Ich hatte in den paar Tagen vorher niemals richtig den Entschluß fassen können, das Fläschchen ins Meer zu schleudern oder an einem Steine zu zerschellen oder es zu öffnen und den Inhalt auszuschütten. Hundert Gründe spukten in meinem Hirn und sprachen dafür und dagegen, das Fläschchen los zu werden. Welches Unglück konnte es anrichten, wenn das Fläschchen, das fest verkittet war, im Meer weiterschwamm und von einem Fischernetz oder einem Hummerkasten aufgefischt wurde!
Oder wenn sein Inhalt, wenn ich es zerschellte, herumspritzte und vielleicht auf eine Erdbeere, eine Wacholderbeere oder irgend ein Teekraut fiel, welches Kinder sammelten. Ins Feuer werfen! Wer weiß ob das Fläschchen verbrannte und nicht in der Asche gefunden wurde. Irgendwo vergraben! Auch das war recht unzuverlässig. Ich durfte es nicht einmal mehr in meinem Zimmer stehen lassen, nicht in meinem Koffer. Seit ich dieses Giftfläschchen in die Hand bekommen hatte, lebte ich nicht mehr mein eigenes Leben. Ich lebte so wie die Wache, die einen Tobsüchtigen bewacht und ihre Aufmerksamkeit zersplittern muß zwischen Verstand und Irrsinn. Ich war nicht mehr harmloser Beobachter des
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/27&oldid=- (Version vom 31.7.2018)