liegt aber nicht drinnen!“ antwortete sie bestimmt.

„Da laß es halt liegen, wo’s will!“ schrie er wütend. „Laß mich endlich mit dem Fetzen in Ruhe!“

Dennoch ging er selbst in die Kammer und suchte überall, aber er fand auch nichts. Dann stand er lange überlegend da, zog endlich die Sonntagsjacke und die langen Hosen an, gleichsam um die Frau glauben zu machen, er habe weiter nichts in der Kammer zu tun gehabt, als sich umzuziehen.

„Nun?“ sagte die Frau, als er heraustrat.

„Was denn?“

„Hast du das Tuch?“

„Hast du denn nichts im Kopfe wie den elenden Lappen!“ schrie er sie an. „Jetzt hab’ ich’s satt, und wenn ich Lust hab’, schmier’ ich noch zehn solche Tücher in die Tinte, und schmeiß’ sie dann auch noch weg!“ Er nahm die Mütze vom Nagel und schritt der Tür zu.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Pauli: Das Tuch. In: Das Buch für Alle, 44. Jahrgang, Heft 13, S. 290–292, 294. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1909, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tuch.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)