nicht heute, dann doch morgen von neuem zu fragen. Aber diese Frau würde sicher nie antworten, sagte ich mir zugleich. Sie mußte ihr Geld verdienen und verdiente es nur, wenn sie schwieg und horchte. Mir schien, man hätte ihr ein Stemmeisen zwischen die Lippen stoßen können, sie hätte keinen Laut von sich gegeben und den Mund nicht geöffnet. Dieses war mein Eindruck. Welch schrecklicher Gefangenwärter war sie! Und wessen Gefängnis mochte sie bewachen? –
Ich bog in die Seitenstraße und ging bis zur Potsdamer Straße zurück. Dort fand ich die Dame im Schatten eines tiefen Haustores, auch stand ein Automobil am Straßenrand, dessen Tür offen war.
Ich schüttelte von weitem den Kopf, und die Fremde nickte und kam mir entgegen. „Ich wußte, daß diese Kreatur nichts verraten würde,“ klagte die Dame enttäuscht. „Ich habe sie neulich bereits selbst gefragt und habe sie befragen lassen, aber sie antwortet niemandem. Sie bewacht nämlich die Haustüre einer unglücklichen Freundin von mir. Und ich möchte wissen, ob der ungetreue Mann meiner Freundin oder andere Leute diese reinste aller Frauen beobachten
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/189&oldid=- (Version vom 31.7.2018)