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Walther Kabel: Der Mann, der nichts von seinem Vaterlande wissen durfte. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 10, S. 232–236

Aber es kam anders. Er wurde an Bord der „Medusa“ geschickt und sah die „Karolina“ mit Tränen in den Augen absegeln.

Auf der „Medusa“ wiederholte sich dasselbe Spiel. Kein Wort erfuhr er über Nordamerika, keine dieses Land behandelnde Zeile wurde ihm gegönnt. Als er merkte, daß seine Behandlung sich in nichts geändert hatte, verließ er einen ganzen Monat seine Kabine nicht, saß allein und nahm auch keinerlei Besuch an. Am 4. Mai 1863 – die „Medusa“ kreuzte gerade vor Kanton – machte er einen Fluchtversuch, nebenbei den einzigen in den dreiundzwanzig Jahren seiner merkwürdigen Strafzeit. Er stürzte sich gegen Mitternacht ins Meer, um das Land schwimmend zu erreichen, wurde aber sehr bald durch ein zu seiner Verfolgung ausgeschicktes Boot wieder aufgefischt und zurückgebracht. Eine Strafe wegen dieses Fluchtversuchs erhielt er übrigens nicht.

Nun erst ergab er sich völlig in sein Schicksal. Bisweilen erschien er in der Offiziersmesse und spielte wortlos mehrere Stunden lang mit einem ebenso schweigsamen Partner Schach. Man behandelte den Mann, dessen Haar im Verlauf von vier Jahren weiß geworden war und dessen Auge einen so schwermütigen Blick hatte, bald mit liebevoller Rücksicht und bemitleidete ihn tief.

Im Juli 1865, kurz nach dem Friedenschluß zwischen den Nord- und Südstaaten, der der Sklaverei in Nordamerika für alle Zeiten ein Ende machte, wurde die „Medusa“ heimberufen. Vorher hatte schon das Offizierkorps ein Gnadengesuch an den Präsidenten Lincoln eingereicht, aber keinerlei Antwort erhalten. Bragg machte die Reise bis Valparaiso auf der „Medusa“ mit. Hier wurde er einem Befehle der Admiralität gemäß auf das Stationsschiff „Neptun“ überwiesen, das in Valparaiso drei Jahre blieb.

In Braggs Schicksal trat keinerlei Änderung ein. Von dem gewaltigen Aufblühen seines neu geeinten Vaterlandes wußte er ebensowenig wie von dem vorausgegangenen Kriege mit seinen blutigen Schlachten. Er alterte schnell, sein Gesicht war faltig wie das eines Greises und sein Gesundheitszustand oft recht bedenklich. Trotzdem ließ man ihm keine Milde widerfahren.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Mann, der nichts von seinem Vaterlande wissen durfte. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 10, S. 232–236. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Mann,_der_nichts_von_seinem_Vaterlande_wissen_durfte.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)