zur Hälfte gefüllt und mochte vielleicht vierzig Tropfen enthalten.
Da stand ich nun plötzlich mitten auf der großen unschuldigen Steininsel, umgeben von der Freudigkeit des Sommerhimmels, umgeben von der unendlichen Festlichkeit des durchdringend blauen Sommermeeres, sah die unschuldigen buntscheckigen Kühe ihre vollen Euter über das Heidekraut tragen, sah sie in friedlichen gutmütigen Reihen wildes Rosenlaub, Eichenlaub und Kräuter auf dem Granit abweiden, diese Kühe, die gutmütig wie die Erdgüte selber waren; ich hörte die wilden Bienen und die Hummeln, die sich über die Blüten des Heidekrauts summend verbreiteten, und sah sie Honig suchen, Sonnensüße für den Winter sammeln; ich sah dann über die Insel hin, auf welcher niemals noch eine böse Tat begangen worden war, wo man nicht Gefängnis, nicht Gericht und keine menschliche Niedertracht kennen gelernt hatte. Und ich, ich hatte da plötzlich ein schauderhaftes Gift in einem kleinen Fläschchen zwischen meinen Fingern, eine kleine Hölle von vierzig Tropfen. Mit diesen vierzig Tropfen konnte ich Selbstmord begehen und Mord. Ich schaute auf die weinenden Bräute hinunter, auf die jungen
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)