das Leben. Sie schlief ein, als der lange, qualvolle Tag zur Neige ging; ein letzter Strahl der Abendsonne stahl sich durch die halboffene Tür und glitt über ihre weiße, feuchte Stirn, als wolle er Abschied nehmen von ihr, die so oft lachend und singend in der Sonne getanzt. »Mit der Soledad wird es nun gleich vorbei sein,« verkündete, aus der Kammer tretend, Donna Anastasia, die alte fromme Tortillabäckerin, die bei allen Begebenheiten im Leben der Hofbewohner die passenden Gebete herzusagen pflegte. Die drei Musikanten, die gerade im Hof standen, warfen einen scheuen Blick nach der Kammer, in der die Sterbende lag, und erinnerten sich, wie gar oft sie ihr zum Tanz gegeigt; sie lüfteten die spitzen Hüte, bekreuzten sich und schlichen dann, die Instrumente unter dem Sarape, leise davon, bei neuen Festen auszuspielen.
Am nächsten Tag begrub man Soledad. Aber wie im Leben, war ihr Name noch im Tode ein Hohn, denn zu einem eigenen Begräbniswagen langten Don Eusebios Mittel bei weitem nicht, und so wurde sie vom schwarzen Leichenwagen der Allerärmsten abgeholt, der in den ganz frühen, fahlen Morgenstunden durch die leeren Straßen fährt, und in dem Platz für neun Särge ist. In Gesellschaft von acht andern legte sie ihren letzten Weg zur endgültigen Einsamkeit zurück.
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/053&oldid=- (Version vom 31.7.2018)