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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

mit dem einen Fuß auf dem Trottoir ging, während er den andern im Rinnstein nachschleppte, indem er einem ihm begegnenden Freunde klagte, daß er plötzlich lahm geworden sei. Ein andermal beschloß er seine bisherige Wohnung aufzugeben, weil sie ihm von der Universität, wohin er sich täglich begeben mußte, zu entfernt lag. Er wandte sich zu diesem Behufe an den ihm befreundeten Professor Steffens, der ihm eine ganz nahe, seinen Wünschen vollkommen entsprechende Wohnung verschaffte. An dem Tage, wo Neander dieselbe bezog, holte ihn Steffens nach dem Collegium ab, aus Furcht, daß der zerstreute Freund den Weg verfehlen möchte. Unglücklicher Weise hatte Steffens noch eine Besorgung in einer entlegenen Straße zu machen, wohin ihn Neander im eifrigen Gespräche begleitete. Nach einigen Wochen erkundigte sich Steffens, wie er mit seiner Wohnung zufrieden sei. Zu seinem Erstaunen beklagte sich Neander, daß er jetzt noch weiter nach der Universität zu gehen habe, als von seiner früheren Wohnung aus. Bei genauer Nachforschung ergab sich, daß er denselben Umweg, den er zufällig damals mit Steffens gemacht, täglich wiederholte und über jene entfernte Straße nach der Universttät in seiner Zerstreutheit nach wie vor gegangen war.

Derselbe Mann aber, der im gewöhnlichen Leben sich wie ein Kind leiten ließ, nahm in der Wissenschaft nicht nur den ersten Rang ein, sondern zeigte auch bei mehr als einer Gelegenheit eine seltene Charakterfestigkeit und den Muth der Ueberzeugung. Als die preußische Regierung damit umging, das „Leben Jesu“ von David Strauß zu verbieten, und zu diesem Zwecke das Gutachten des berühmten Theologen forderte, erklärte sich Neander trotz seiner wahrhaft christlichen Gesinnung und seiner großen Frömmigkeit gegen jede derartige Beschränkung der Wissenschaft und der freien Forschung als dem Geiste des Protestantismus widersprechend und verfocht sein Urtheil mit solch schlagenden Gründen, daß die Regierung von ihrer beabsichtigten Maßregel Abstand nahm.

Nicht minder originell wie Neander war seine Schwester Johanna, die eben so viel Geist als liebenswürdigen Humor besaß. Sie war keineswegs eine pietistische Kopfhängerin, obgleich sie die religiöse Richtung ihres Bruders vollkommen theilte; sie liebte Scherz und Witz und gefiel sich in der Gesellschaft geistreicher Männer und Frauen. Zu ihren näheren Freunden zählte sie Männer wie Chamisso, Varnhagen, Sieveking, Carl Mayer etc. Gern neckte sie die jungen Theologen, welche sich bei ihrem wahrhaft frommen Bruder durch pietistische Reden, Augenverdrehen und Muckerwesen zu empfehlen suchten, indem sie plötzlich die Frage an sie richtele: „Lieber Herr Candidat! Haben Sie auch eine Braut?“ – Einen jungen anmaßenden Mann, der über ihre Vaterstadt Hamburg sich in absprechender Weise äußerte, unterbrach sie mit den Worten: „Ach, was wissen Sie von Hamburg!“ – Als derselbe darauf entgegnete, daß er selbst in Hamburg geboren und erzogen sei, rief sie rasch: „Geboren, das mag sein, aber erzogen sind Sie nicht.“ Von demselben Mann sagte sie, die menschenfreundlichste Handlung seines Lebens sei, daß er sich nie verheirathet habe.

Als ein sehr langweiliger Herr von ihr Abschied nahm, indem er ihr mittheilte, daß er eine Reise zu seinem Vergnügen antreten wollte, sagte sie: „Er irrt sich, denn er reist nur zu meinem Vergnügen.“ Bei der großen Revue, welche zu Ehren des Kaisers von Rußland in der Nähe von Berlin abgehalten wurde, war auch sie mit einigen Damen ihrer Bekanntschaft hinausgefahren, um dem Schauspiele beizuwohnen. Im Gedränge sprang ein Mann aus dem Volke auf ihren Wagen und pflanzte sich ungenirt so vor ihr und ihren Begleiterinnen hin, daß ihnen jede Aussicht benommen wurde. Ruhig wandte sie sich an den unwillkommenen Gast mit der komischen Frage: „Glauben Sie etwa, wir wären nur deshalb heute so früh aufgestanden und ausgefahren, um Sie anzusehen?“ Der Mann mußte über diese naive Frage lachen und verließ den Wagen sogleich, indem er sich wegen seiner Ungezogenheit höflich entschuldigte.

Nach dem Tode des geliebten Bruders zog sich Johanna Neander gänzlich von der Welt zurück, sie verließ ihre bisherige Wohnung und zog nach einer am Hallischen Thore gelegenen Straße, um dem Kirchhof und seinem Grabe näher zu sein. Seitdem legte sie bis zu ihrem Ende nicht mehr die dunklen Trauerkleider und ihre schwarze Schnebbenhaube ab. Nie mehr erschien sie unter den Linden und im Thiergarten, wo sie täglich am Arme Neander’s ihren gewohnten Spaziergang gemacht hatte. Sie lebte nur noch in der Erinnerung an den Verstorbenen, mit dessen Portraits und Büsten ihr Zimmer ausgeschmückt war. Wohin man sein Auge richtete, sah man nur Bilder und Reliquien des Verewigten. Vier Jahre noch lebte sie voll Sehnsucht nach dem unendlich geliebten Bruder. Als sie erkrankte, sprach sie beständig in ihren Fieberphantasien nur mit ihm, sie sah ihn vor sich und redete ihn an, als ob er noch am Leben wäre. Ihre Nichte machte sie auf ihre Täuschung aufmerksam, indem sie ihr zurief: „Besinne Dich doch! er ist ja schon vor vier Jahren gestorben, nachdem Du ihn wie ein Engel gepflegt hast.“ – „Wie wäre das möglich?“ fragte die Kranke. „Wie hätte ich es wohl so lange ohne meinen Bruder aushalten können? Ich hätte ja darüber den Verstand verlieren müssen. Nein, ich habe nie ohne ihn gelebt!“ – Sie starb und wurde neben ihrem Bruder beerdigt, im Tode wie im Leben mit ihm vereint, das rührendste Beispiel treuester Schwesterliebe, wie sie nur noch selten in der Gegenwart gefunden wird. Auf dem Kirchhof vor dem Hallischen Thore ruht das originelle Paar, der berühmte Gelehrte und seine liebenswürdige Schwester, die gewiß auch im Himmel und unter den Seligen seine zaghaften Schritte leitet und für ihn sorgt.


Die Lage der Büreaubeamten. Während unter dem eminenten Aufschwunge, welchen in Folge der vielfachen Erfindungen der neueren Zeit und bei den total veränderten Verkehrsverhältnissen die Industrie in der gegenwärtigen Zeit genommen hat, die äußere Lage des Bürgers im Allgemeinen eine weit behäbigere geworden ist, während in Folge der fast überall durchgeführten Separationen und einer intelligenteren Cultivirung des Ackers der Bodenwerth seit zwei Jahrzehnten fast um das Doppelte gestiegen ist, und bei der stärker gewordenen Nachfrage auch das Angebot der ländlichen Erzeugnisse eine bedeutende Steigerung im Preise erfahren hat, während unter diesen veränderten Zeitverhältnissen die Lage des Bauern im Ganzen bedeutend sich gehoben hat, während selbst der Tagelohn des Handarbeiters nicht unbeträchtlich gestiegen ist, – hat sich die Lage der Beamten nicht allein nicht verbessert, nein, sie ist weit, weit schlechter geworden, als ehedem. Obschon aber diese unerhörte Lage der Beamten ein öffentliches Geheimniß ist, wagt Niemand frei und offen darüber zu sprechen, und es mag wohl sein, daß den Beamten selbst ein gewisses Zartgefühl zurückhält, über Zustände zu sprechen, bei deren näherer Erörterung Fragen der delicatesten Natur sich nicht vermeiden lassen.

Wir wollen nicht bestreiten, daß die Quelle der bekannten und auffallenden Erscheinung, daß der Drang nach Reform auf poetischem und socialem Gebiete gerade aus der Beamtenwelt am stärksten hervortritt, zum größeren Theile in einer hervorragenderen Geistesbildung und einer idealeren Richtung der Seele ihren Ursprung nimmt; dennoch glauben wir, daß die durch anhaltendes Elend in allen Schichten der Beamtenwelt hervorgerufene tiefe Mißstimmung ein nicht minder treibendes Motiv hierzu gebildet hat.

Fassen wir einmal die Lage der Beamten näher in das Auge und richten wir unseren Blick zunächst auf die Büreaubeamten der Justiz – die Secretaire und Actuarien.

Nachdem er eine Reihe von Jahren unentgeltlich und dann gegen eine geringe Remuneration gearbeitet hat, erhält der Referendarius, Auscultator oder Actuarius dann, wenn er sich dem Schwabenalter nähert, eine Secretair-Stelle; die Secretaire beziehen einen Gehalt von 450–650 Thlr., avanciren aber langsam, und nur wenige erreichen daher die höchste Gehaltsstufe.

Angekommen an dem längst und heiß ersehnten Ziele führt nunmehr der neucreirte Secretair die Verlobte seines Herzens heim – und wir glauben, daß gerade hier derartige Verbindungen noch am häufigsten vorkommen – aber von diesem Augenblicke ab datirt auch sein trauriges Geschick, welches sich als ein dunkler Faden durch seine ganze künftige Lebensbahn hindurchzieht, wenn er nicht kinderlos bleibt oder eigenes Vermögen besitzt.

Will er seinen Kindern eine entsprechende Ausbildung gewähren, so muß er sich persönlich die schwersten Opfer auferlegen; kommen aber Krankheiten in seiner Familie vor, oder brechen gar noch andere Unglücksfälle über sein Haus herein, dann ist er auf immer derangirt und vermag sich finanziell nimmer wieder zu erheben. Die drückende Noth, in welcher sich eine solche Familie befindet, übersteigt in der That alle Grenzen. Während sie nach außen hin bemüht sein muß, ihre bejammernswerthe Lage zu verbergen, während in der äußeren Erscheinung Alles aufgeboten wird, um dieses Geheimniß auf das Strengste zu wahren, während die Familie selbst den gesellschaftlichen Cirkeln nicht ganz fern zu bleiben vermag, während auf diese Weise Alles geschieht, um den Schein des Wohlbefindens nach außen hin zu retten – wie elend, wie traurig ist es um das Innere des Hauses bestellt!

Dienende Personen können nicht gehalten werden, und selbst die gebildete Frau muß mit ihren zarten Händen sich den gröbsten Handverrichtungen unterziehen, sie muß des Nachts bei den kranken Kindern wachen, die Kleidungsstücke der Kinder anfertigen und ausbessern, die Stuben reinigen, die Küche besorgen, und es gehört in der That der ganze sittliche Muth einer deutschen Hausfrau dazu, um unter diesem traurigen Loose nicht zu erliegen.

Um Unterstützung zu bitten, gilt unter den Standesgenossen für unehrenhaft, und um dem bittersten Nothstande vorzubeugen, benutzt so mancher Beamte die Nachtzeit, um durch literarische oder sonstige Nebenbeschäftigung einen kleinen Nebenverdienst sich zu sichern. Doch der Blick auf die ungewisse Zukunft seiner Kinder, die Frage über die Lage seiner Familie nach seinem Tode beunruhigen seine Seele unaufhörlich; denn die Pension, welche er aus seinen Gehaltsabzügen seiner Frau zu sichern vermag, reicht noch nicht aus, den nothdürftigsten Unterhalt der Wittwe zu bestreiten, die noch in jugendlichem Alter stehenden Kinder werden nach seinem Tode bei gutwilligen Verwandten oder Gott weiß wo untergebracht, die älteren Söhne aus ihren mit Erfolg eingeschlagenen Lebensbahnen herausgedrängt, die älteren Töchter aus der mütterlichen Pflege in eine öde, liebeleere Welt hinausgestoßen, um sich umringt von Gefahren unter fremden Leuten ihr Brod zu verdienen.

Ja der Fluch dieses elenden Daseins reicht oft noch über das Grab hinaus, wenn der unglückliche Mann bei seinem Tode Schulden hinterlassen hat, welche seine arme Wittwe nicht zu bezahlen vermag. Unter Spott und Hohn schließt sich das geöffnete Grab über der Hülle des armen Mannes. Gesenkten Hauptes verlassen dasselbe die Hinterbliebenen und fliehen vergebens vor dem frechen Blicke des Spötters, der selbst den heiligen Schmerz nicht scheut!

So steht es mit dem Secretair, nicht minder beklagenswerth ist die Lage der Actuarien. Indem diese mit einer guten Gymnasialbildung ausgerüsteten jungen Männer eine lange Reihe von Jahren hindurch für 16–20 Thaler monatlichen Gehalt arbeiten, rangiren sie kaum mit dem gewöhnlichsten Tagearbeiter, der in mannigfacher Beziehung weit glücklicher zu preisen ist. Während die Vorbildung des Actuar seine letzten Mittel absorbiert hat, während er stets in anständiger Kleidung erscheinen muß, während er acht Stunden des Tages die dumpfe Luft des Bureaus athmet, hat der Arbeiter auf seine Vorbildung wenig oder gar keine Kosten verwendet, fragt kein Mensch nach der Beschaffenheit seiner Kleidung, und in der freien frischen Luft, welche er täglich in vollen Zügen einathmet, schöpft er immer und immer wieder neuen Lebensmuth.

Kommt nun aber – was leider nur zu häufig der Fall – ein Actuar auf die unselige Idee, ein armes Mädchen zu heirathen, dann entrollt sich vor unseren Blicken ein Bild des Elendes, wie es kaum größer gedacht werden kann. Man muß sie gesehen haben, die Frau dieses Beamten, wie

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