„Und so hungrig bin ich, ich könnt dich gleich aufessen, Hein!“
Sie griff nach einem Butterbrot und biß hastig hinein, ohne Heinrich anzusehen.
„Wo kummst du denn her? Du kummst doch nich vun de Fabrik?“ fragte er.
Gesche verschluckte sich an einem Brotkrumen und mußte heftig husten. Verwundert, daß er sie nicht ein bißchen auf den Rücken klopfe, sah sie zu ihm hin. Er hatte die Augen dicht zusammengezogen und die Hände geballt. Sie nahm ein Butterbrot aus dem Tuche und hielt es ihm vor den Mund: „Iß doch, Hein!“
„Ick hew keen Hunger, Gesche.“
Sie glitt von der Kiste herunter.
„Die rote Male hat mich verklatscht,“ sagte sie.
Ein schwacher Lichtstreif von einem vergitterten Fensterchen her fiel auf sie, auf die zierlichen runden Schultern, die hellen Flechten um die Stirn und das blauseidene Tuch an dem weißen Halse.
Sie senkte den Kopf, denn sie fühlte, wie seine Blicke sie zu erforschen suchten.
Plötzlich zeigte er mit dem Finger nach ihrer Brust: „Wat is dat?“
Sie deckte sogleich die Hand über die Stelle und versuchte zu lächeln.
„Was denn, Hein? die Rose? Schön, nich?“
Ilse Frapan-Akunian: Zwischen Elbe und Alster. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin, Leipzig 1908, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwischen_Elbe_und_Alster_Frapan_Ilse.djvu/184&oldid=- (Version vom 31.7.2018)