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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Gewässer zwischen Nord und Süd Deutschlands für Krieg und Verkehr wichtig gestellten Punkt“ angelegt und hieß deshalb auch, wie die Veste Koburg die fränkische Krone und die Heldburg die fränkische Leuchte, sonst das fränkische Thor (Porta Franconiae). Einen andern Namen erwarb der Stadt die Grundgestalt ihres alten Kerns, der Altstadt (Wasserstadt oder alte Ringmauerstadt); denn auch eine Neustadt entstand im Norden der alten, wo die Berge mehr zurücktreten und Raum boten für die heutzutage überall üblichen modernen Anlagen breiter und freundlicher Straßen voll geschmackvoller und ansehnlicher Gebäude.

Der Altstadt Meiningens standen für ihren Weltverkehr nur zwei Thore offen: das obere Thor, das nach Franken, und das untere, das nach Thüringen und Hessen führte, und beide waren und sind verbunden durch die untere und obere Marktstraße, die beide in das Herz der Stadt, den Markt, münden. Das wiederholt sich in mehreren Werrastädten. Parallel mit dieser Hauptstraße und dem Lauf der Werra durchziehen die Altstadt in ihrer ganzen Länge von Süd nach Nord links die lange Gasse und rechts die untere und obere Freitagsgasse und, vom Markt an, die Schuhgasse, und alle sind wiederum durch meist enge Quergäßchen verbunden. Da nun, noch von Zeiten der alten Befestigung her, gegen Westen die Werra und der Mühlgraben die Stadtgrenze bilden, auf den übrigen Seiten aber zwei parallellaufende Canäle sammt einem mit Kastanien, Obstbäumen und Gärten besetzten hohen Damme bogenförmig die Stadt begrenzen, so stellt dieses Gesammtbild der Altstadt eine Harfe vor, deren Saiten die vier langen Straßen sind, und davon heißt Meiningen die Harfenstadt. Arme Harfe! Von deinen Saiten ist keine mehr ganz, die Brandsturmnacht des fünften September hat sie alle zerrissen.

Wer den Bewohnern eines Ortes in’s Herz blicken will, muß prüfen, wie von ihnen die sie umgebende Natur behandelt wird. Wenn sie jedes Fleckchen Erde zu einem Gärtchen benutzen und jeden Garten auch mit Blumen und Schmucksträuchern zwischen den Obstbäumen und Kohlbeeten ausstatten, dann findet man bei ihnen sicherlich Herzensgüte und Bildung, die auch in Städten ohne Reichthum gar wohl zu Hause sein können. Meiningen ist ein solcher Ort. In seinem Thale und an den Terrassen seiner beiden Bergreihen hinan grenzt Garten an Garten; ich glaube meinem landeskundigen Freunde Brückner auf’s Wort, daß man deren weit über vierhundert zählt, von denen viele ihre Stätte durch Gartenhäuschen und selbst durch reizende Villen kennzeichnen. Und wie dankbar ist die Natur! Sie lockte Schaaren beschwingter Sänger herbei, die Ohr und Herz der Menschen erfreuen; vor Allem aber gesellte in entzückender Menge zur Harfe sich die Nachtigall.

Es ist wohl kein zu kühner Sprung, wenn wir bei solchen Sängern auch an menschliche denken und überhaupt solche Menschen, von denen der Dichter sagt, daß die Stätte, die sie betraten, für alle Zeiten geweiht sei. Wie alle unsere kleinen sächsisch-ernestinischen Residenzen in Thüringen und Franken, erfreut auch Meiningen sich des Vorzugs, mehr als eine solche Stätte zu hüten. Wir dürfen einen Riesenschritt in die Vergangenheit wagen, um beim Ersten zu beginnen. Eine Stunde von Meiningen, werraaufwärts, steht noch das einst glänzende Hennebergische Grafenschloß Maßfeld, in welchem schon 1207 die Dichtkunst Pflege fand, denn damals ward Wolfram von Eschenbach hier zum Ritter geschlagen, und Bitterolf war der Grafen Vasall. Auch später schlossen die Künste und Wissenschaften sich ihrem eifrigsten Pfleger, dem Fürstenhofe, an, der seit 1680, wo einer der sieben Söhne Ernst’s des Frommen das Herzogthum Meiningen stiftete, hier seinen Sitz behielt. Eine Glanzzeit führte, meist ohne andere Lockmittel als die seiner ausgezeichneten Persönlichkeit, Herzog Georg herbei. Zu dem heimischen Dichter Ernst Wagner gesellte sich damals Alles, was zur „Bettenburger Tafelrunde“ gehörte, vor Allen Jean Paul. Der viel zu früh gestorbene Liebling seiner Vaterstadt, der Patriot und Philolog August Henneberger[WS 1], erzählt in einem besondern Schriftchen, das ihm zu Liebe nicht vergessen werden sollte, gar anmuthig das cordiale Verhältniß zwischen dem Fürsten und dem Dichter, wie oft der Herzog ihn vor seiner Wohnung im zweiten Stock des Amthor’schen Hauses in der untern Marktstraße zum Spaziergang abgerufen oder sich zu ihm und seiner liebenswürdigen Frau zu Gast geladen. Wer blickt nicht gern zu einem solchen Fenster empor, aus welchem so oft Jean Paul’s: „Gleich, Durchlaucht!“ erklungen? Jetzt schmückt die eherne Büste des Dichters den schönen Raum, wo einst der Dichter mit dem Fürsten ging. –

Noch bis 1847 besaß Meiningen das rührendste, ein lebendes Denkmal für Schiller. Wer bis damals am untern Stock des Eckhauses der Schloß- und untern Marktstraße vorbeiging, konnte stets an demselben Fenster eine Matrone sitzen sehen, deren Anblick einen sinnigen Beobachter nicht gleichgültig lassen konnte. Es war Schiller’s Schwester Christophine, die Gattin des Sprachforschers und Bibliothekars Hofrath Reinwald, die am 31. August 1847, neunzig Jahre alt, hier starb. Ihr ganzes Leben, ihre ganze Umgebung war Brudercultus, nicht blos daheim im Stübchen, sondern auch draußen im Berggarten am Marienweg, auf der nördlichen Seite von der Stadt. Dort hat das treue Schwabenherz viele Obstbäume gepflanzt, die aus des Vaters Baumschule auf der Solitüde bezogen waren; die wärmste Pflege aber fand des Bruders Lieblingsbirn, „das Stuttgarter Geißhirtle“. Ganz in der Nähe, am Saume eines Kiefernwaldes, steht ein Berghäuschen, in welchem Schiller mehrere Scenen seines Don Carlos gedichtet, und in dem Häuschen zeigt man noch ein Wandschränkchen mit einer Thür, auf deren Rückseite Schiller selbst eine Scene aus Don Carlos mit Bleistift skizzirt hat. – Lassen wir uns endlich auch einen Gang nach Bauerbach nicht verdrießen, denn dort sehen wir noch wohlerhalten die Stube, in welcher der seinem Herzog Karl aus Stuttgart glücklich entflohene Dichter auf dem Gute der Frau von Wolzogen als „Doctor Ritter“ Sicherheit und Ruhe fand. Seit dem 10. November 1859 schmückt das Haus die Inschrift: „Hier lebte und dichtete Friedrich Schiller vom December 1782 bis 20. Juli 1783.“

Stätten, wo Werke unserer Literatur, wie der „Titan“ und die „Flegeljahre“, „Fiesco“, „Cabale und Liebe“ und „Don Carlos“, theils vollendet, theils vollständig geschaffen, theils begonnen worden sind, verdienen wohl, von allen Deutschen als nationale Wallfahrtsorte geehrt zu werden. – Wir müssen viele Namen verschweigen, die auch auf anderen Feldern, in der Musik, in Malerei und Bildhauerei, in der Tonkunst und in den Wissenschaften, einen guten Klang haben; nur an den Naturforscher Bechstein erinnern wir noch, an die Maler Reinhart und Schröter, an Tonkünstler, wie die beiden Bach, Zöllner und Kummer, an den alpenkundigen Schaubach und an Ludwig Bechstein, der um die deutsche Sagen- und Märchenkunde sich vor Vielen verdient gemacht hat. Jetzt wohnt Friedrich Bodenstedt dort, und häufiger als je hat Meiningen in letzter Zeit für seine „classische Bühne“ die Anerkennung der Presse gefunden.

Aus der Pflege solcher einzelner, hervorragender Größen läßt sich mit Recht schließen, daß auch den Bildungsanstalten aller Art die rechte Sorge zugewandt wurde; und so ist es. Die Gelehrtenschulen stehen in Flor, Alterthums-, naturforschende und andere Vereine regen zu erhöhter Thätigkeit an, und die reichen Sammlungen im Residenzschlosse (Bibliothek, Naturaliensammlung etc.) stehen dem allgemeinen Gebrauche offen. Hinsichtlich der Bürger- und Volksschulen leistet Meiningen selbst für Thüringen Musterhaftes. – Dies Alles konnte auf das bürgerliche Gewerbsleben nicht ohne Einfluß bleiben, und so ist namentlich seit der Vollendung der Werrabahn auch in diese Schichten des arbeitenden Volkes ein neuer, frischer Geist gefahren, der mit den alten Schranken der Vorurtheile gebrochen hat. Nur ein Erbe aus alter Zeit ist der Stadt geblieben und hat viel zu der verheerenden Wirkung des großen Brandes beigetragen. Wie alle Städte in dem fruchtbaren Werrathale, trieb nämlich Meiningen von alten Zeiten her neben den kleinbürgerlichen Gewerben vorzugsweise Ackerbau und Viehzucht und behielt aus alter Gewohnheit die landwirthschaftlichen Gebäude vollständig auch innerhalb der Altstadt bei. Spricht auch das langandauernde Glück, das die Stadt vor jeder größern Feuersgefahr behütet hatte, und der Umstand, daß die Altstadt vom Wasser nicht blos von allen Seiten um-, sondern in allen Längsgassen durchflossen ist, entschuldigend für die alte Gewohnheit, so hat doch die Versäumniß, ohne den Zwang der Noth das gefahrdrohende Uebel zu beseitigen, sich um so fürchterlicher gerächt.

Um unseren Lesern einen Begriff von der Raschheit des Brandes und dem Umfange seiner Verheerung zu geben, müssen sie uns auf einem Gange durch die Stadt vor dem Ausbruche desselben begleiten. Wir gehen vom obern Thor durch die obere

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: August Henneberg
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_628.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)