teilte. Ein paar Jahre waren dann vergangen, in denen Soledad, wie eine große Dame angetan, gelegentlich auf der Straße gesehen worden war. Da pochte sie eines Abends an der Schwester Tür. Aber es war nicht mehr die lachende, von Lebensfreude strahlende Soledad, der früher ein jeder gern nachgeschaut, sondern ein stilles, vergrämtes Wesen, das irgendwo draußen in der Welt die Einsamkeit des Leidens kennen gelernt hatte. Sie kauerte sich in eine Ecke, gleich einem abgehetzten Tier, das sich mühsam bis zu einem Schlupfwinkel geschleppt hat und dort zusammenbricht. Auf die mehr neugierigen als vorwurfsvollen Fragen Lupes, die die Schwester nicht ohne Schadenfreude musterte, gab sie nur kurze Auskunft. Nach ein paar Tagen mußte sie sich stöhnend niederlegen; die kleinen Neffen und Nichten wurden aus der dumpfen Kammer hinaus in den Hof geschickt, wie das jedesmal geschah, wenn ihre Mutter in die gleiche Lage kam. Lupe und die Nachbarinnen umstanden Soledads Bett, und unter ihren wohlgemeinten, aber ungeschickten Hilfeleistungen kam, sehr gegen seinen Willen, ein kleines, mißgestaltetes Kind zur Welt, das sich gegen das Leben sträubte, als ahne ihm nichts Gutes davon. Soledad sah das winzige, bucklige Wesen mit dem großen Kopf und den verkrüppelten Beinchen nicht mehr, – ihr, der Schönen, Strahlenden, kostete es
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/052&oldid=- (Version vom 31.7.2018)