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einer Kesselfabrik oder in Appreturen gearbeitet haben, eine eigentümliche Krankheit gefunden, die man „Kesselmachertaubheit” genannt hat. Das Trommelfell verdickt sich unter Einwirkung des Lärms. Das Gehör wird gegenüber dem spezifischen Hammerlärm schwächer, bis schliesslich auch Schwächung für jede andere Art Geräusche und zuletzt vollkommene Taubheit eintritt. Was sich hierin geltend macht, ist eine wahrhaft heilsame Schutzvorrichtung des gefährdeten Organismus. Und zwar des ganzen Organismus; denn jede Reizung oder Überreizung eines einzelnen Sinnesgebietes trifft zweifellos den gesamten Nervenapparat, so dass es zur Lebensforderung des Individuums wird, dass ein dauernd gefährdetes Organ gegenüber Anforderungen, denen es sich nicht anpassen kann, schliesslich zur Degeneration gezwungen werde. Eine bloss partielle Abstumpfung oder Unbewusstheit dagegen könnte uns nicht beschützen, da sie ja keine „Unempfindlichkeit“ in sich schliesst, sondern mit der fortdauernden feinsten Wahrnehmungsfähigkeit gar wohl verträglich ist …


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3.

Welche Unsummen von Gehörseindrücken wir in jedem Augenblick des Lebens de facto perzipieren, bemerken wir nur, wenn wir uns die[WS 1] Mühe geben, irgend ein komplexes Geräusch, das in eine dem Lärme abgewandte Arbeit unbewusst hineintönt, uns bewusst machend, zu analysieren. – Eine einzelne „quietschende“ Türangel z. B. produziert pro Sekunde etwa 1000 bis 3000 Hin- und Herbewegungen zahlloser Eisenteile, dem die gleiche Anzahl Schwingungen des Trommelfells, des Mittelohrs und Labyrinthes entsprechen muss. Ein heftiges Türenwerfen im Hause, wie es bei unerzogenen Menschen so beliebt ist, entwickelt ein Konglomerat von Geräuschen, die durch zahllose Schwingungen zahlloser Eisen-, Holz- und Glasteile bewirkt werden und zu ihrer Wahrnehmung sämtliche Membrane des Ohrs und die gesamte Klaviatur der Hörzellen in unaufhörliche, schmerzliche Vibration versetzen. – Wenn ein schweres Lastfuhrwerk über den Strassendamm rollt, dann teilen sich die Schwingungen des Pflasters sämtlichen Häusern der Umgebung mit, die in den Grundvesten erzittern. Diese Schwingungen aber übertragen sich auf sämtliche Gegenstände jedes Zimmers, deren jeder in einem bestimmten Eigenton in die allgemeine Erschütterung einstimmt, während das Stampfen der eisernen Hufe auf dem harten Strassenpflaster alles überlärmende Tonfolgen von d’’ bis fis’’’ hervorlockt, die ein zur Erde geneigtes Ohr noch aus mindestens zwei Kilometer Entfernung deutlich vernehmen könnte. – Versuchen wir aber vollends in das zu unserem Fenster dumpf emporbrausende Geräusch der Strasse hineinzuhorchen,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: did
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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/37&oldid=- (Version vom 31.7.2018)