Und als einmal der Kobold Zufall in Gestalt eines Hexenschusses ihr ins Kreuz fuhr und die Steffi aus Wien statt ihrer das Gretchen spielen durfte, da hatte sie zwar Jugend, Schönheit und Naivetät für sich, aber es war doch nicht das echte sinnige innige Bürgerkind, dieses Gretchen; es sprach wienerisch und war „a Bissel g’schnappig“ (wie Steffi später selbst zugestand), und erst in der Kerkerszene entfaltete sich die leidenschaftliche Kraft, die ihren Vorzug ausmachte.
Aber die alte Schauspielerin hatte diese Szene viel klagender, viel tränenweicher gespielt, und man konnte sich mit dieser neuen, heftigen Auffassung nicht zufrieden geben. Nur die Galerie klatschte; die Kritiker putzten ihre Brillen, um die schöne plastische Gestalt besser sehen zu können, aber übrigens rührten sie die Hände nicht für sie.
Und als die Steffi zu Tode erschöpft, fiebernd und zitternd nach Hause kam, las ihr schon die alte Hamburgerin, bei der sie wohnte, und die eine eifrige Theatergängerin war, gefährlich den Text, während sie ihr den Tee einschenkte und die Wurstscheibchen aus dem Papier nahm, die Steffi heut zum erstenmal betrübt zurückwies.
„Sehen Sie woll, nu sind Sie krank,“ sagte die Alte kopfschüttelnd, „aber, Fräulein, das geht allens natürlich zu. Sie sind ja auch zu kehr gegangen, daß
Ilse Frapan-Akunian: Zwischen Elbe und Alster. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin, Leipzig 1908, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwischen_Elbe_und_Alster_Frapan_Ilse.djvu/085&oldid=- (Version vom 31.7.2018)