Lebens. Ich trug mit dem Giftfläschchen wie ein Zauberer geheimnisvolle Kräfte der schwarzen Magie in der Tasche, ich erschien mir über alle menschlichen Begriffe einer dämonischen Kraft, einer Willkür, preisgegeben. Mit einem Wort, – ich war nicht mehr ich. Ich war der Sklave dieses Giftfläschchens geworden. Ich schrie nachts im Traum auf, träumte vom Vergiften und Morden; und so wie der Kapitän jetzt, hatte ich mir in den letzten drei Tagen, seit ich das Gift besaß, hundertmal den Angstschweiß von der Stirn wischen müssen.
„Dreißig Jahre,“ hatte der Kapitän erzählt, „habe ich das Fläschchen mit mir getragen und habe es nicht los werden können. Jahrelang habe ich eine Lust gehabt, es zu behalten, jahrelang eine Lust, es zu vernichten. Mein ganzes Leben ist von diesem Fläschchen gelenkt worden. Bald fühlte ich mich übermütig allmächtig durch den Giftbesitz, bald unheimlich verfolgt. Die Leute nennen mich, seitdem ich das Gift besitze, den ‚Heiden‘.“
Ich begriff den alten Mann. Ich war in den drei Tagen, in denen ich das Gift besaß, mir selbst fremd geworden. Aber ich hätte das Fläschchen um keinen Preis hergegeben, wenn man es von mir gefordert hätte. Und
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)