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5.
Präjudize zu 903, 906, B.G.B.

Ein wahres Unikum ist ein Präjudiz des IV. Senats des sächsischen Oberlandesgerichts aus dem Jahre 1903[1]. Ein Grundstückbesitzer in Laubegast bei Dresden klagt auf Grund B.G.B. § 903, 906 gegen eine Kinderbewahranstalt, die neben seinem Hause einen Kinderspielplatz mit Sandhaufen anlegte. Die Mieter seines Hauses seien durch Lärm und Staub zum Auswandern gezwungen; die Wohnungen entwertet. Die Abweisung der Klage (auch im Instanzenwege) gründet sich auf die Erwägung, dass die Benutzung des Kinderspielplatzes „nach den örtlichen Verhältnissen bei Grundstücken dieser Lage nicht ungewöhnlich und der Lärm und Staub nicht schlimmer sei, als gewöhnlich auf Kinderspielplätzen der Fall zu sein pflege.” – Es werden eine Reihe Zeugen vernommen, die darüber aussagen müssen, ob der Lärm „erträglich” gewesen sei. Einer sagt aus, er sei „unerträglich” gewesen. Drei andere aber bezeugen, „dass er nicht schlimmer war, als die Lage des Grundstücks mit sich brachte.” Die Privata, Auguste, verwitwete G. aber bekundet sogar, dass sie sich über den Lärm gefreut habe, „weil er nicht so klang, wie ungezogene, trotzige oder schmerzempfindende, sondern wie vergnügte und fröhliche Kinder zu lärmen pflegen.“ Was die Klage über den Staub betrifft, so wird sie abgewiesen, „weil die Mieter weniger wegen des Staubes als wegen des Lärms gekündigt haben, die Klage gegen den Lärm aber ja bereits abgewiesen sei.” – Mit diesen Deduktionen werden Berge überflüssigen Papiers verschrieben…

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Eine Unsumme nicht minder uferloser Debatten bietet eine Verhandlung, die vor Landgericht München I, vor dem Münchener Oberlandesgericht und schliesslich vor dem Zivilsenat des Reichsgerichts geführt worden ist. Die vage Unmöglichkeit des Begriffs der „Ortsüblichkeit” im § 906 B.G.B. und § 26 der Gewerbeordnung könnte nicht besser als durch die Entscheidung der obersten Instanz illustriert werden, die alle früher in der Angelegenheit ergangenen Urteile wieder aufhebt[2]. – Zu München, in der Nymphenburgerstrasse befindet sich ein Trambahndepot. Die Anwohner werden von morgens 4 Uhr bis nachts 1  Uhr durch Lärm chikaniert. Und zwar (im lieblichen Juristendeutsch gesprochen) 1. durch Manipulationen, wie a) Rangieren auf der Schiebebühne,


  1. Abgedruckt in den Annalen des kgl. sächs. Oberlandesgerichts Bd. 25. S. 515-518
  2. Abgedruckt in den Entscheidungen des Reichsgerichtes in Zivilsachen Bd. 57. S. 224-231.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)