Ufer eines Flusses im Spiegelglanz des Wassers mit dem Dach nach unten stehen und scheinbar auf einer anderen Weltseite leben, einer Welt, die tief scheinen will, unergründlich aussehen will, die aber nichts ist als ein auf den Kopf gestelltes Zerrbild der Wirklichkeit.
So spiegelte das Gehirn jenes Mannes, mit scheinbaren Unergründlichkeiten verblüffend, die Ufer des Lebens wieder, indem es das Feste beweglich machte, es wahnwitzig verzerrte, es für unergründlich ausgab.
Ehe Claudia sich mit dem Studenten verlobte, war ein anderer Mann ihrem schwarzen Blick verfallen, ein junger Adeliger, der sich von ihrer Anziehungskraft nicht losmachen konnte, trotzdem er von Claudia nichts zu hoffen hatte. Sie trug damals ihr schwarzes Haar kurzlockig geschnitten und, nach Knabenart, in der Mitte gescheitelt. Sie rauchte auch, als es noch nicht allgemein war, daß Frauen Zigaretten rauchten. Sie wäre vielleicht auch am liebsten in Herrenkleidung ausgegangen. Ihr immer elfenbeinblasses Gesicht zeigte rote frische trotzige Lippen, und alles Verwegene, Herausfordernde, menschlich Kühne erregte sie, da ihr eigener junger Körper der Welt knabenhaft verwegen und widerspruchsvoll gegenübertrat.
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/154&oldid=- (Version vom 31.7.2018)